Hanswerner Kruse
Paris (Weltexpresso) - NENEH SUPERSTAR IST EIN FILM ÜBER DAS TANZEN. ZUVOR HATTEN SIE FÜR DIE PARISER OPER EINEN KURZFILM ÜBER EINEN HIP-HOP-TÄNZER GEDREHT. WOHER KOMMT IHRE VORLIEBE FÜR DEN TANZ?
Sie ist über zwei verschiedene Wege gekommen. Ich habe den klassischen Tanz entdeckt, als ich meine Tochter zum Konservatorium begleitet und dann mit ihr Ballettaufführungen besucht habe. Aufgewachsen bin ich aber in der Hip-Hop-Welt der frühen 2000er Jahre. Die Idee, diese beiden Einflüsse zu einem Thema für einen Film zu machen, kam also ganz natürlich.
IN IHREM FILM GEHT ES VOR ALLEM UM DEN TANZ AN DER PARISER OPER. WAS HABEN SIE BEI IHREM ERSTEN MAL IN DER OPER ERLEBT?
Als Zuschauer wurde ich von meinen Emotionen mitgerissen. Als Filmemacher stellte ich fest, dass die Menschen in der Oper ein sehr entspanntes Verhältnis zu einem bestimmten Körperkanon haben. Man spricht dort über Gewicht, Hautfarbe, Formen und Linien, ohne Tabus. Ich wollte auch das zeigen. Diese Vorstellung, die sich hartnäckig hält, dass es eine Notwendigkeit gibt, körperliche Normen zu bewahren. Mein Film ist optimistisch und kein Frontalangriff auf die Institution, sondern ein Beweis für Bewunderung und Faszination.
SIE ZEIGEN EINE INSTITUTION, DIE AN SICH SELBST ZWEIFELT. DIE ZWISCHEN KONSERVATISMUS UND OFFENHEIT GEGENÜBER DER HEUTIGEN WELT HIN- UND HERGERISSEN IST. IST DIE PARISER OPER EIN SPIEGELBILD DER GESELLSCHAFT?
In gewisser Weise ja. Ich glaube, dass sich alle Institutionen heute mit dem Thema Vielfalt auseinandersetzen müssen. Der Tanz – insbesondere die Tradition des weißen Balletts – ist sehr emblematisch für eine soziale und kulturelle Uniformität. Aber er ist nicht der einzige. Einfach gesagt, charakterisiert der Tanz die Frage sehr effektiv, indem er eben den Körper als Werkzeug zur Vermittlung von Werten zur Schau stellt. Als der derzeitige Direktor der Pariser Oper, Alexander Neef, im September 2020 bei Pap Ndiaye einen Bericht über Vielfalt in Auftrag gab, wurde deutlich, dass mein Film – der schon viel früher geschrieben wurde – die Realität widerspiegelt. Vor allem in der Figur des Operndirektors, der von Cédric Kahn dargestellt wird.
Die im Film dargestellte Tanzschule öffnet sich mit Nenehs Eintritt der Vielfalt, ebenso wie die Oper, die ihre Einstellung hinterfragt und sich weiterentwickelt. Das Thema des Films ist also nicht, die Möglichkeit dieser Öffnung zu hinterfragen, sondern zu zeigen, wie jeder mit diesen modernen Entwicklungen umgeht. In diesem Sinne betrachtet der Film unsere Gesellschaft durch die Tanzschule.
WAREN IHRE VORBILDER AUS DEN USA? IN DEN ANGELSÄCHSISCHEN LÄNDERN WIRD IM TANZ SEIT LANGEM ÜBER DIE FRAGE DER VIELFALT NACHGEDACHT UND VIELE SCHWARZE TÄNZERINNEN HABEN KARRIERE GEMACHT.
Natürlich gibt es Misty Copeland, die erste Schwarze Solistin am American Ballet Theatre, aber denken wir auch an Serena Williams oder Barack Obama. In den USA, wo der Tanz eher als Unterhaltung oder sogar als Sport angesehen wird, scheint mir die Frage eine andere zu sein. Er hat dort nicht diese Berufung, eine nationale und 300 Jahre alte Tradition fortzusetzen.
IHR FILM DOKUMENTIERT SEHR GUT DEN ALLTAG IN DER TANZSCHULE DER PARISER NATIONALOPER. DIE STIMMEN UND HALTUNGEN EINIGER LEHRER, DIE GESTALTUNG DER UMKLEIDERÄUME UND DER EMPFANGSHALLE, DER KICKERTISCH ZUR ENTSPANNUNG UND SOGAR DIE ART DER JOGGINGANZÜGE DER SCHÜLER ... ALL DAS FINDET MAN IN DER TANZSCHULE IN NANTERRE IN NATURA. WAS WAREN IHRE QUELLEN?
Ich habe das Personal der Schule hyperrealistisch gezeichnet. Jeder gesprochene Satz ist ein Satz, der aus einer gründlichen Studie entnommen wurde. Auch die Offenheit des Lehrerkollegiums wird gewürdigt. Von den sechs Personen, die das Lehrerkollegium bilden, sind nur zwei gegen die Aufnahme von Neneh: Alexandre Boucher, der auf Traditionen pocht, und Madame Belage, weil sie ein Geheimnis mit der kleinen Neneh verbindet. Ich habe mir sehr viele Dokumentationen angesehen, insbesondere „Die Tanzschüler der Pariser Oper“ von Françoise Marie, die nicht nur die Schüler, sondern auch viele Unterrichtsstunden gefilmt hat. Videos von Claude Bessy (der legendären Leiterin der École de Danse von 1972 bis 2004) haben mir ebenfalls geholfen, Verhaltensweisen und Redewendungen zu erkennen. Für das Linoleum und das Parkett auf den Studioböden sind wir heimlich in die Oper gegangen, um zu sehen, wie sie aussahen, um sie nachzubilden. Ich habe auch eine soziologische Dissertation gelesen (Entrer dans la danse. L'envers du Ballet de l'Opéra de Paris von Joël Laillier) über die Rekrutierung von jungen Schülern für die Tanzschule, das war ziemlich anschaulich. Wir konnten nicht in Nanterre drehen, fanden aber die neuen Räumlichkeiten der École Centrale in Saclay, die in der gleichen Ästhetik gehalten sind. Daher diese (fast) optische Täuschung, für diejenigen, die Nanterre kennen.
WAS SIND IHRE REFERENZEN, WENN ES UM TANZFILME UND DAS EINFANGEN VON BEWEGUNGEN GEHT?
Natürlich BILLY ELLIOT, aber ich denke auch an KUNG FU PANDA und ROCKY, die Außenseiter zeigen, die ihre Kraft aus Leidenschaft und Eigensinn schöpfen, und nicht zu vergessen WHIPLASH wegen der Lehrer-Schüler-Beziehung. Was die Form betrifft, habe ich mich stark von einem gewissen amerikanischen Akademismus inspirieren lassen, insbesondere von den Arbeiten von Gordon Willis, Roger Dikins oder auch Robert Elswit.
MAÏWENN SPIELT DIE LEITERIN DER TANZSCHULE, DIE SICH HARTNÄCKIG WEIGERT, NENEH ZU AKZEPTIEREN, DOCH PLÖTZLICH NACHGIBT. WIE HABEN SIE MIT IHR AN IHRER ROLLE UND DEN SEHR GENAUEN HALTUNGEN DER TÄNZERIN GEARBEITET, DIE SIE JA SELBST NICHT IST?
Ich habe den Film für Maïwenn geschrieben. Ich habe keine andere Schauspielerin in Betracht gezogen, und ihr Film DNA hat meine Wahl bestätigt. Im Gegensatz zu dem, was ich selbst getan habe, bat ich sie, sich nicht über die Welt des Tanzes zu informieren und mir zu vertrauen. Dasselbe tat ich mit den anderen Schauspielern. Ich wollte meine Sicht der Dinge in Szene setzen. Anschließend arbeitete Maïwenn hart an sich selbst. Sie hat abgenommen, gelernt, sehr gerade zu stehen, eine gewisse Steifheit anzunehmen. Für mich steckt in dieser Figur Marianne/Myriam eine Trauerarbeit an sich selbst und eine Symbolik für die Weitergabe von Leid. In diesem Sinne sehe ich eine Verbindung zu der Figur Karaba, der bösen Zauberin aus Michel Ocelots „Kirikou und die Zauberin“. Neneh ist auch Kirikou, das Kind, das Karaba den Dorn entfernt.
WIE SIND SIE AUF OUMY BRUNI GARREL, DIE HELDIN DES FILMS, GEKOMMEN?
Ich habe in Frankreich und insbesondere in den französischen Überseegebieten gesucht, in allen französischsprachigen Ländern, in Mali, im Senegal ... Ich fand Mädchen mit Schauspielpotenzial, die aber nicht gut genug tanzten. Und da wurde mir diese andere gläserne Decke bewusst: Kleine Schwarze Mädchen geben das klassische Ballett sehr früh auf, weil sie darin keine Zukunft für sich sehen. Wir befanden uns mitten in der Corona-Pandemie, die Situation wurde immer angespannter. Und schließlich, als wir die anderen Mädchen, die hauptsächlich aus zwei Tanzkursen in Paris stammten, casteten, erzählten mir alle von der gleichen Tänzerin, die sie in Kursen und Wettbewerben getroffen hatten. Es war Oumy Bruni Garrel. Das gefilmte Interview erwies sich schnell als überzeugend. Sie war ein echter Hingucker. Sie erklärte mir auch, dass sie an den Demonstrationen zur Unterstützung von George Floyd teilgenommen hatte und dass sie manchmal darunter litt, in der Ballettwelt Schwarz zu sein. Da wurde mir klar, dass sie das Zeug dazu hatte, die Figur der Neneh zu spielen. Nachdem ich monatelang auf der ganzen Welt nach ihr gesucht hatte, wollte es die Ironie des Schicksals, dass sie mit ihren Eltern nur 200 Meter von meinem Haus entfernt wohnte.
NENEHS ELTERN GEHEN UNTERSCHIEDLICH MIT DER LEIDENSCHAFT IHRER TOCHTER UND IHREN SCHWIERIGKEITEN SICH DURCHZUSETZEN UM. SIE HABEN DAS KLISCHEE DER ÜBERFÜRSORGLICHEN „TANZ-MAMA“ DURCHBROCHEN. HIER IST ES EHER DER VATER, DER ENTHUSIASTISCH IST.
In der Tat. Im Film steht Nenehs Mutter, die noch in den 1980er Jahren verankert ist, dem Tanzen eher kritisch gegenüber. Sie ist der Ansicht, dass das klassische Ballett und die Pariser Oper nicht für ihre Tochter geeignet sind. „In deinem Alter habe ich Judo gemacht“, sagt sie zu ihr. Es war interessant, die Seite des Vaters zu zeigen, der an seine Tochter glaubt. Er ist zuversichtlicher, optimistischer. Er ist bereit, die gläserne Decke zu durchbrechen.
WAS SAGT UNS „NENEH SUPERSTAR“ ÜBER DIE STELLUNG VON MINDERHEITEN IM HEUTIGEN FRANKREICH?
Dass man heute zu seiner Andersartigkeit, seiner Persönlichkeit und seiner Einzigartigkeit stehen kann. Neneh versichert sich, verteidigt sich, plädiert für ihre Legitimität und schreckt vor nichts zurück. Ich sehe, dass dieser Aktivismus auch bei französischen Schauspielern mit Diversitätshintergrund wächst.
WAS ERWARTEN SIE VON DIESEM FILM?
Dass er eine „Generation Neneh“ hervorbringt, so wie es eine „Generation Billy Elliot“ mit vielen kleinen Jungen gab, die mit dem Tanzen angefangen haben. Ich würde mich freuen, wenn es bei vielen kleinen Schwarzen Mädchen klick machen würde und sie sich sagen würden, ja, sie können tanzen und den Durchbruch in der Welt des klassischen Balletts schaffen!
Foto:
© Mika Cotellon
Info:
„Neneh Superstar“, Frankreich (2022), 97 Minuten, ab 6 Jahre
Regie Ramzi Ben Sliuman mit Oumy Bruni Garrel, Maïwenn, Aïssa Maïga, Steve Tientcheu, Cédric Kahn