Redaktion
Brüssel (Weltexpresso) – Wann hatten Sie nach der überschwänglichen Reaktion auf Ihr Filmdebüt GIRL, zunächst in Cannes im Mai 2018 und dann bei der weltweiten Kinoauswertung, die Gelegenheit, erstmals über Ihren nächsten Film nachzudenken?
LUKAS DHONT: Nach Cannes war ich mit GIRL erst einmal die nächsten 18 Monate unterwegs. Wir zeigten ihn überall – Toronto, Telluride, Tokio … Der Film wurde außerdem als Belgiens Oscarbeitrag ausgewählt, ich verbrachte danach viel Zeit in den Vereinigten Staaten. Das war eine erstmalige Erfahrung für mich, immens aufregend, aber auch überwältigend. In dieser Zeit habe ich wohl jedes emotionale Hoch erlebt, das man sich vorstellen kann, aber auch jeden erdenklichen emotionalen Tiefpunkt. Als die Zeit gekommen war, sich etwas Neuem zuzuwenden, musste ich GIRL vergessen, den Film in der Vergangenheit lassen, zusammen mit einem Teil von mir.
Als ich endlich wieder nach Hause kam und mich erstmals vor ein leeres Blatt Papier setzte, war das ein echter Schock. Ich musste mir ein Thema einfallen lassen, über das ich mit ebenso großer Leidenschaft erzählen konnte und das in gewisser Weise eine Fortsetzung sein musste von dem, was ich mit GIRL begonnen hatte. Das Kino hatte ich durch meine Mutter entdeckt, die den Film TITANIC liebte. Das bewegte mich dazu, meinen eigenen Zugang zum Kino zu finden. Es dauerte nicht lang, bis ich feststellte, dass ich unbedingt intime, ganz persönliche Filme machen will. Ich wollte Dinge ausprobieren und erforschen, die mich in meiner Kindheit und meinen frühen Jahren als Teenager bewegt und verstört haben. Bei GIRL war es meine Absicht, Identität zur Diskussion zu stellen und davon zu erzählen, wie schwer es ist, zu sich selbst zu stehen in einer Gesellschaft voller Normen, Etiketten und Schubladen. GIRL war außerdem ein sehr körperlicher Film, der ein Schlaglicht auf äußere und innere Kämpfe warf. Ich wollte mich noch eingehender mit Aspekten der Identität beschäftigen, mit den Konflikten, die dadurch entstehen, wie man von anderen, von einer Gruppe wahrgenommen wird. Das ist ein Thema, das mir persönlich sehr wichtig ist.
Woher kam die Idee, die Geschichte einer Freundschaft erzählen zu wollen?
LUKAS DHONT: Ich hatte verschiedene Ideen, auf denen ich herumkaute, aber irgendwie wollte der Funke nicht überspringen. Ich fühlte mich etwas verloren. Dann besuchte ich meine alte Grundschule in dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin. Ich fühlte mich von den Erinnerungen regelrecht überwältigt, wie es damals gewesen war, als ich in die Schule ging und es mir richtig schwerfiel, mein wahres, ungefiltertes Ich zu zeigen. Die Jungs verhielten sich auf eine gewisse Weise, die Mädchen auf eine andere, und ich hatte immer den Eindruck, in keine dieser Gruppen wirklich hineinzupassen. Ich fing an, mich in den Freundschaften unwohl zu fühlen, speziell mit anderen Jungs, weil ich eher feminin war und mir deshalb viele Hänseleien gefallen lassen musste. Eine enge Freundschaft mit einem anderen Jungen schien die Vermutungen nur zu bestätigen, die andere von
meiner sexuellen Identität hatten. Eine meiner ehemaligen Lehrerinnen, die mittlerweile die Direktorin ist, brach in Tränen aus, als sie mich sah. Das Schulwiedersehen war ausgesprochen emotional, und es wurden nicht nur glückliche Erinnerungen zu Tage gefördert. Ohne übermäßig dramatisch klingen zu wollen, komme ich selbst heute noch nur bedingt mit den schmerzhaften Jahren in der Grundschule und der Oberschule klar. Also versuchte ich meine Gedanken dazu zu Papier zu bringen und etwas über diese Welt aus meiner eigenen Perspektive erzählen.
Ich schrieb ein paar Wörter nieder: Freundschaft, Intimität, Angst, Männlichkeit … Daraus entstand CLOSE. Das Drehbuch begann dann nach Gesprächen mit Angelo Tijssens, meinem Autorenpartner bei GIRL, Form anzunehmen.
Wussten Sie von Anfang an, dass Sie eine Tragödie erzählen wollten?
LUKAS DHONT: Nein, das kam erst später. Allerdings war es meine Absicht, einen Film zu machen, der sich vor Freunden, zu denen ich den Kontakt verloren habe, verbeugt. Oft ist es meine eigene Schuld, weil ich zu viel Abstand gewahrt habe und das Gefühl hatte, ich hätte sie betrogen. Es war eine verwirrende Zeit, und ich fand damals, dass es der beste Weg war, mich zu distanzieren. Außerdem wollte ich etwas erzählen über den Verlust eines Menschen, der einem nahe steht, und darüber, wie wichtig die Zeit ist, die wir mit denen verbringen, die wir lieben. Im Kern der Geschichte steckt das Ende einer engen Beziehung, es geht um die Verantwortung und Schuldgefühle, die daraus entstehen. In gewisser Weise könnte man vom Beginn der Reise zum Erwachsenwerden sprechen. Es ging mir um die schwere Bürde, die wir zu tragen haben, wenn wir uns für etwas verantwortlich fühlen, aber nicht in der Lage sind, darüber zu reden. Léo, die Hauptfigur, muss dieses Gefühl verarbeiten, das aus dem Verlust einer sehr engen Freundschaft entsteht, die seine Identität definiert. Ich wollte auf der Leinwand zeigen, was genau es ist, das sein Herz hat brechen lassen.
Wie haben Sie die beiden Hauptfiguren von CLOSE entwickelt, Léo und Rémi?
LUKAS DHONT: Ich denke, dass ich in gewisser Weise sowohl Léo als auch Rémi bin. Teile von mir stecken in beiden Figuren. Zunächst legten wir das Alter der Darsteller fest, ein sehr präziser Moment zwischen Kindheit und Jugend: der Beginn der höheren Schule, die ersten Fragen über Sexualität, körperliche Veränderungen, die eigene Haltung
zur Welt – wie sich all diese Dinge entwickeln.
Das Buch „Deep Secrets“ von Niobe Way, in dem sie 100 Jungen zwischen 13 und 18 befragt hat, war eine wichtige Inspirationsquelle für mich. Wenn sie 13 Jahre alt sind, reden Jungen über ihre Freunde, als wären sie die Menschen, die sie am allermeisten in der Welt lieben, denen sie ihr Herz ausschütten und gegenüber ganz offen sein können. Die Autorin beschreibt, wie sie jeden der Jungen jedes Jahr wieder traf und beobachtete, dass sie im Lauf der Jahre immer mehr damit zu kämpfen hatten, mit ihren männlichen Freunden über intime Dinge zu reden. Das Buch half mir zu verstehen, dass ich nicht der einzige schwule Junge war, der in seiner Jugend Schwierigkeiten mit diesem intimen Aspekt von Freundschaft hatte.
Was die Hauptfigur Léo betrifft, so wollte ich ihn als einen Jungen zeigen, der Angst hat, dass andere seine Freundschaft mit Rémi als etwas Sexuelles betrachten könnten. Sein Freund sieht sich mit denselben Kommentaren konfrontiert, aber es ist ihm egal, und er denkt überhaupt nicht daran, sein Verhalten zu ändern. Léo ist ihm ungeheuer wichtig; er liebt ihn zutiefst und kann nicht verstehen, warum sich seine Haltung verändert. Ich sehe mich da in beiden Figuren, wobei ich die Dinge grundsätzlich wohl mehr so empfinde wie Léo. Rémi steht dagegen für all die Menschen, die versuchen, sich selbst treu zu bleiben.
In der Mise-en-scène und der Ästhetik erkennt man eine Verwandtschaft zwischen GIRL und CLOSE; Ihre Filme wirken stets, als seien sie choreographiert worden. Sind Körper und Bewegung von besonderer Bedeutung für Ihre Arbeit?
LUKAS DHONT: Ich denke schon. Das wurde mir während meines Filmstudiums bewusst. Während alle anderen Studenten sich um Jobs bei Filmproduktionen bemühten, machte ich Praktika bei Choreographen. Wenn ich ehrlich bin, dann wollte ich eigentlich gar nicht Filmemacher werden. Meine Ambition war es, Tänzer zu sein. Aber ich gab
diesen Traum auf, als ich 13 Jahre alt war, weil ich mich geschämt habe. Wenn ich tanzte, fühlte ich mich beurteilt, und ich hatte nicht die Kraft, einfach zu ignorieren, was die anderen dachten. Diese ganze Erfahrung hinterließ eine klaffende Wunde bei mir; dennoch fühle ich mich unweigerlich hingezogen zu Tänzer:innen und Choreograph:innen.
Das Schreiben war dann ein anderer Weg, meine Sehnsucht zu stillen. Ich stellte aber auch fest, dass es mir schwerer fällt, mich mit Worten auszudrücken als durch Bewegung und Tanz. Das mag der Grund sein, warum ich die Bewegungen meiner Figuren als die meinen ansehe. Dies ist erst mein zweiter Film, also mache ich mir Gedanken über meine Vorgehensweise, und ich glaube, dass Bewegung in meinen Filmen eine Form der Kommunikation ist. Wenn ich schreibe, lassen sich die Worte oftmals in körperliche Absichten übersetzen. In CLOSE wollte ich, dass sich die Jungs beim Schlafen im Bett so nah wie nur möglich sind. Solche Bilder sieht man nicht sehr oft. Diese Nähe zwischen zwei Jungen wirkt fast fremd auf uns. Es gibt auch einen Kampf, eine handfeste Auseinandersetzung, ein Gerangel, wie es in queerer Deutung praktisch ikonisch ist. Ein wichtiges Thema des Films ist Rechenschaft, Verantwortung, das kann sich ebenfalls körperlich äußern, wie eine innere Last. Ich fand Eishockey einen passenden Sport, weil er Maskulinität und Brutalität verkörpert wie kaum ein anderer. In der zweiten Hälfte des Films gibt der Sport Léo einen Grund, einen Helm zu tragen, mit einer Maske aus
Draht, die das Gesicht bedeckt. Dieses Kostüm war interessant, weil es einrahmt, maskiert und die Bewegungen eines Menschen einschränkt. Für mich ist Bewegung von Anfang an dabei, bereits wenn ich zu schreiben beginne. In meinen Filmen liebe ich es, mich durch visuelle Bewegungen und auch durch den Ton auszudrücken.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
©Verleih
Info:
STAB
Regie LUKAS DHONT
Drehbuch LUKAS DHONT & ANGELO TIJSSENS
DARSTELLER
Léo EDEN DAMBRINE
Rémi GUSTAV DE WAELE
Sophie. ÉMILIE DEQUENNE
Nathalie LÉA DRUCKER
Peter KEVIN JANSSENS
Yves. MARC WEISS
Charlie IGOR VAN DESSEL
Baptiste LÉON BATAILLE
Abdruck aus dem Presseheft