illussionenSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. Dezember 2022, Teil 1

Redaktion 


Paris (Weltexpresso) - Wie ist der Wunsch entstanden, Honoré de Balzacs Roman Verlorene Illusionen zu verfilmen?

Ich habe den Roman in meinen Zwanzigern entdeckt, ungefähr im Alter von Rubempré. Ich studierte Literaturwissenschaften und hatte das Glück, in Philippe Berthier einen Professor zu haben, der seither ein Experte für Balzacs menschliche Komödie war. Ich war an die Sorbonne gegangen, um im Film-Viertel zu sein. Ich wusste noch nicht wie, aber ich wollte mein Leben dem Kino widmen. Alles lief aufs Kino hinaus, egal, was ich tat…

Ich begann, Notizen, visuelle Referenzen, Studien von marxistischen Kritiker*innen oder reaktionären Ästhet*innen zu sammeln, da Kritiker*innen jedes Lagers Balzac für sich vereinnahmen wollten. Und soweit ich zurückdenken kann, habe ich immer mit dem Gedanken gelebt, eines Tages Verlorene Illusionen zu verfilmen. Aber es kam für mich nicht in Frage, bloß die Bilder des Romans zu kolorieren oder die Erzählung in einer Art akademischem Plagiat zu verkennen. Die Kunst ernährt sich von dem, was sie verbrennt. Das Kino ist von Natur aus die Verklärung einer Realität oder eines Buches. Was soll es sonst sein?  


Welche Entscheidung haben Sie für diese Verfilmung getroffen?

Nachdem ich mich jahrelang mit dem Buch und der Geschichte beschäftigt hatte, musste ich davon loskommen und mich auf das konzentrieren, was der Text in mir auslöst; auf meine Gefühle. Ähnlich, wie es die Musik tut. Und als ich tatsächlich viel Musik hörte, merkte ich, wie der Roman allmählich zum Film wurde. Es war die Musik, die mich das wiederfinden ließ, was man neben den Worten in der Filmarbeit sucht, besonders wenn es um eine Literaturverfilmung geht.

Einige Stücke kamen aufgrund meiner eigenen Vorlieben auf. Ich fand darin eine originelle Art, mich der Arbeit an der Adaption zu nähern, wie zum Beispiel das Stück L’inquiétudine von Vivaldi, das zu Beginn des Films läuft. Es ist Barockmusik aus dem 18. Jahrhundert, die von Karajan in einem „romantischen“ Stil neu orchestriert wurde. Verschiedene Epochen kommen so in eine Harmonie, wie unsere mit der von Balzac. Max Richter ging da noch einen Schritt weiter: Er „schrieb“ Vivaldis Vier Jahreszeiten frei „um“, als wolle er den Geist und die Modernität des Werks zum Ausdruck bringen, ohne es jedoch zu verraten.

Vor allem hörte ich auch Bachs Konzert für 4 Klaviere und Orchester, seine unglaubliche „Chor“-Architektur, in der die Themen von einem Klavier zum anderen verschmelzen zu scheinen. Ich dachte an all die Charaktere, die es im Roman gab, und an die Harmonie, die man zwischen diesen für die Verfilmung finden muss, um all
diese Lebenslinien, all diese Stimmen, all diese Töne, die Tragik und die Komik verbinden zu können. So kam es, dass sich der Begriff „Bewegung“ durchsetzte, das sehr körperliche Gefühl der Bewegung, sei es musikalisch oder einfach die Bewegung der Körper in den Salons, in den verschiedenen Vierteln von Paris, aber auch die große Bewegung einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befand. Ich musste diese Geschwindigkeit und Bewegung spürbar werden lassen und sie ins Zentrum der Inszenierung stellen. Letztendlich habe ich mich auf den zweiten Teil des Romans konzentriert: Ein großer Mann vom Land in Paris: Die Odyssee eines jungen Mannes aus der Provinz, der in der monströsen Stadt die „Schattenseite des Prunks“ und ein Bewusstsein entdeckt.

Jacques Fieschis Mitarbeit am Drehbuch war sehr wichtig und half mir dabei, den Film zu erfassen. Er verschaffte mir einen sensiblen Zugang zu den Figuren und half mir, ihre Beziehungen zu vermenschlichen, wenn ich das Gefühl hatte, dass Balzac sich zu sehr über sie lustig machte oder sie strafte.


Was ist das für eine Welt, die Balzac vor seinen Augen entstehen sieht?

Als Balzac seinen Roman Verlorene Illusionen schrieb, war Marx in den Straßen von Paris unterwegs und Thackeray arbeitete an Barry Lyndon, der etwas später als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde. Man kann Dutzende weitere Beispiele für Autoren und Autorinnen finden, die erkannten, dass die Welt in die „eisigen Gewässer
des egoistischen Kalküls“ - um eine bei Marxist*innen beliebte Phrase aufzugreifen - eingetreten war. So schrieb der Kritiker Georg Lukacs seitenweise über diesen bedeutenden Roman der „Kapitalisierung des Geistes“ und der „Kommerzialisierung der Welt“.

Balzac erkennt diesen Moment, in dem das Sein zum Haben und das Haben zum Schein degeneriert, weil er auch von Frankreichs Wandel hin zum Kapitalismus erzählt... Von den Schäden im menschlichen, politischen, geistigen und künstlerischen Zusammenhang, die durch diese erdbebengleiche Erschütterung
verursacht wurden.


Wenn Profit also zum wichtigsten Wert wird, kann man dann noch sagen, was in dieser Welt von Verlorene Illusionen wirklich einen „Wert“ und einen „Sinn“ hat?

Da denke ich an die Bücher, die der Verleger Dauriat nicht einmal lesen wird, oder an den Roman des jungen Nathan, von dem Rubempré schließlich sagt, dass er nach seiner bezahlten „Kritikstunde“ nicht einmal mehr weiß, ob er ihn „gut oder schlecht“ findet, oder an die Theaterstücke, die von einem bezahlten Publikum zerrissen oder bejubelt werden.

Hier stellt sich eine essenzielle Frage. Nämlich die nach einer möglichen Bedeutung in der modernen Welt. Was ist noch von Bedeutung in einer Welt, in der alles vom Marktwert abhängt? Der junge Dichter Rubempré wird ja gejagt und die junge Schauspielerin von der Meute wie in einem heidnischen Ritual geopfert. Hat die Kunst in einer solchen Welt noch Platz? Außerdem fand ich es besonders interessant, dass diese Fragen im Kino aufgegriffen wurden, dieser Illusionsmaschine par excellence, dem Spektakel des Lebens... und des Todes



Der Roman ist sehr harsch gegenüber dem Journalismus jener Zeit...

Die kommerzielle Presse ist in der menschlichen Komödie nur ein Zeichen dieser bedeutenden gesellschaftlichen Bewegung hin zum Gott des Profits. Es ist eine ganze Zivilisation, die weggespült wird, und nicht nur ein einfacher Konzern. Balzac geht hart mit diesen kleinen Zeitungen ins Gericht, die wie gesetzlose „Gangs“ erschienen, die bereit waren, ihre Meinung zu Geld zu machen. Ich wollte diese vermeintlichen Journalisen und Journalistinnen als Gangster abbilden, die Karrieren beenden, ihr Revier in den Theatern verteidigen und mit Tintenfässern bewaffnet Krieg führen. Bosheit, Grausamkeit und böse Absichten sind für mich ebenso kinoreif wie Gewalt.
Als die Presse dann „kommerzialisiert“ wurde, war es vorhersehbar, dass einige von ihnen andere Ziele verfolgten als die reine Aufklärung ihrer Leserschaft. Etwas später erklärte Randolph Hearst: „Eine Falschmeldung und ein Dementi, das sind schon zwei Ereignisse!“

In einer Zeit, in der sich die Printpresse in einer „Krise“ befindet, war es mir ein besonderes Vergnügen, Tinte, Papier, Bleistifte, Bücher, gespitzte Federn, Zeitungsblätter etc. zu filmen. All diese „Marker“ der Schriftlichkeit, die heute durch die „Zahl“, die Berechnung und die Digitalisierung bedroht sind. Und es ist doch das Kino, diese unreine Kunst, die so sehr vom Geld abhängig ist, die heute den Tumult, den Balzac vor seinen Augen lebendig werden sah, wiedergeben sollte.


Wie haben Sie das Paris der Zeit der Restauration rekonstruiert?

Ich habe praktisch dafür gekämpft, in Frankreich, in Paris und so oft wie möglich an „echten“ Schauplätzen zu drehen. Das Projekt soll auch eine Hommage an die Pracht, den Geist, die Sprache, die Stoffe und die Gegenden Frankreichs sein. Alles ein Ausdruck dieser großartigen Nation; daran muss ich wohl ja nicht erinnern?
Mein Bühnenbildner Riton Dupire-Clément, mein Kostümbildner Pierre-Jean Larroque, mein Kameramann, der geniale Christophe Beaucarne, oder mein Tonmeister François Musy - für sie alle lag der Fokus darauf, eine möglichst genaue sinnliche Erfahrung der Epoche wiederzugeben. Ich genoss es wirklich, in die Welt des Paris des 19. Jahrhunderts einzutauchen, dieses fantastische, vergessene Theater im Château de Compiègne zu entdecken, in dem Coralie am Ende des Films gesteinigt wird. Mit seinen Perspektiven sieht es aus wie eine Zeichnung von Kubrick...

Ich habe mit sehr speziellen Objektiven gedreht, die die Perspektiven leicht verzerren und manchmal die Ränder der Leinwand dunkel erscheinen lassen. Ich suchte gleichzeitig nach einem Gefühl von „Realismus“ mit der Präzision der Rekonstruktion, aber auch nach einer Abweichung, einer poetischen und manchmal  „fantastischen!“ Vision, wie in Theaterkulissen oder der Blick durch Luciens hervorstechendes Auge, das die andere Seite der Kulissen entdeckt. Ich wollte vor allem eine Sinnlichkeit finden, eine natürliche Verbindung von Orten und Materialien, von Farben; damit all dies Form bekommt und zum Kino wird, zu Leben erweckt, zu Ton wird, und in Bewegung kommt... Ein Kinospektakel in einer Welt, in der die ganze Gesellschaft zu einem Spektakel wird, zu einem Schattenspiel der Illusionen. In der aber Körper, Leidenschaft und Liebe sowie Gewalt sehr „echt“ bleiben. Balzac ist gleichzeitig sinnlich und philosophisch, ein Psychologe und Anthropologe, Maler und Regisseur. Liest man beispielsweise die Beschreibung des Boulevard du Crime, hat man das Gefühl, dass er die Filmsprache intuitiv verstand. Das sticht ins Auge.
Es ist Literatur des Sehens. Das Kino ist organisch mit Balzacs Weltanschauung verbunden. Eisenstein sprach darüber in seinen Regielektionen zu Vater Goriot.

Fortsetzung folgt