Robert Schwentke
Berlin (Weltexpresso) - SENECA ist eine Parabel über die Gefahr maßloser Macht und totalitärer Systeme. Und das Psychogramm eines Kollaborateurs und Opportunisten, der dem Tyrannen Nero zu Legitimität verhilft, im Austausch gegen unermesslichen Reichtum. Der Film ist eine Fortsetzung meiner Auseinandersetzung mit Formen des Opportunismus in totalitären Systemen, die mit DER
HAUPTMANN begann.
Ich habe das Verhältnis zwischen Seneca und Nero über mehrere Jahre hinweg recherchiert. Das Drehbuch stützt sich auf historische Quellen und auf Senecas Originaltexte. Einige Szenen stammen aus den Annalen des Tacitus, andere kommen bei Cassius Dio und Suetonius vor. Szenische Dialoge halten sich streng an Senecas schriftliche Dialoge, Briefe und Abhandlungen.
Senecas „Thyestes“ haben wir nur gekürzt, nicht verändert. Neben einer Auseinandersetzung mit der Tyrannei ist unser Film auch eine tragische Komödie über den misslungenen Versuch eines Mannes, durch Sprache und Ideen Unsterblichkeit zu erlangen, um mit seinem Ende zu beweisen: he didn’t just talk the talk, but he walked the walk. Und es geht darum, was passiert, wenn die intellektuellsten und feinfühligsten Menschen der Welt gegen echte Barbaren antreten, denen es einzig und allein darum geht, zu gewinnen. Um jeden Preis.
SENECA erinnert an Tschechows Platonow, der selbstmörderisch von einer Klippe springt und in einem Tümpel landet. Zugleich sind wir auf Buñuels Dinnerparty, die niemals endet. Der Ton des Films ist überhöht und tragisch-komisch. Nichts macht die Nacht dunkler als ein Licht, und so paart sich bei uns die größte Verzweiflung mit kindischem Verhalten, blutrünstiges mit komödiantischem – eine Tonalität, die ich auch schon bei DER HAUPTMANN benutzt habe und für die John Malkovich wie geschaffen ist.
SENECAs Sprache haben wir modernisiert und umgangssprachlicher gestaltet. Es gibt Momente, in denen er schwärmerisch-poetisch ins Jenseits abdriftet; aber es gibt andere Momente, in denen Seneca seine Zuhörer mit Haut und Haar fesselt, wie schon so oft, mittels einfacher, zugänglicher und griffiger Sprache.
Das ist die Macht der Worte. Eine Binsenweisheit des Kinos besagt, dass es im Film um Bilder, nicht ums Erklären geht. Die „cinematischste Erfahrung überhaupt“ ist eine Hitchcock-Sequenz, in der die Suggestion über die Montage von Bildern ohne jeglichen Dialog funktioniert. Seneca verwendet in SENECA mehr Worte als Hamlet in HAMLET. Er ist eine regelrechte
Sprachmaschine, eine Keimzelle der Worte. Er spricht und spricht und spricht, sogar als das Leben wortwörtlich langsam aus ihm heraussickert. Worte sind alles für ihn, sie erschaffen und zerstören die Welt, aber letztendlich bringen sie ihm unterm Strich herzlich wenig. Und genau darum geht es in SENECA: Um das, was unter dem Schlussstrich bleibt. Warum also sollten wir uns mit solch einem Charakter beschäftigen? Mich fasziniert an Seneca, dass er so sehr den heutigen Eliten ähnelt, die nicht in der Lage sind, die wiederauferstandenen
Barbaren dieser Welt zu bekämpfen. Reaktionäre, anti-demokratische, chauvinistische Auf-DenTisch-Hauer, die vorgeben, demokratische Strukturen zu respektieren, nur um sie bei erstbester Gelegenheit zu ignorieren, auszuhöhlen, zu zersetzen.
Jeder Ort, an dem dieser Nationalismus erneut auferstanden ist, hat diese impotente, wohlmeinende, belesene, selbstbewusste Elite, die von ihm überrumpelt wird.
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Info:
Land / Jahr Deutschland, Marokko 2023
Länge 112 Minuten
FSK Ab 16 Jahren
Kinostart 23. März 2023
Regie Robert Schwentke
Drehbuch Robert Schwentke, Matthew Wilder
Konzeption „Thyestes“ Ersan Mondtag
Kamera Benoît Debie
Besetzung
John Malkovich (Seneca)
Tom Xander (Nero)
Geraldine Chaplin (Lucia)
Louis Hofmann (Lucilius)
Lilith Stangenberg (Paulina)
Samuel Finzi (Statius)
Mary-Louise Parker (Neros Mutter Agrippina)
Andrew Koji (Felix)
Julian Sands (Rufus)
Alexander Fehling (Decimus)
Wolfram Koch (Fabius)
Annika Meier (Cecilia)
Samia Chancrin (Balbina)