Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Noch keine Spur von den 73. Filmfestspielen in Berlin. Nirgendwo Banner oder Plakate, der Potsdamer Platz weiterhin eine Baustelle. Der Eingang zur Area ist ein Kunstwerk, kein Teil des Festivals. Dafür ist die triste Realität das Kino...
...Eine Bettlerin beschmeißt mich mit der Handvoll Kleingeld (etwa zwei Euro), die ich ihr gegeben habe. Die Busfahrer winken einem fröhlich zu wenn man angerannt kommt - und fahren ab.
Aber für die Journaille gibt es bereits in der zweiten Woche, nach der ersten Berlinale-Pressekonferenz, jede Menge echter Filme vorab zu sehen. In den ersten Tagen wurde in der Sektion Berlinale Classics & Retrospektive fast vergessene und rekonstruierte Filme gezeigt. Etwa der Schweizer Streifen „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von 1941 (siehe Bild links)) nach der Novelle von Gottfried Keller. Der aus Nitrat-Kopien wiederhergestellte Film erzählt mit langsamen Schwarz-Weiß-Bildern das romantische Drama der jungen Liebenden, die gemeinsam in den Tod gehen, weil auf dieser Welt kein Platz für sie ist. „In seiner Schönheit und Stimmungsdichte ist dieses Werk im Schweizer Film bis heute unerreicht“, meint Buchers Enzyklopädie des Films zu dem Werk.
„The Waiting“ ist ein US-amerikanischer Film von 1976 über eine Vergewaltigung, welche die Regisseurin selbst so erfahren hat und für die Kamera in Szene setzte. Eine Gruppe älterer Jugendlicher fährt nach Ney York und macht in einem leerstehenden Haus eine Party, bei der es zu diesem dramatischen sexuellen Übergriff kommt. Immer wieder wird die Handlung durch Gespräche mit den Akteuren unterbrochen. Die missbrauchte Schauspielerin erinnert sich an eigene Erfahrungen, der Darsteller des Vergewaltigers berichtet von seinen High-School-Gesprächen mit anderen Jungs. Durch diese Verfremdungseffekte im brechtschen Sinne ,wird man von der Handlung nicht emotional überwältigt. Vielmehr erkennt man Missverständnisse, unterschiedliche Wahrnehmungen und aggressive Klischees, ohne dass die Tat beschönigt wird.
Das cineastische Angebot der zweiten Woche beginnt mit einer wahren Flut von Filmen aus verschiedenen Sektionen, die meist parallel gezeigt werden. Wie ein Schmetterling muss man von Kinosaal zu Kinosaal flattern, um Wunschfilme zu sehen - oder sich nur auf eine Sektion konzentrieren. Gezeigt werden beispielsweise zwei Tage lang ausgewählte Kurzfilme aus der Sektion Shorts, die heutzutage nicht mehr so beliebt sind wie früher und mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Meist erzählen die Filmschaffenden mit nur einer Episode oder wenigen Bildern berührende, interessante, überraschende - manchmal natürlich auch langweilige - Kurzgeschichten: Bewegend sind die Horrorträume eines syrischen Flüchtlings oder die magische Begegnung eines Afrikaners mit seiner im Gefängnis eingesperrten Frau, die er nicht besuchen darf.
Auch die Kurzfilme bekommen Bärenpreise, deshalb ist es erstaunlich, dass wir Journalisten sie vorher sehen dürfen. Andere Wettbewerbsfilme werden uns nicht vorher gezeigt. Die Bandbreite der kleinen Filme ist enorm - doch genauso riesig wie das Angebot in den unterschiedlichen Genres der anderen Sektionen.
Fortsetzung folgt (denn es gibt noch viele, viele Filme vorab zu sehen).
Foto:
© Hanswerner Kruse (oben)
© Collection Cinémathèque suisse ("Romeo und Julia")