Serie: 73. Internationale Filmfestspiele Berlin vom 16.– 26.02.23, BERLINALE, Wettbewerb 4
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Schon wieder so ein Podcast-Film, stöhnte der Kollege neben mir und erläuterte mir danach, was er meinte. Daß dauernd geredet würde in diesem Film. Richtig. Auch dieser Film reiht sich auf der BLERLINALE ein in das Thema des mangelnden Gesprächs zwischen eigentlich einander nahen Menschen, so daß man auf jeden Fall sagen kann, daß mangelhafte Kommunikation eine Hauptursache für das Unglück von Menschen ist, denn nicht richtig miteinander sprechen, bedeutet in der Folge auch, sich nicht zu verstehen, sich einsam fühlen oder Schlimmeres.
Der Film zeigt die Verlorenheit vieler Menschen in der heutigen Welt, die doch eigentlich von Kommunikationsangeboten überläuft, weil der Mensch sozusagen dauernd online ist. Aber genau darum geht es nicht, sondern um die Qualität dessen, was ausgetauscht wird. Und da hat die Familie, die wir am Grab der Mutter kennenlernen, großen Nachholbedarf. Sofort bemerkt die Tochter, daß frische Blumen am Grab liegen, ihre verstorbene Mutter aber hier gar keinen kannte, der ihr Blumen brächte. Auch der Hinweis auf einen versteckter Liebhaber, kann sie nicht zum Lächeln bringen, sie ist aufgebracht, denn sie ist eine, die gerne die Kontrolle ausübt und auch gerne die kleine Tochter ihres Bruders Gu Wentong ( Xin Baiqing) aufzieht, weil dieser, von der Kindsmutter geschieden, die zudem gegen Filmende am Krebs sterben wird, dies neben seiner Arbeit als Restaurantkritiker nicht kann. Dieser weibliche Kontrollfix hat allerdings einen Mann, der das gut händeln kann und der im Film der einzige Mann bleiben wird, der den Eindruck von Selbständigkeit, Übersicht und Empathie macht. Er überreicht dem Schwager heimlich einen Zettel mit einer Telefonnummer und einer Adresse.
In der nächsten Szene sitzt besagter Gu Wentong in einer Restaurant, ißt eine Suppe und wird von einer jungen Frau, Ouyang Wenhui (Huang Yao ), die das Lokal fotografieren soll, durch heimliche Aufnahmen gefoppt. Diese beiden werden den Film tragen und es wäre falsch, sie als Liebespaar zu bezeichnen. Darum geht es gar nicht, sondern um Sympathie, Empathie und einen intellektuellen und persönlichen Austausch über das Leben und sie selbst. Denn auch Wenhui schleppt allerhand mit sich herum, ist aber in der Lage, sich selbst zu heilen. Das merkt Wentong, wenn er ihr heimlich folgt. Sie ist in eine Waisenhaus geschlüpft, wo er sie dann am Klavier sitzend mit den Waisen Lieder singen hört.
Erst viel später wird sie ihm sagen, daß sie fünf Jahre im Waisenhaus in Beidaihe lebte, bevor sie adoptiert wurde. Das ist eine Stadt an der Küste, rund 300 Kilometer von Peking entfernt und sie wird zum zweiten Drehort im Film, da, wie das Leben so spielt, auch der verschollene Vater dort lebt, der immer wieder mit dem Rad drei Tage nach Peking unterwegs ist, da er aus der Ferne seine Kinder hat großwerden sehen. Anlaß, daß die gerade gestorbene Ex-Ehefrau und Mutter, ihn aus dem Haus warf, als die beiden Kinder noch klein waren, war die Verurteilung des Vaters als Sexunhold. Im Bus oder der Bahn hatte eine Frau laut: „Du geiles Arschloch“ gerufen und ihn der Zudringlichkeit geziehen. Zwar hatte sie das später zurückgenommen, aber da war es zu spät für die sozialen Folgen, von denen der Rauswurf aus der Familien für ihn der schlimmste war.
Doch wird das nicht im Film chronologisch erzählt, sondern setzt sich beim Schauen im Kopf und auch im Gemüt des Zuschauers zusammen. Daß in diesem Film verkrustete familiäre Verhältnisse aufweichen, hat mit der jungen Wenhui zu tun, die gewissermaßen die Puppen zum Tanzen bringt. Sie ist der Katalysator, der in der Geschichte den einzelnen Familienmitgliedern die Chance für eine Versöhnung bietet und die, wie oben geschildert auch ihre eigene Vergangenheit als Waisenkind aufarbeiten und heilen kann. Überhaupt könnte man vieles, was im Film geschieht, als Heilung begreifen, nicht mit dem Holzhammer verordnet, sondern durch Tun in Gang gesetzt.
Für ihre Rolle gibt es ein architektonisches Gegenstück, die Weiße Pagode. Wir Europäer sehen nur einen sehr hohen Turm, der so gebaut, nie einen Schatten werfe, aber in Peking sind ansonsten alle Gebäude eckig, das Runde kommt nicht vor und in der Pressekonferenz zum Film wird Regisseur und Drehbuchschreiber Zhang Lu sogar den Vergleich ziehen, daß die zuvor eckigen Familienverhältnisse etwas Rundes erhalten haben, sich die Familienmitglieder aufeinander zu bewegen.
Im Film berühren viele kleine Szenen, deren Zusammenhang sich nach und nach erschließen, wenn Wentong wieder einmal Wenhui folgt, diesmal in der Stadt am Meer, wo sie die Ruine des ehemaligen Waisenhauses besucht, sich an einer blauen Blume, die aus dem nackten Stein erwächst, erfreut und im nächsten Moment es Wentong genauso gehen wird. Hoffnung ist überall, man muß sie nur wahrnehmen. Dort in der Ruine fällt ein gesungenes Lied auf, das wir auch kennen, das ursprünglich eine schottische Weise ist und auf Deutsch lautet:
Nehmt Abschied, Brüder,
ungewiss ist alle Wiederkehr.
Die Zukunft liegt in Finsternis
und macht das Herz uns schwer.
Refrain:
Der Himmel wölbt sich übers Land,
ade, auf Wiedersehn.
Wir ruhen all in Gottes Hand,
lebt wohl, auf Wiedersehn.
Weil mir das in diesem Kontext Spanisch vorkam, konnte ich chinesische Kollegen fragen, die sagten, es sei für Chinesen das Freundschaftslied schlechthin, so daß man interpretieren könnte, daß Wenhui mit ihrem Leben und ihrer Herkunft inzwischen gut klar kommt. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil im Film Musik eine große Rolle spielt, hier auch immer in Verbindung mit Kindheit und Kindern, denn die Lieder, die Wenhui in Peking mit den Waisenkindern singt, seien die Lieder, die jeder Chinese auf der ganzen Welt, auch wenn er sein Leben lang außerhalb von China lebte, von der Kindheit her kennt und intonieren kann.
Das ist ein eher leiser Film, der mir einen großen Eindruck machte, auch, weil er die Personen so individuell zeichnet und dennoch eine deutliche Aussage trifft, daß nämlich Frauen grundsätzlich etwas Positives und Lebensbewältigendes ausstrahlen, die Männer dagegen grundsätzlich verunsichert seien über ihren Platz in der Welt.
Übrigens ist dieser Film das Gegenteil von einem Podcast-Film, was auch immer das sein sollte.
Foto:
Der schattenlose Turm von Zhang Lu
©Lu-Films
Info:
Stab
Regie Zhang Lu
Buch Zhang Lu
Kamera Piao Songri
Montage Liu Xinzhu
Musik Xiao He
Darsteller
Xin Baiqing (Gu Wentong)
Huang Yao (Ouyang Wenhui)
Tian Zhuangzhuang (Gu Yunlai)
Nan Ji (Nan Ji)
Wang Hongwei (Li Jun)
Li Qinqin (Gu Wenhui)
Wang Yiwen (Xiao Xiao)