Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Wie sind Sie nach DER HAUPTMANN auf diesen Stoff gekommen?
Der Tod, und der Selbstmord, waren für die antiken Philosophen eine Bestätigung ihres Lebens: Ihre Lehren mussten sich im Tod erfüllen. Er galt als Signifikant des Charakters. Es hat mich interessiert, dass dieser Wunsch bei Seneca missglückt ist. Er konnte seine eigenen Lehren nicht mit seinem Ableben beglaubigen. Ich fand es spannend, dass sich das alles an nur einem einzigen Tag und einer Nacht abgespielt hat – das gesamte Leben kulminierte in 24 Stunden.
Seneca sucht Ausflüchte. Er begreift, dass er in der Falle steckt – das ist ja etwas sehr Menschliches, dieses Hadern mit dem Sterben ...
Das ist genau der Kern der Geschichte. Was er gepredigt hat in seinen Lehren, war ja das Gegenteil: Nicht zu hadern, das Sterben anzunehmen, weil durch die Meditation über den Tod die Angst davor überwunden werden könnte. Bei den Stoikern ging es darum, das Leben rein rational zu führen. Gefühle waren der Feind. Aber jetzt durchläuft Seneca all das: Hass, Abneigung, Verzweiflung, Angst. Das ist natürlich extrem menschlich. Menschen gehen im Normalfall nicht stoisch und klaglos aus dem Leben. Weil wir als Organismen am Leben hängen.
Senecas Selbstmord hatte etwas Performatives. Es geht auch um Eitelkeit?
Es ging Seneca darum, durch seinen theatralischen Selbstmord seinen eigenen Nachruhm zu kontrollieren und in die Geschichte einzugehen. Seneca war sich bewusst, dass er ein extrem kompromittierter Philosoph war und wollte auch sein Ansehen retten.
Seneca hatte eine Rolle als Neros Ghostwriter und de facto Spindoktor. Seine geschickte Beherrschung von Sprache und Argumenten ermöglichte es ihm, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: die stoischen Ideale darzulegen und sein eigenes moralisches Ansehen zu verbessern. Er spielte dieses doppelte Spiel von seinen frühen Jahren im Palast bis zu den letzten Momenten seines Lebens, von einer ikonischen Umgestaltung zur nächsten.
Seneca hatte eine Rolle als Neros Ghostwriter und de facto Spindoktor. Seine geschickte Beherrschung von Sprache und Argumenten ermöglichte es ihm, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: die stoischen Ideale darzulegen und sein eigenes moralisches Ansehen zu verbessern. Er spielte dieses doppelte Spiel von seinen frühen Jahren im Palast bis zu den letzten Momenten seines Lebens, von einer ikonischen Umgestaltung zur nächsten.
Seneca war nicht nur Philosoph, sondern auch Autor von Theaterstücken. Diese sind weitgehend unbekannt. Warum?
Die Stücke von Seneca gelten als unspielbar. Ich habe in der Theatergeschichte nichts Blutrünstigeres gefunden. Senecas Tragödien sind eine Umkehrung seiner Prosawerke – Belehrung durch Negativ-Beispiel. In seinem Traktat „De Ira“ argumentiert Seneca, dass der Zorn gebändigt werden kann und muss, damit der rationale Verstand die Oberhand gewinnen kann – während sein Theaterstück „Thyestes“ zeigt, wie der Zorn Amok läuft und sich zu gigantischen, abscheulichen Formen auswächst.
Senecas Prosawerke sind optimistisch. Das Finale von „Thyestes“ hingegen ist von nihilistischem Schrecken geprägt. Diese Dramen, die über einen langen Zeitraum hinweg verfasst wurden, sind von Verzweiflung, Schrecken und Wahnsinn erfüllt.
Ich bin der Ansicht, dass Seneca seine Tragödien als eine Art versteckten „cri de cœur“ geschrieben hat, eine Entladung der moralischen Abscheu, die er sonst nicht ausdrücken
konnte. Ein Auskotzen der Galle, an der er erstickt war. Diese Brutalität wollte ich auch im Film nicht abschwächen.
Senecas tragische Dramen, wie „Thyestes“, handelten in der Regel von arroganten Monarchen
und waren daher unter Neros Herrschaft riskant. Es ist nicht klar, ob Seneca seine Dramen
jemals aufführen ließ. Aus seinen Schriften erschließt sich das nicht. Daher habe ich sie als
private Dokumente und geheime Werke behandelt, die nur mit wenigen Vertrauten geteilt
wurden.
Ihr Nero-Bild ist ein sehr aktuelles. Parallelen zu heute sind gewollt. Dies ist also ein gegenwärtiger Film?
Auch bei meinem Film DER HAUPTMANN war der Grundgedanke der, dass man keine Filme zu
machen braucht, wenn es nicht eigentlich um die Gegenwart gehen soll. SENECA ist ja darum
auch aggressiv anachronistisch. Nero wird nie mit "Kaiser" angesprochen, sondern immer mit
"Präsident". Das hat natürlich sehr viel mit Donald Trump zu tun, mit diesen ganzen „starken
Männern“ und Despoten, die allerorten heute oft im Namen der Demokratie die Demokratie
aushöhlen und unterwandern.
Dabei ist der Film auch eine Satire, nicht nur auf Seneca, sondern auf die Eliten der Demokratie
und ihre Unfähigkeit, mit starken Männern, Tyrannen und Despoten umzugehen. Nicht
unähnlich unserer eigenen Zeit.
Als ich aufgewachsen bin, hatte ich noch das Gefühl, dass wir alle aus dem dunklen Mittelalter
durch die Renaissance aufgetaucht sind und über Aufklärung und Humanismus ein Wissen
erlangt haben, das uns imprägniert gegen diesen neuen Primitivismus der Macht in der
Spektakelgesellschaft. Ich habe nicht kommen sehen, was heute passiert. Den Schock darüber
verarbeite ich in meinem Film.
Und das betrifft natürlich nicht nur "ferne Länder", und nicht nur die USA, sondern auch Europa.
Wir erleben an vielen Orten eine Unterwanderung der Demokratie, Aushöhlung der
Bürgerrechte und autoritäres Gedankengut. Politik bekommt mitunter höfische Züge.
An was für ein Publikum haben Sie gedacht?
Es ist mir bei SENECA wichtig, die Zuschauer zu unterhalten. Und sie dabei zu achten: Ich leide
unter einer extremen Ermüdung was Filme angeht, die mit meinem Leben nichts mehr zu tun
haben, die zur reinen Zerstreuung gemacht werden. Im Kino möchte ich das Gefühl haben, das
Gehirn von jemand anderem begehen zu dürfen. Ich gehe ja nicht ins Kino, um meine eigenen
Vorurteile bestätigt zu sehen. Aus dieser Sehnsucht heraus sind diese beiden Filme entstanden.
Wie haben Sie Ihre Schauspieler gewählt?
Ich schaue nach Überhöhung. Ich mag Schauspieler, die komödiantisch spielen können. Ich
habe das Drehbuch, ohne dass er es wusste, für John Malkovich geschrieben. Ich habe ihn
angesprochen und er hat mir nach drei Tagen geschrieben, dass er es toll findet und dass er
sehr gerne mit dabei wäre. Das war der Grundstein.
Geraldine Chaplin ist eine der Grandes Dames des europäischen Kinos. Mit ihr bin ich
aufgewachsen und ich habe mich sehr gefreut, dass sie zugesagt hat.
Was mögen Sie an John Malkovich?
Ich mag an ihm besonders diese Vielfalt, die ich bei Schauspielern suche, und den Willen, etwas
auszuprobieren, keine Angst zu haben – John hat keine Angst vor Herausforderungen: wie er
auszusehen hat, wie er zu spielen hat, welches Image er zu erfüllen hat.
Er hat keine Probleme anzuecken oder eine Figur zu spielen, die durch den Kakao gezogen
wird. Und er hat der Figur des Seneca viel Humanität eingehaucht. Es geht einem nah, wenn er
dann tatsächlich stirbt.
Sie lassen viele deutsche Schauspieler auftreten ...
Wir haben in Deutschland grandiose Schauspieler. Wenn man sie im Theater sieht, hat es eine
Größe, eine positive Übertreibung, die mir unheimlich gut gefällt. Das überhöhte Spiel im
Theater finde ich viel interessanter als das naturalistische Spiel, das wir im deutschen Kino
sehen. Das scheint mir allzu oft eine Deckelung der Schauspieler zu sein. Ich mag es sehr gern,
wenn Schauspieler auch mal ausufernd agieren dürfen. Ich bin kein großer Freund des
Realismus. Ich empfinde das als Einschränkung und freue mich immer, mit Überhöhung zu spielen.
Foto:
©Verleih
Info:
Land / Jahr Deutschland, Marokko 2023
Länge 112 Minuten
FSK Ab 16 Jahren
Kinostart 23. März 2023
Regie Robert Schwentke
Drehbuch Robert Schwentke, Matthew Wilder
Konzeption „Thyestes“ Ersan Mondtag
Kamera Benoît Debie
Besetzung
John Malkovich (Seneca)
Tom Xander (Nero)
Geraldine Chaplin (Lucia)
Louis Hofmann (Lucilius)
Lilith Stangenberg (Paulina)
Samuel Finzi (Statius)
Mary-Louise Parker (Neros Mutter Agrippina)
Andrew Koji (Felix)
Julian Sands (Rufus)
Alexander Fehling (Decimus)
Wolfram Koch (Fabius)
Annika Meier (Cecilia)
Samia Chancrin (Balbina)