202307127 1Vor der Berlinale 2023 (3)


Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Auf dem hinteren, einzelnen Edelsessel im Cinemax-Kino liegt eine Kettensäge. Der von mir herbeigerufene Leiter der Sektion „Panorama“ lässt sie kurz schnarren, bringt sie dann zu den im Keller herumbastelnden Handwerker. Wie sich später herausstellt, dachte sich der Filmvorführer diese makabre Platzreservierung aus und plante wohl kein Massaker im Kino…


Im folgenden Film „Inside“ in der Sektion Panorama, hätte Schauspieler Willem Dafoe diese Kettensäge gut gebrauchen können: Er wurde beim Einbruch in eine gigantische Apartmentanlage am New Yorker Central Park vom automatischen Sicherheitssystem eingeschlossen. Tagelang versuchte er zwischen zahllosen, sündhaft teuren Kunstwerken eines verreisten Oligarchen zu überleben (Foto oben). Seine Befreiung durch Komplizen oder Kontakte zu Außenstehenden waren unmöglich. Dafoe trägt solo ganzen Film, doch erst die Kamera mit vielen Nahaufnahmen, den radikalen Schnitten und die dramatische Musik vollenden den Film zu einer spannenden, leicht philosophisch angehauchten One-Man-Show. Eine moderne Robinsonade, in die Freitag nicht hineinkommt und die Grenzen zwischen Kunst und Realität verschwimmen.

Diese Grenzen bleiben am nächsten Tag auch unscharf im Film „She Hero“ in der Sektion Generation. Romy, vielleicht acht Jahre alt, sucht mit dem neuen ungeliebten Wellensittich im Käfig, ihren entflohenen Vogel Mimi. Bei dessen Suche in einem Wald nahe der Autobahn passieren seltsame Dinge: In einem alten Bunker wartet ein Soldat der deutschen Wehrmacht auf das Ende des Krieges. Ihr Sittich soll in einer stillgelegten heruntergekommenen Fabrik eine Katze satt machen. Und schließlich verschwindet der Vogelkäfig, unerreichbar für Romy, hinter einem angebundenen Schäferhund, der sie unaufhörlich böse anbellt. Eine geklaute Wurst hilft nicht, sie ist leider aus Tofu… Das Alltägliche ist fremd und - eigentlich - auch bedrohlich, aber Romy wird bei ihrer Suche nach Mimi nicht bange. So konsequent wie sie sind viele Kids in den Berlinale-Filmen für große Kinder.

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Auch in dem chinesischen 3D-Animationsfilm „Shen Hai“ sucht ein Junge in den Weltmeeren nach seiner verschwunden Mutter. Ob er sie wiederfindet weiß man nicht, denn nach einer Stunde bin ich aus diesem überwältigenden Bilder-Massaker geflohen. Die grässliche knallbunte Mischung aus rasendem Computerspiel, hektischen Verfolgungsjagden und wilden Videoclips konnte ich seekrank nicht länger aushalten.



Eine spannende Erfahrung - zuerst das Fremde im Alltäglichen, dann die mit Effekten überladene künstliche Welt. Das war wohl der extremste Gegensatz meiner bisher geschauten Filme. Aber das  muss auch wohl so sein, denn die Berlinale präsentiert ja in allen Sektionen eine riesige Bandbreite von extrem unterschiedlichen Werken. Was sich ja auch für ein Filmfestival gehört!

Foto:
Oben: Willem Dafoe in "Inside" © Heretic
Unten: "Shen Hasi" © 2023 Beijing October Media 

Info:
Bei der Berlinale akkreditierte Journalisten können seit Mitte Januar sehr viele Filme vorab sehen. Unser Autor Hanswerner Kruse berichtet darüber in seinem Tagebuch.
Bisherige Berichte