cloSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Januar 2023, Teil 6

Redaktion

Brüssel (Weltexpresso) – Wie schwer war es, die beiden Jungen für die Hauptrollen zu finden?


LUKAS DHONT: Sie können es Schicksal nennen oder von mir aus auch Glück, aber kurz nachdem ich begonnen hatte, die erste Szene des Films zu schreiben, lernte ich Eden, der Léo spielt, in einem Zug von Antwerpen nach Ghent kennen. Er unterhielt sich mit seinen Kumpels, und ich erkannte sofort, wie unglaublich ausdrucksstark er ist. Ich
sprach ihn an und lud ihn ein, für die Rolle vorzusprechen. Er erkannte mich, weil er dieselbe Tanzschule besucht wie Victor Polster, der die Hauptrolle in GIRL gespielt hatte. Wir haben uns im Verlauf des Castings eine ganze Menge Jungs angesehen. 40 von ihnen nahmen wir in die engere Auswahl und ließen sie in Paaren vorsprechen. Es gab eine ganze Reihe toller Kombinationen, aber als wir Eden und Gustav, der als Rémi zu sehen ist, zusammen erlebten, war allen bewusst, dass sie eine besondere Verbindung hatten. Es gelang ihnen, tief in die Emotionen der Szenen einzutauchen, aber genauso schnell hatten sie ihre Rollen auch wieder abgelegt. Sie waren wie Kinder und gingen doch erwachsen an ihre Rollen heran. Es ist eine fabelhafte Paarung.


Wie haben Sie die beiden Familien geformt und warum wählten Sie als Kulisse das Land und die Blumenfelder?

LUKAS DHONT: Ich komme selbst aus einer Kleinstadt mitten auf dem Land, 20 Minuten von Ghent entfernt. Das ist die Welt, in der ich groß geworden bin. Ich rannte selbst immer durch diese Felder. Die Blumenzucht basiert auf der Farm, wie ich sie aus meinem Heimatdorf kenne. Ich fand es wichtig, dass die Blumenfelder eine Verletzlichkeit  ausstrahlen, die ein Kontrast zu der Welt des Eishockeys ist. Léos Familie arbeitet in dieser bunten Welt, die auch einen bestimmten Aspekt von Kindheit ausstrahlt, und es ist eine Landschaft, die sich mit den Jahreszeiten verändert. Wenn der Herbst kommt, werden die Blumen abgeschnitten, ein sehr gewaltsamer Akt, und die Farben verschwinden. Der Wechsel der Jahreszeiten markiert auch einen deutlichen Bruch von den Farben der Kindheit zu erdigen Braun- und Schwarztönen. Ich wollte diese Kontraste klar herausarbeiten, um die Trauerarbeit eines Kindes zu verdeutlichen. Nach dem Winter werden neue Blumen gepflanzt und die Farben kehren zurück, sie künden von Hoffnung und dem Versprechen, dass das Leben weitergehen wird. Die letzte Szene schrieben wir schon sehr früh, weil wir von Anfang an Farben als ästhetisches Mittel verwenden wollten. Was die Familien anbetrifft, so entspringen die einem einzelnen Bild, das ich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Kopf hatte: eine Mutter und ein Kind in einem Auto, dem Kind ist es unmöglich auszusprechen, was in ihm vorgeht. Die Szene selbst war eher noch unklar, aber ich wusste, dass eine gewisse Spannung von ihr ausgehen sollte. Ich erinnere mich, dass ich als Junge den Horrorfilm DAS ZWEITE GESICHT (1993) mit Macaulay Culkin als Jungen mit psychopathischen Tendenzen gesehen habe. Dieser Film inspirierte mich und gab mir die Idee für Sophie, Rémis Mutter, wie auch Léos Mutter. Der Ausgangspunkt für mich war, dass die eine die Freundschaft der beiden Jungen intensiver miterlebt, weil die beiden Jungen sich eigentlich immer in ihrem Haus treffen, während die andere diese Beziehung aus größerer Entfernung sieht. Der ältere Bruder war mir ebenfalls sehr wichtig, speziell im zweiten Teil des Films.


Die beiden Mütter wurden als eher zurückhaltende Figuren geschrieben. Émilie Dequenne und Léa Drucker spielen diese beiden willensstarken Frauen, die stoisch bleiben, während einer der Väter zu zerbrechen scheint, als die Tragödie passiert. Wie haben Sie diese Figuren entwickelt, wie stark war der Einfluss der Schauspielerinnen?


LUKAS DHONT: Entscheidend ist die Szene beim Abendessen. Wir fanden, dass es interessant sein würde, wenn einer der Väter die Kontrolle über seine Emotionen verliert. Léa Drucker hatte ich in NACH DEM URTEIL (2017) gesehen. Sie ist eine authentische Schauspielerin, die mich zutiefst bewegt. Ich lernte sie bei den Césars 2019 kennen. Sie kam
so zart, so liebenswert rüber, und dann ging sie auf die Bühne und hielt diese kraftvolle Dankesrede. Ich wusste, dass ich unbedingt mit ihr arbeiten wollte. Als wir Eden als Léo auswählten, fiel mir sofort die äußere Ähnlichkeit mit Léa auf, und eine natürliche Eleganz, die die beiden eint. Der Moment, endlich zusammenzuarbeiten, war ideal.


Émilie Dequenne gibt eine bewegende Darstellung. Sie strahlt große Menschlichkeit aus und verliert sich komplett in der Rolle, die sie spielt.

LUKAS DHONT: Im Verlauf der drei Jahre, die es dauerte, bis ich das Drehbuch geschrieben hatte, habe ich mich mit vielen Müttern getroffen, die einen Sohn verloren hatten. Eine von ihnen, mit der ich häufig spazieren ging und die sich mir anvertraute, schrieb mir einen außergewöhnlich offenen Brief, wie sie sich nach dem Tod ihres Sohns fühlte. In dem Brief beschrieb sie, dass sie sich als Gefangene fühlte, eingesperrt von ihrem Gefühl der Verantwortung und ihrem Versagen, wirklich trauern zu können. Das ist der Geschichte Léos sehr ähnlich; es gibt eine klare Parallele. Wir sind es gewohnt, dass Frauen in Filmen weinen und vor Schmerz aufschreien, aber hier richtet sich der Schmerz nach innen. Ich fühlte eine Verbindung zu der sehr persönlichen Beichte dieser Mutter. Das war der Schlüssel zu der Figur, die Émilie spielt, eine Schauspielerin, die in der Lage ist, starke Gefühle auszudrücken. Und doch bat ich sie im Verlauf des Drehs, diese Gefühle immer unter Verschluss zu halten, nichts zu zeigen. Ich bin ungemein stolz auf ihre Darstellung, weil ich den Eindruck habe, dass sie unter der Oberfläche sehr viel ausdrückt, ohne jemals auf Pathos zurückgreifen zu müssen. Sie hat mich viel gelehrt, wie man Schauspieler inszeniert, sie verstand jede noch so kleine Nuance, sie ist wunderbar! Und weil sie noch sehr jung war, als sie mit ROSETTA (1999) ihren Durchbruch hatte, weiß sie genau, wie es sich anfühlt, ein junger Teenager beim Dreh eines Films zu sein. Also war sie auch brillant beim Umgang mit unseren jungen Schauspielern. Sie war eine große Hilfe bei der Inszenierung von Eden in ihren gemeinsamen Szenen, und dafür bin ich ihr ehrlich dankbar.


Sie haben bereits angemerkt, dass es Ihnen nicht sehr leichtfiel, Ihren ersten Film loszulassen. Aber Ihre Crew scheinen Sie nicht losgelassen zu haben …


LUKAS DHONT: Wir haben denselben Mitdrehbuchautor, Kameramann, Editor, Komponist, Toningenieur… Das war mir ungeheuer wichtig, völlig klar. Ich bin sehr stolz darauf, was mir mit GIRL gelungen ist, den man auch als eine Art Dokumentation über unsere Gruppe ansehen kann, über uns alle. Beim zweiten Film habe ich mich weniger sicher gefühlt. Beim ersten Mal hatte ich keine Ahnung von der Filmindustrie, also spürte ich überhaupt keinen Druck. Jemand hat mir das einmal so beschrieben: Wenn man zum ersten Mal mit einem Fallschirm springt, springt man, weil man keine Ahnung hat, was einen erwartet. Beim zweiten Mal hat man mehr Angst, weil man weiß, was
kommt. Deshalb war es mir so wichtig, beim zweiten Film wieder von meiner „Filmfamilie“ umgeben zu sein, mit einem Team zu arbeiten, dem ich blind vertrauen kann, allesamt Menschen, mit denen ich befreundet bin und die es mir nachsehen, wenn ich Fehler mache. Das ist es, was unsere Zusammenarbeit auszeichnet.


Bezieht sich der Filmtitel – CLOSE – gleichermaßen auf Intimität und Eingesperrtsein?

LUKAS DHONT: Die Entscheidung, meinen ersten Film GIRL zu nennen, war ein Statement, von dem ich den Eindruck hatte, dass ich es machen musste. Bei CLOSE war es so, dass dieses Wort immer wieder in dem bereits erwähnten Buch „Deep Secrets“ auftauchte: „enge Freundschaft“. Das Wort ist unvermeidlich, wenn man die intime Beziehung
zwischen diesen beiden Freunden beschreibt. Dass diese Intimität so genau beäugt und bewerttet wird, ist der Katalysator für die tragischen Ereignisse des Films. Wenn wir jemanden verlieren, suchen wir nach Intimität zu dem Menschen, der nicht mehr da ist. Wir sehen uns konfrontiert mit einer Art existenziellem Kampf. Das Wort kann aber ebenso die Vorstellung beschreiben, eingeengt zu sein, eine Maske zu tragen, die Unmöglichkeit, man selbst zu sein. 

Die erste Idee, die wir für den Titel hatten, war „We Two Boys Together Clinging“. Er bezieht sich auf ein Gemälde von David Hockney, das von einem Gedicht Walt Whitmans
inspiriert ist und für die Brüderschaft zwischen zwei Männern steht. „Clinging“ - klammern - ist ein besonders expressives Wort für die Sehnsucht, eng mit einem anderen
Menschen verbunden zu sein.

Foto:
©Verleih

Info:
STAB
Regie        LUKAS DHONT
Drehbuch LUKAS DHONT & ANGELO TIJSSENS

DARSTELLER

Léo         EDEN DAMBRINE
Rémi      GUSTAV DE WAELE
Sophie.  ÉMILIE DEQUENNE
Nathalie  LÉA DRUCKER
Peter      KEVIN JANSSENS
Yves.      MARC WEISS
Charlie    IGOR VAN DESSEL
Baptiste LÉON BATAILLE

Abdruck aus dem Presseheft