Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Januar 2023, Teil 7
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main Weltexpresso) – In Erinnerung bleiben mir die unendlich scheinenden blühenden Blumenfelder, die stärker wogenden Getreidefelder und die beiden Kinder, Jungen, die im gleichen Takt durch die Wiesen, Felder und Gewässer streifen, mal mit lautem Lachen laufend, mal einfach vergnügt und wie besoffen von Dreiem: Zusammen-, in der Natur und auf der Welt zu sein.
Es geht übel aus. Im Detail sehen wir erst einmal und lange dann das Großwerden der beiden Freunde, wie erahnen es, denn jetzt sind Léo und Rémi ja schon fast keine Kinder mehr, sie sind auf der Schwelle dessen, was wir Pubertät nennen, der große Bruch im Leben eines jeden, vermute ich, auf jeden Fall kann ich mich an diese Zeit äußerst gut erinnern, wo alle kindlichen Gewißheiten auf einmal einen wackligen Boden haben, wo Sicherheit und Vertrauen ins Rutschen kommen, eben auch die Sicherheit, wer man ist, die dann am größten ist, wenn man sich das gar nicht fragt. Aber dieses Alter ist eben das Alter des Fragenstellens, die meisten, die entscheidenden Fragen an sich selbst.
Wie es Regisseur Lukas Dhont gelingt, uns in das jugendliche Drama hineinzuziehen, zeigt eine filmische Meisterschaft, dabei ist es erst nach dem hochgelobten GIRL der zweite Film des Belgiers, der sofort für den Auslandsoscar nominiert wurde und in diesen Tagen auf die sogenannte Shortlist dieser Kategorie kam, die offiziell heißt: . "Best International Feature Film". Daß der Film dabei als queerer Film bezeichnet wird, halte ich für völlig falsch, denn in diesem Alter entwickelt sich Sexualität, konstituiert sich als etwas, was mit einem selber zu tun hat. Das macht ja gerade dieses Alter aus, daß einem zunehmend bewußt wird, was man tut, wer man vielleicht ist und mit wem man zusammensein möchte.
In aller kindlichen Unschuld wußten das bis jetzt die beiden Freunde genau und waren unzertrennlich. Das Besondere in diesem Film ist ihre Aufgehobenheit in den Familien. Denn es handelt sich einmal nicht um prekäre oder psychisch zerfranste Familien, sondern um, wie bei Leo, um eine Familie im alten Stil auf dem Lande, wo die Einheit von Leben und Arbeit noch vorhanden ist, denn es gibt einen großen landwirtschaftlichen Gärtnereibetrieb, wo alle Hand anlegen müssen, wenn die blühenden Blumen geschnitten oder gepflückt werde müssen. Die Familien sind sich gegenseitig zugetan und die jeweiligen Mütter sind Ersatzmütter des anderen Jungen. Das ist die vielleicht stärkste Ausgangslage des Films, die uns zwingt, nicht äußere Verhältnisse als ausschlaggebend anzusehen, sondern die innere Reaktion der Vorpubertierenden. Und das stimmt schon nicht. Denn ohne äußere Welt wären die beiden wohl für ihr Leben weiter zu zweit durch die Welt geschwebt, hätten – hinreißend – die feindlichen Armeen erfunden, deren Soldaten man in jedem Heuhaufen ausmachen kann, hätten sich lieb gehabt und alles zusammengemacht, auch das Schlafen beim jeweils anderen, wer erinnert sich nicht noch an die Höhepunkte kindlichen Lebens, wenn man bei der Freundin übernachten durfte und bis in die Nacht sich gegenseitig die Wichtigkeiten des Lebens erzählte.
Und dann kommt wia im richtigen Leben. Es kommt das Gymnasium, wo beide auf Schüler treffen, die die beiden, ihre Freundschaft nicht kennen und der Satz eines Mädchens: „Seid Ihr zusammen?“ eine Welt einbrechen läßt. Unschuldig ist jetzt gar nichts mehr, aber entscheidend ist, wie die beiden darauf reagieren. Während Rémi das alles ziemlich kalt läßt und er seinen Gefühlen und Ansichten treu bleibt, ist für Léo schlagartig die Welt verändert.an dieser Stelle wird die Besetzung der beiden Rollen interessant. Léo ist der zartgesichtige blonde Junge, dessen Haut oft durchscheinend wirkt, der einem sensibel und zerbrechlich vorkommt, ständig unter Spannung. Rémi dagegen ist als hübscher dunkler Junge in sich ruhend. Er bleibt unbeeindruckt von dem dummen Mädchenspruch, aber reagiert beeindruckt auf die Veränderungen, die in Léo stattfinden.
Der nimmt sich die Frage zu Herzen, denn er ist ja ein richtiger Junge, will dies auch nach außen demonstrieren, schließt sich einem Eishockeyteam an. Hier überzieht der Film für mich. Das ist wie mit dem Holzhammer, daß sich Léo nun hinter einer Schutzmaske und aufgeblasener Kleidung und Schläger und Ball den harten Kerl mimen will. Auf jeden Fall kommt Rémy nicht mehr mit, was seinen guten Freund antreibt, der sich nicht mehr nur mit Taten, sondern auch mit verletzenden Worten von ihm trennt. Seine Welt zerbricht. In einer solchen will er nicht mehr leben. Wenn man wie ich, den Selbstmord einer Freundin – wenngleich aus anderen, aus eher philosophisch fragenden Gründen – erlebt hat, schleudert einen das selbstredend in die Fassungslosigkeit und den Schmerz zurück, den man hier an Léo und den beiden Familien erlebt. Achtsam sein und achtsam miteinander umgehen, ist kein Lehrziel in der Schule, auch keines im Leben.
, ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2022, ist ein feinfühliges Drama über Nähe, Distanz und Entfremdung. Mit zärtlicher Präzision und einem unendlichen Verständnis für die Fragilität des Lebens an der Schwelle zum Erwachsenwerden erzählt Lukas Dhont die aufwühlende Geschichte einer intensiven Freundschaft. CLOSE ist nach GIRL der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont. Er bringt die talentierten jungen Darsteller Eden Dambrine und Gustav de Waele zusammen mit den renommierten Schauspielerinnen Émilie Dequenne (ROSETTA, LOVE AFFAIR(S)) und Léa Drucker (NACH DEM URTEIL, DAS BLAUE ZIMMER) auf die Leinwand. Eden Dambrine und Gustav De Waele als Léo und Rémi geben in CLOSE ihr Leinwanddebüt. Für seinen ersten Spielfilm GIRL gewann Lukas Dhont 2018 eine Camera d’Or sowie den FIPRESCI-Preis in der Kategorie Un Certain Regard beim 71. Festival de Cannes. Nach GIRL geht er mit CLOSE erneut für Belgien ins Oscar-Rennen als „Bester internationaler Film“