verlorene

Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. Dezember 2022, Teil 4

Claus Wecker

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Mit dem Roman vom naiven, jungen Provinz-Dichter, der nach Paris geht, um dort ein einflussreicher Journalist zu werden, schuf Honoré de Balzac ein Meisterwerk der Weltliteratur. Für die neue Verfilmung des Klassikers wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, und so entstand ein Film auf hohem Produktionsstandard, ein mit acht Césars ausgezeichnetes Renommierstück der französischen Filmindustrie, bei dem der Geist der Vorlage glücklicherweise nicht verloren ging.

Auch auf die Gefahr hin, dass die Tonspur überladen wirken könnte, hat es Xavier Giannoli, der für Drehbuch und Inszenierung Verantwortliche, nicht bei den Dialogen belassen, sondern einen Erzähler hinzugefügt, der kommentierend durch die Geschichte führt. Es ist gewissermaßen die Stimme Balzacs, die uns die Welt des frühen neunzehnten Jahrhunderts nahebringt. Und die ist viel prunkvoller als die Gegenwart, aber was das Zeitungswesen angeht, sind Parallelen zur heutigen Medienwelt unverkennbar.

Der gutaussehende Lucien (Benjamin Voisin) bringt alle Voraussetzungen mit, sich auf dem glatten Pariser Parkett durchzusetzen. Er hat die Druckerei der Familie in der Provinz verlassen, weil er keine Chance sah, für seine Gedichte einen Verleger zu finden. Und es war ihm nicht genug, nur die Texte anderer Autoren zu drucken.

Mithilfe seiner älteren Geliebten Louise de Bargeton (Cécile de France) gelangt er in die Salons, wo ihm die Marquise d’Espard (Jeanne Balibard) argwöhnisch begegnet, vor allem weil er in seiner Naivität gegen die Etikette verstößt. Nachdem er im ersten Anlauf, in die »bessere Gesellschaft« von Paris aufgenommen zu werden, gescheitert ist, lässt ihn seine Geliebte fallen.

Um die Veröffentlichung seiner Gedichte, die im aristokratischen Salon für belanglos gehalten werden, endlich zu erreichen, spricht er den Verleger Dauriat (Gérard Depardieu in Bestform) an, einen ehemalgen Obsthändler. Gedichte kaufe doch niemand, wehrt ihn Dauriat ab, der selbst nichts liest und wahrscheinlich gar nicht lesen kann.

Also macht er Karriere bei den kleinen Zeitungen, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen. Der junge Journalist Étienne Lousteau hat sich seiner angenommen, und in dessen Schlepptau opfert Lucien seine literarischen Ideale und schreibt Buchkritiken, die je nach Anzeigenaufträgen und Schmiergeldern positiv oder negativ ausfallen. Um den Zynismus auf die Spitze zu treiben, überlässt man in der Redaktion gelegentlich einem Äffchen die Entscheidung, ob ein Buch gut oder schlecht ist. Die nötigen Argumente findet man immer.

Statt einwandfrei zu informieren, führen die Zeitungen mit Fake-News, Schmähartikeln und überzogenen Kritiken einen Wettkampf um die meisten Leser. Journalisten »haben die Aufgabe, die Aktionäre der Zeitung reich zu machen«, wird Lucien belehrt. Sein Lieblingsfeind ist der schnöselige Nathan, der von dem franko-kanadischen Regisseur Xavier Dolan erstaunlich routiniert gespielt wird.

Neben den korrupten Journalismus stellt der Film das malerische Pariser Nachtleben. Von bis zu 1.500 Prostituierten ist die Rede. »Die Stadt hatte ihren Rock hochgehoben, um dem Dichter ihre monströse Nacktheit zu zeigen.« In den Theatern bestimmen bezahlte Claqueure über Erfolg oder Flop eines Stücks. Lucien verliebt sich in die junge, aufstrebende Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), mit der er einen aufwendigen Haushalt führt.

Doch mit Spielschulden und seinem mittlerweile angewachsenen Hochmut wird Lucien im politischen Kampf zwischen Liberalen und Königstreuen zerrieben. Neben seiner Illusion, ein großer Dichter zu werden, verliert er auch die Hoffnung, vom König den adligen Namen seiner Mutter zugesprochen zu bekommen. So kehrt er in die Provinz zurück. Wie hieß es schon am Anfang? »Wenn man schon scheiterte, dann scheiterte man lieber in Paris.«


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Info:
VERLORENE ILLUSIONEN (Illusions perdue)
von Xavier Giannoli, F/B 2021, 149 Min.
mit Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Gérard Depardieu
nach dem gleichnamigen Roman von Honoré de Balzac
Tragikomödie / Start: 22.12.2022