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Berlin (Weltexpresso) – „Die fünfte Sinfonie von Mahler ist ein Meilenstein, nicht nur im klassischen Kanon, sondern auch in anderen Bereichen der Musik. In den dritten Satz kann man sich schnell verlieben“, sagt Field. „Jahrelang war ich besessen von den subtilen Nuancen der verschiedenen Aufnahmen, die je nach Orchester, Saal und Dirigent ganz unterschiedlich waren. Bis ich erkannte, dass viele Leute das Stück zum ersten Mal in Viscontis Film Tod in Venedig gehört hatten. Als John mich also fragte, was mein Lieblingsstück in der klassischen Musik sei, schämte ich mich fast dafür, dass ich das Adagietto nannte. Er schimpfte mich aus: ‚Niemand, der sich wirklich ernsthaft mit klassischer Musik beschäftigt, wird jemals das Adagietto kritisieren. Vergessen Sie Visconti. Bauen Sie Ihr Ding um die fünfte Sinfonie herum.‘
Und genau das tat ich. Die Geschichte sollte sich um eine Dirigentin drehen, die erste weibliche Chefdirigentin in der Geschichte dieses Berliner Orchesters. Die Handlung sollte sich über einen Zeitraum von drei Wochen erstrecken, in denen sie sich auf eine Buchvorstellung in New York und eine Live-Aufnahme von Mahlers fünfter Sinfonie für Deutsche Grammophon in Berlin vorbereitet.“
„Danach hatte ich keine Angst mehr vor antipopulistischen Anmaßungen und fühlte mich frei, mich der Musik zu widmen, die ich am meisten liebe. Eines dieser Stücke ist das Cellokonzert von Edward Elgar. Als er das Konzert schrieb, war es nicht üblich, dass ein Orchester mit Musikerinnen besetzt war. Die Cellistin Beatrice Harrison war jedoch die erste, die es vor dem damals rein männlichen London Symphony Orchestra auf Stage One bei EMI (den heutigen Abbey Road Studios) aufnahm. Elgar persönlich dirigierte dabei.“
Das Stück geriet fast in Vergessenheit, bis es 1965 von Jacqueline du Pré aufgenommen wurde – mit demselben Orchester im selben Studio wie Harrison, nur dieses Mal unter der musikalischen Leitung von Sir John Barbirolli. Das Stück wurde so stark mit du Pré assoziiert, dass sie es als Teil ihres regulären Repertoires beibehielt. Tatsächlich war es das letzte Stück, das sie kurz vor ihrem Tod erneut im Studio One aufnahm, diesmal jedoch mit ihrem Ehemann Daniel Barenboim als Dirigent. Auf diese Aufnahme bezieht sich die Cellistin Olga Metkina in TÁR, als sie erzählt, weshalb sie überhaupt Cellistin wurde.“
Die Erschaffung einer Figur
„Cate und ich begannen unsere gemeinsame Arbeit im September 2020“, sagt Field. „Sie drehte zwei andere Filme, während sie sich auf TÁR vorbereitete. Sie hat tagsüber gearbeitet und mich nachts angerufen, machte also noch ein paar Überstunden. Sie hat nicht nur Deutsch gelernt, sondern auch Klavierstunden genommen – ja, das ist Cate, die im Film spielt, und zwar jede einzelne Note – und sie hat ausgesprochen gründlich recherchiert. Sie ist eine echte Autodidaktin und hat in einem Jahr, in dem sie noch zwei andere Filme drehte, mehr geschafft als Lydia Tár selbst in 25 Jahren geschafft hätte. Während der Produktion hat sie nicht geschlafen. Nach einem Drehtag ging sie direkt weiter zu einer ihrer Unterrichtsstunden: Klavier, Deutsch, Amerikanischer Dialekt, Taktstocktechnik, Rhythmusmuster. Ihren freien Tag verbrachte sie auf einer abgesteckten Route, die genau den Abmessungen des Kreisverkehrs am Alexanderplatz entsprach. Dort probte sie mit Nina Hoss eine Szene, während sie mit 100 Stundenkilometern acht von Stuntleuten gesteuerten Autos ausweichen musste. Es gibt absolut nichts, was sie nicht mitgemacht hätte, wenn wir es ihr aufgetragen hätten. Sie hat die Messlatte für uns alle sehr hoch gelegt, und es war wirklich alles andere als einfach, mit ihr mitzuhalten.“
Blanchett gefiel die intellektuelle Komponente von Fields Drehbuch, sie fühlte sich der Geschichte aber in erster Linie auf einer instinktiven, menschlichen Ebene verbunden. „Ich fühlte, dass es für das Publikum und mich eine Menge Dinge zu enthüllen gab, um gemeinsam dieses faszinierende Rätsel namens Lydia Tár zu entschlüsseln. Todd hat ein wahrhaft einzigartiges Wesen geschaffen.“ Darüber hinaus war Blanchett von der musikalischen Qualität des Drehbuchs und von Fields einzigartigem Konzept hinsichtlich der Darstellung der Figur fasziniert.
„Ich bin sehr auf Sprache fokussiert. Als ich das Drehbuch las, entdeckte ich viele Referenzpunkte, mit denen ich einfach nicht vertraut war. Ich wusste aber, dass ich sie in- und auswendig verstehen musste. Das Publikum musste ja darauf vertrauen können, dass die Figur jederzeit genau weiß, wovon sie spricht. Seltsamerweise ist es gar nicht nötig, dass die Zuschauer diese Referenzen genau verstehen. Sie müssen nur wissen, dass Lydia ein Genie ist.“
„Ich war gefesselt von diesem Porträt einer Frau, deren Leben aus den Fugen gerät, aber ich habe auch auf einer rhythmischen Ebene durch die Musik auf das Drehbuch reagiert. Musik ist für mich als Schauspielerin oft ein Schlüssel, um eine Figur oder die Atmosphäre zu entschlüsseln, um eine Verbindung zur Geschichte zu finden. In dieser Hinsicht ist Todds Film eine echte Goldgrube.“
Für Field und Blanchett wurde die Zusammenarbeit im Vorfeld der Produktion zu einer wichtigen Lehrstunde, was den Aufbau der Atmosphäre sowie Entwicklung und Umfeld der Charaktere betrifft. „Wir haben gemeinsam Dinge entdeckt, die über das eigentlich vorhandene Material hinausgingen“, sagt Blanchett. „Todd war bei der gemeinsamen Arbeit bedingungslos aufgeschlossen und furchtlos. Wenn ich eine verrückte Idee hatte, griff er sie auf und schickte mir um 2 Uhr morgens eine Textnachricht, in der stand: ‚Ich glaube, ich weiß, wie das funktionieren kann.‘ Er war unglaublich erfinderisch. Wir brachten die Figuren weiter, als wir anfingen, große Fragen zu stellen. Was ist eigentlich ein Prozess? Wie transaktionsorientiert sind die Beziehungen im Drehbuch? Sind alle Figuren mitschuldig am Funktionieren dieser Machtstrukturen? Ist es normal, dass eine Situation unangenehm wird, wenn man versucht, eine Gruppe von Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld zu lösen? Wir bewundern gerne große Menschen – aber mögen wir es auch, sie fallen zu sehen? Diese Gespräche haben auch die Figur Lydia geprägt. Viele unserer bedeutenden Narrative sind gescheitert, und ich war fasziniert von jenen Menschen, deren Anliegen bedeutend und weitreichend sind, die aber historisch gesehen keinen Zugang zu solcher Bedeutsamkeit hatten. Was passiert mit großen Menschen, die zurückblicken und Zugang zu vergangener Größe erlangen möchten, aber in den Nebensächlichkeiten der Gegenwart gefangen sind?“
„Cate verschlang das Drehbuch förmlich, lernte es von vorne bis hinten auswendig und nahm es Stück für Stück auseinander“, sagt Field. „Sie wollte alles über sämtliche Elemente in Társ Umfeld herausfinden. Als wir mit den Dreharbeiten begannen, wusste sie alles, was ich wusste – sie wusste sogar noch mehr. Sie korrigierte mich während der Proben und sagte, dass man MTT sagt, wenn man Michael Tilson Thomas meint.“
„Dirigieren ist keine leichte Aufgabe. Es hat mich umgehauen, wie viel Aufwand Cate in ihre Darstellung gesteckt hat, durch all die Einflüsse, die sie aufgenommen hat. Sie hat es geschafft, eine völlig neue und originelle Person zu erschaffen, die sich durch und durch authentisch und lebensecht anfühlt“, schwärmt Sophie Kauer. Mit ihrer Rolle als junge russische Cellistin Olga Metkina gibt Kauer, die auch im wahren Leben Cellistin ist, in TÁR ihr Filmdebüt.
„Mein Ausgangspunkt waren die Meisterkurse von Ilya Musin und die aufrüttelnde Dokumentation über Antonia Brico“, sagt Blanchett. „Ich habe Claudio Abbado, Carlos Kleiber, Emmanuelle Haim und Bernard Haitink studiert, um herauszufinden, wer Tár nicht ist – aber auch, wer sie sein möchte. Dirigieren ist wie eine Sprache, ein gewaltiger Akt der kreativen Kommunikation. Es ist in höchstem Maße individuell und persönlich. Die Gestik war für mich ein großartiges Hilfsmittel, um mich in die Denkweise einer Meistermusikerin hineinzuversetzen, aber auch um mir zu zeigen, wie sie sich in der Welt bewegt.“ Blanchett trainierte ausgiebig mit der Dirigentin und Coachin Natalie Murray Beale. Zugleich weist sie darauf hin, dass „das Training für diese Rolle Klavier-, Dialekt- und Sprachunterricht erforderte. Alles praktische, mechanische Dinge, die zu den Fähigkeiten dieser Figur gehören. Aber sie sind nicht die Figur. Dies ist kein Film, in dem es nur um das Dirigieren geht. Das ist nur etwas Grundlegendes, das die Figur tut, wie Atmen. Die eigentliche Herausforderung für mich als Darstellerin war es, mich in den Kopf einer Person hineinzuversetzen, die sich von sich selbst entfremdet hat. Sie hat sich vergessen, sie hat sich von dem ‚Warum?‘ entfernt und bei dem Versuch, ein Vermächtnis zu erschaffen, ihre Verbindung zur Musik gekappt. Tár ist ein Mensch mit einem starken inneren Kritiker, der unbewusst der Vorstellung anhängt, dass, wenn man perfekt ist, einem niemand etwas anhaben kann. Aber natürlich ist Perfektion in der Kunst unmöglich. Die Kunst ist voller Unvollkommenheit und Grauzonen, und genau da liegt der Haken.“
„Ich habe auf meine bescheidene Art und Weise verstanden, wie es sich anfühlt, eine bedeutende Kulturinstitution zu leiten“, sagt Blanchett, die zusammen mit ihrem Ehemann Andrew Upton fast ein Jahrzehnt lang die künstlerische Leitung und die Geschäftsführung der Sydney Theater Company innehatte. „Dieses Maß an kultureller und physischer Verantwortung kann sich bisweilen sehr einsam und undankbar anfühlen. Aber genauso kann es auch die wichtigste berufliche Erfahrung bedeuten. 70 Prozent unserer Zeit als Künstler verbrachten wir damit, die eigentliche Organisation zu leiten. Wir waren zuständig für das Gebäude, den Spielplan, die Sponsoren, die Schnittstelle zum Publikum. Und wir kümmerten uns um Fragen der Unternehmenspolitik, des Personalmanagements und der staatlichen Finanzierung.“
Ihre Erfahrung half der Oscar®-prämierten Schauspielerin, das Innenleben eines künstlerischen Ensembles zu verstehen – und das einer anspruchsvollen, oft sprunghaften Figur, die ein deutsches Orchester leitet. „Die kreative und physische Verantwortung lag bei uns. Aber als wir den Job übernahmen, haben wir unsere Mitarbeiter auf sinnvolle Weise in künstlerische Entscheidungen eingebunden. Ich bin sicher, dass viele, die an einen eher hierarchischen Ansatz gewöhnt waren, anfangs dachten, dass wir gar nicht wissen, was wir tun. Sie waren es nicht gewohnt, auf demokratische Weise zu arbeiten. Traditionell gibt es in der Welt der klassischen Musik – wie in vielen anderen Institutionen auch – keine solchen Abmachungen. Von Tár zum Beispiel wird erwartet, dass sie alle Aufgaben alleine stemmt. Als Dirigentin beeinflusst sie die Musik, aber es gibt keine Vorbilder für Menschen in ihrer Position. Die einzigen Beispiele waren die großen, dominanten männlichen Dirigenten des klassischen Musikkanons, wie etwa Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan.“
Weitere Akteure
Die Welt der klassischen Musik ist traditionell sehr stark patriarchalisch geprägt. TÁR nimmt jedoch die Frauen in Lydias Privat- und Berufsleben in den Blick. Dazu gehören ihre Lebensgefährtin und Konzertmeisterin Sharon, mit der sie das gemeinsame Adoptivkind aufzieht. Dann ist da Társ pflichtbewusste Assistentin Francesca, die in die Fußstapfen ihrer Chefin treten möchte. Und Olga Metkina, eine junge russische Cellistin, beflügelt einerseits durch ihre Jugend und ihr Selbstvertrauen Társ ins Stocken geratene kreative Energie, macht aber zugleich ihre Beziehung zum Orchester – und zu Sharon – komplizierter.
„Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht eine Ehe“, sagt Field. „Es ist wichtig zu wissen, dass es in Deutschland keine auf Lebenszeit berufenen Chefdirigenten mehr gibt, seit Herbert von Karajan Berlin verlassen hat. Alle deutschen Orchester sind demokratisch geprägt. Das bedeutet, dass die Musiker den Chefdirigenten wählen, und diese ‚Berufung‘ kann jederzeit rückgängig gemacht werden. Für das Publikum mag der Konzertmeister unsichtbar sein, aber für das Orchester hat er die eigentliche Macht. In dieser Hinsicht ist die Beziehung zwischen Tár und Sharon kompliziert. Und sie war sicherlich umstritten, als sie sie zuerst öffentlich machten.“
Wie viele andere kannte Field die Arbeit von Nina Hoss aus den Filmen, die sie gemeinsam mit Christian Petzold realisiert hat. Auch mit ihrer Darstellung einer professionellen Geigerin mit posttraumatischer Belastungsstörung in Ina Weisses Film Das Vorspiel war Field vertraut.
„Bei meinem ersten Gespräch mit Nina wurde mir klar, weshalb Petzold viele seiner Filme für sie schreibt. Sie verwies auf eine Szene im Film und sagte: ‚Ich glaube, das kann man anders lösen. Es geht in dieser Beziehung nicht darum, wer die Hosen anhat. Es geht um Beteiligung.‘ Dieses Gespräch hat das Drehbuch auf eine wichtige Weise beeinflusst, die sonst wahrscheinlich verloren gegangen wäre.“
Um sich in die Rolle hineinzufinden, studierte Hoss mit ihrer Geigenlehrerin Marie Kogge die Werke von Elgar und Mahler. Mit ihr diskutierte sie, was diese Stücke für Sharon bedeuten könnten und welche Art von Macht sie als Konzertmeisterin im Orchester innehat. „Ihre Macht ist anders als die von Lydia. Wenn man die erste Geige spielt, muss man sich jeden Tag aufs Neue beweisen, denn jeder im Orchester will diese Position haben. Man ist nie sicher“, so Hoss. „Sharon hält das Orchester zusammen. Sie hilft im wahrsten Sinne des Wortes dabei, den richtigen Ton zu finden und das, was Tár aus der Gruppe herausholen möchte, zu übersetzen. Dieses Austauschverhältnis zwischen Tár und ihr ist innerhalb und außerhalb des Orchesters sehr wichtig.“
„Sharon war in meinen Augen nie unschuldig. Wie Tár verfolgt auch sie eine Agenda“, fügt Hoss hinzu. „Sie will, dass Tár ein großer Star ist, damit sie ihren Status als mächtiges Paar behalten können. Das Verhalten ihrer Partnerin ignoriert sie, indem sie schweigt. In dieser Geschichte geht es um Macht und um die Art und Weise, wie sie von beiden Seiten eingesetzt wird. Denn wenn es um Macht geht, gibt es immer zwei Seiten. In jeder Beziehung gibt es diese Spannung, dieses Hin und Her. Beziehungen haben Regeln. Und beide Beteiligten sind an der Aufstellung und dem Bruch dieser Regeln beteiligt. Hoffentlich wird der Film zu lebhaften und gesunden Diskussionen über die wahre Natur solcher Dinge anregen.“
Ebenso komplex ist die Dynamik zwischen Tár und ihrer Assistentin Francesca Lentini. „Céline Sciammas Porträt einer jungen Frau in Flammen ist ein Film, den ich sehr mag“, sagt Field. „Dadurch habe ich Sciammas andere Filme kennengelernt, etwa Mädchenbande und Mein Leben als Zucchini. Das Wichtigste aber ist, zumindest für diesen Film, dass ich dadurch das ganz besondere Talent von Noémie Merlant schätzen gelernt habe.“
Francesca ist eine Figur im Wandel. Im Gegensatz zu Tár stammt sie aus einer kultivierten, bürgerlichen Familie. Sie besuchte das Conservatoire de Paris, machte ihren Master of Fine Arts in Yale und erhielt dann ein Stipendium der Accordion Foundation. Dort lernte sie Tár kennen. Ihre Beziehung war phasenweise intim, ist inzwischen aber rein geschäftlicher Natur. Vor einigen Jahren bot Tár Francesca an, in Berlin als Assistentin für sie zu arbeiten. Beiden war klar, dass dieses Angebot ein Sprungbrett zur Position der zweiten Dirigentin sein würde. Francesca ist in die Machenschaften und Pläne ihrer Chefin eingeweiht. Sie hat daher allen Grund, ihr nicht zu vertrauen – und arbeitet im Stillen einen Notfallplan aus.
„Im Gegensatz zu den anderen Figuren sehen wir Francesca im Film nie wirklich musizieren“, sagt Merlant. „Ihr Geschick liegt in ihren Ohren. Sie ist eine Zuhörerin, eine Beobachterin. Die Herausforderung für mich bestand also darin, ihre Liebe zur Musik und ihren Wunsch zu dirigieren durch ihre Körpersprache und ihren Blick zu vermitteln. Sie bewundert Tár und möchte von ihr lernen – aber zugleich hat sie auch Angst vor ihr.“
Die junge russische Cellistin Olga Metkina ist ein weiteres Medium, durch das sich die Machtdynamik des Orchesters beobachten lässt. Sie ist eine Figur, die so sehr von ihrem eigenen Können und ihrer Identität überzeugt ist, dass sie keinerlei Forderungen stellt. Auf diese Weise füllt sie für Tár ein Vakuum, in dem die ungeheure Kraft der Kunst verdrängt wurde durch die Energie, die sie für die Leitung einer großen Kulturinstitution aufbringen muss. Sie sieht in Olga ihr junges Selbst. Deshalb begeht Tár einen politischen Fehltritt – einen von vielen, der ihr letztendlich zum Verhängnis werden wird.
„Casting Director Avy Kaufman und ich wussten, dass in der Besetzung von Olga Metkina die größte Herausforderung für uns lag. Wir brauchten eine russische Cellistin im Teenageralter, die schauspielern kann“, sagt Field. „Ideal wäre eine Mischung aus Lotte Lenya und Jacqueline du Pré. Theoretisch schien das eine lösbare Aufgabe zu sein. Avy suchte in einem möglichst großen Rahmen. Aber die Vorgaben für Olgas Herkunft waren zu spezifisch, also ließen wir beim Auswahlprozess alle Nationalitäten zu.“
Eine Flut von selbst aufgenommenen Videos traf im Casting-Büro ein. Kaufmans Assistentin Brigitte Whitmire sah sich Hunderte von jungen Musikerinnen an, die mit gebrochenem russischem Akzent vorspielten. Die richtige Kandidatin war jedoch nicht darunter. Uns war klar, dass wir die Rolle für Schauspielerinnen öffnen mussten, die ein wenig Cello spielen oder zumindest einen Bogen richtig halten konnten. Und obwohl es aufregend war, die vielen jungen Talente zu sehen, war die musikalische Qualifikation nicht ausreichend“, sagt Field. „Ganz abgesehen davon, dass uns die Zeit davonlief, hatte keiner von uns Lust, eine Darstellerin zu synchronisieren, zu simulieren oder ein Body-Double zu verwenden, um es so aussehen zu lassen, als handle es sich um eine Weltklasse-Cellistin. Es war wichtig, dass jeder, der in dem Film Musik machen sollte, auch tatsächlich Musik macht.“
Schließlich, in der letzten Casting-Woche, traf ein Video ein. Darin stellte sich eine 19-jährige Cellistin mit knielangen blonden Haaren vor, die ein wenig überkorrekt gekleidet war. Sie stammte aus einer Mittelklassefamilie, die außerhalb Londons lebte. „Sophie war überhaupt nicht wie diese Figur. Aber dann begann sie zu schauspielern – und da war Olga“, sagt Field. „Als ich sie fragte, wo sie ihren russischen Akzent gelernt hat, sagte sie ‚YouTube‘. Und noch etwas: Sie konnte spielen. Wirklich spielen. Sophie ist eine außergewöhnliche Cellistin. Wir wussten das nicht, denn sie war die einzige Cellistin, die sich bei uns vorstellte, die nicht in den sozialen Medien präsent war. Als wir sie darauf ansprachen, sagte sie, das sei Absicht gewesen. Sie wollte nicht, dass die Leute sie hören, bevor sie ‚bereit‘ war. Das war eine perfekte Vorstellung ihrer Person, die sich mit meinen Erfahrungen mit ihr als Schauspielerin und Musikerin deckt, und zwar während des Drehs und bis weit in die Postproduktion hinein. Sophie Kauer ist eine Urgewalt.“
Kauer fing mit acht Jahren an, Cello zu spielen. „Ich wurde gefragt, ob ich Geige spielen möchte, aber ich habe abgelehnt, weil man dabei stehen muss“, sagt Kauer. „Ich habe mich für das Cello entschieden, weil ich lieber im Sitzen spielen wollte.“ Im Alter von vierzehn Jahren begann ihr Durchbruch: Sie erhielt ein Stipendium, das es ihr ermöglichte, mit anderen jungen Musikern aus ganz Europa eine Musikakademie in der Schweiz zu besuchen. „Da wusste ich, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen wollte. Für diese Lebensweise muss man eine Menge Opfer bringen. Während alle anderen feiern, sitzt man zu Hause und übt Elgar.“
Field schickte Kauer das Drehbuch, die sich auf Anhieb begeistert davon zeigte. „Ich war überglücklich, dass jemand die Welt der klassischen Musik auf diese Weise beleuchten und so viele Themen aufgreifen wollte, die heutzutage relevant sind“, sagt Kauer. „Todds Schreibstil war wunderbar. Selbst bei den Dingen, die es schließlich nicht auf die Leinwand geschafft haben. Etwa die Szene, in der das Orchester zustimmt, Elgar zu spielen. Da beschreibt er, wie sich die Bögen in Zustimmung heben, wie ‚ein Wald, der immer dichter wird, bis er in vollem Laub steht ‘.“
Mit Hilfe der Sprach-Coaches Helen Simmons und Inna Resner perfektionierte Kauer ihren russischen Akzent. „Sie haben mir geholfen, mich auf die Schauspielerei einzustellen und mich bei dem Versuch, die Rolle der Olga mit Leben zu füllen, zu neuen Dingen ermutigt“, so Kauer. „Die Dialektarbeit hat mir dabei geholfen, die Figur zu entwickeln. Es war sehr musikalisch und etwas, an das sich meine Ohren schnell gewöhnt haben.“
Um die Schauspielerei besser zu verstehen, griff Kauer erneut auf YouTube zurück, wo sie sich ein Lernvideo von Michael Caine ansah. Da sie noch nie zuvor geschauspielert hatte, bat Kauer darum, auch dann am Set bleiben zu dürfen, wenn sie nicht gerade eigene Szenen drehte. Sie beobachtete Nina Hoss und Cate Blanchett bei der Ausübung ihres Handwerks. „Ich war immer am Set und habe versucht, von den Besten zu lernen“, so Kauer. „Wenn man solche Weltklasse-Schauspieler in seiner Umgebung hat – warum sollte man diese Gelegenheit nicht nutzen?“
Kauer hatte noch niemals als Solistin mit einem professionellen Orchester gespielt. „Die Rolle war in doppelter Hinsicht beängstigend. Die wenigsten Neunzehnjährigen haben viel Erfahrung mit einem Orchester. Ans Set zu kommen, zu spielen und dann auch noch für einen Film aufgenommen zu werden, bedeutete deshalb einen enormen Druck“, sagt Kauer. „Ganz zu schweigen davon, dass ich das Cello gewissermaßen als andere Person spielte – nicht so, wie ich es normalerweise tun würde. Todd hatte sehr genaue Vorstellungen davon, wie er die Dinge musikalisch formulieren wollte. Und Cate dirigierte, also musste ich mich zusätzlich auf sie und die wunderbaren Musiker der Dresdner Philharmonie einstellen. Das sind Weltklasse- Leute, die im Gegensatz zu mir jahrelange Erfahrung im Zusammenspiel als Orchester haben.“
Mark Strong spielt Eliot Kaplan, einen der Top-Investmentbanker der Welt, dessen wahre Leidenschaft die klassische Musik ist. Der Amateurdirigent Kaplan hat sich den Weg aufs Dirigentenpodium durch seine Kontakte erkauft – insbesondere durch seine Geschäftsbeziehungen zu Lydia Tár. Es handelt sich um eine weitere transaktionsbezogene Verbindung: Vor zehn Jahren finanzierte Kaplan ein Projekt, das Tár sehr am Herzen liegt: die Accordion Foundation, deren Ziel es ist, jungen Dirigentinnen Auftrittsmöglichkeiten zu bieten. „Mark ist einer meiner Lieblingsschauspieler“, sagt Field. „Ich kannte ihn hauptsächlich durch seine Bühnenarbeit. Sein Eddie Carbone in Ivo van Hoves Inszenierung von Arthur Millers Blick von der Brücke ist eine der großartigsten Bühnenleistungen, die ich je gesehen habe.“
„Ich wollte diese Rolle unbedingt spielen, weil sie mir die Möglichkeit gab, einen Charakter und eine Figur zu verkörpern, die weit von dem entfernst ist, was ich selbst bin“, sagt Strong. „Das ist etwas, woran ich immer Interesse habe.“
Julian Glover spielt Andris Davis, Társ Vorgänger in Berlin. Mit ihm tauscht sie sich regelmäßig aus, denn er ist einer der wenigen Menschen auf der Welt, zu denen sie eine Beziehung aufbauen kann. Für Tár ist das sowohl Segen als auch Fluch: Sie liebt diesen Mann, aber gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass sie sich im Herbst ihres Lebens nicht in seiner Situation wiederfinden wollen würde. „Julians Arbeit spricht für sich selbst“, sagt Blanchett. „Er ist der perfekte Schauspieler und jederzeit bereit, seiner Figur voll und ganz auf den Grund zu gehen. Als wir unsere gemeinsamen Szenen drehten, war Julian gerade 86 Jahre alt geworden. Er kannte seine Zeilen bis auf den letzten Buchstaben und brachte ein fundiertes handwerkliches Fachwissen mit, das für diese Figur unentbehrlich war.“
„Ich war sofort angetan, als ich erfuhr, dass Todd Regie führen würde. Ich war begeistert, dass ich mit der brillanten Cate zusammenarbeiten durfte. Und dann war ich überwältigt, als ich das außergewöhnliche, wunderbare, originelle und sehr musikorientierte Drehbuch las“, schwärmt Glover. „Dass ich die Rolle in einem solchen Projekt annehme, stand für mich völlig außer Frage.“
Allan Corduner ist nicht nur eine feste Größe auf britischen Bühnen und am Broadway, sondern auch ein erfahrener Filmschauspieler, der vielen durch seine brillante Darstellung des Sir Arthur Sullivan in Mike Leighs Topsy-Turvy – Auf den Kopf gestellt an der Seite von Jim Broadbent bekannt ist. Er spielt Sebastian Brix, den zweiten Dirigenten des Berliner Orchesters. Sebastian kam 1990 mit Andris Davis nach Berlin und war, wie Eliot Kaplan es Tár gegenüber ausdrückt, „eine Entscheidung, die sie geerbt hat“. Field und Corduner lernten sich vor mehr als dreißig Jahren kennen, als die beiden als Schauspieler zusammenarbeiteten. „Allan ist nicht nur ein großartiger Schauspieler, sondern auch ein großartiger Mensch“, so Field. „. Er konnte sich genau in Sebastian hineinversetzen und spielte ihn so, als wäre er eine Figur am Hof in einem elisabethanischen Drama. Es war wunderbar, nach so vielen Jahren wieder mit ihm zusammenzuarbeiten.“
„Die Arbeit an TÁR war für mich eines der größten Vergnügen und Privilegien in meiner langen Karriere“, sagt Corduner. „Ich kenne Todd Field seit vielen Jahren und habe sein Talent, seine Bescheidenheit und seine Konsequenz immer bewundert. Er liebt und respektiert die Schauspieler und probt mit ihnen vor den Dreharbeiten in einem geschützten Raum – eine Seltenheit heutzutage. Man fühlt sich voll und ganz unterstützt.“
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Info:
Tár, USA, 2022
Regie: Todd Field
Drehbuch: Todd Field
Besetzung: Cate Blanchett, Nina Hoss, Mila Bogojevic, Noémie Merlant u.a.
158 Minuten