kairo1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. April 2023, Teil 15

Tarik Saleh

Stockholm (Weltexpresso) - Ich weiß natürlich, dass, wenn ich den Islam nur erwähne, alle sofort an die Nachrichten denken und an schreckliche Dinge, die überall gezeigt werden. Der Islam ist in den Nachrichten allgegenwärtig und doch wissen die meisten Menschen praktisch nichts über diese Religion, die von mehr als einer Milliarde Gläubigen praktiziert wird und Teil ihres täglichen Lebens ist.

 

Der Islam ist die jüngste Religion der Welt, er ist pragmatisch und verwendet viele Geschichten und Fabeln zu Erziehungszwecken. Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen. Im Film sprechen Ibrahim und Adam über die mythische Figur des Tariq Ibn Ziyad, jenes militärischen Anführers, der zu Beginn des 8. Jahrhunderts aufbrach, um Spanien zu erobern. Außerdem spricht Adam in seinem Gespräch mit dem blinden Scheich über die Debatte unter den Anhängern Mohammeds nach dessen Tod.

 

Oft erinnern uns diese Fabeln an die Demut vor Gott. Auch der Prediger muss daran denken, dass er nur ein Mensch ist, wie Gott selbst den Propheten erinnerte. Wir denken, dass ‚Allahu Akhbar‘ ‚Gott ist groß‘ bedeutet, aber das ist ein Irrtum. Es heißt tatsächlich: ‚Gott ist größer‘. Größer als jeder Mensch, größer als der König, der sich wie alle anderen mit dem Gesicht auf dem Boden vor ihm verneigen muss. Das ist eine revolutionäre Idee und ein befreiender Gedanke: Du bist nicht das Zentrum der Welt, das wäre viel zu schwer zu tragen.

 

Es ist eindeutig, dass mein Film keine Kritik am Islam ist. Es geht nicht darum, irgendeine dunkle Seite der Religion aufzudecken, sondern vielmehr darum, die Macht des Wissens zu begreifen. Entweder als befreiende oder als einsperrende Kraft. Ich verstehe sehr gut, warum Muslime den Darstellungen ihrer Religion im Westen misstrauisch gegenüberstehen. Ich selbst bin inmitten von bösartigen Vorurteilen und Versuchen aufgewachsen, uns als Monster darzustellen. Dennoch glaube ich nicht, dass der Islam verteidigt werden muss. Ich habe noch nie einen Film über den Islam gesehen, der einfach nur ein Film ist: Es gab immer eine Meinung, dafür oder dagegen... Ich dagegen wollte einen Film ohne Wertung und Scheuklappen inszenieren. Ich war schon immer von der Azhar-Universität und ihrer Geschichte fasziniert und möchte das Publikum einfach auf eine Reise mitnehmen.



Colonel Ibrahim

In allen staatlichen Institutionen – zum Beispiel im schwedischen Fernsehen – findet man diesen erstaunlichen Typ Mann, der alle Führungswechsel mitgemacht und irgendwie überstanden hat und dem es sogar gelungen ist, sich zu verstecken, als man die alten Mitarbeiter entlassen wollte. Ein Typ, von dem man nicht weiß, wie man ihn loswerden kann, der zu viele Dinge weiß und der behauptet, dass die Institution seinen Weggang nicht überleben wird. Als so jemanden habe ich Ibrahim gesehen. Er war schon unter Mubarak da, er wurde wahrscheinlich von den Rumänen der Securitate ausgebildet, zu der Zeit, als Ägypten Geschäfte mit dem Ostblock machte. Sein Vorgesetzter wurde von den Amerikanern, also der CIA, ausgebildet und ist viel brutaler. Ägypten hat sich eben immer mit dem Meistbietenden verbündet. Fares Fares hat den Look für die Figur selbst entworfen, inspiriert, wie er mir sagte, von einem seiner Onkel. Ich fragte ihn, ob er wirklich so weit gehen wolle, aber dann gefiel mir das Ergebnis ausgesprochen gut. Wenn man Ibrahim sieht, stellt man sich sofort vor, dass er hohen Blutdruck und vielleicht eine Bypass-Operation hinter sich hat. Wie Adam wird auch Ibrahim von allen unterschätzt. Er sieht aus wie jemand, der nicht weiß, was er tut. Aber er versteht die Strategie des blinden Scheichs besser als jeder andere, und er ist bereit, ihn gewähren zu lassen, denn tief in seinem Inneren könnte dies seine letzte Mission sein. Natürlich sagt er das nicht... Ich bin ein Fan von John Le Carré, ich mag es, wenn Figuren die wahren Motive ihres Handelns verbergen.



Machtstrukturen innerhalb von Organisationen

Dies ist also eine Geschichte über Macht und Autorität, nicht speziell über den Islam, denn der Islam unterscheidet sich im Grunde nicht von anderen Systemen. Ob politisch oder religiös, solche Systeme bestehen aus Gesetzen, die alles regeln, aber auch leicht von den Machthabern geändert und gebrochen werden können, um ihre eigenen Interessen zu befriedigen oder sogar ihre Macht zu stärken. Das ist etwas, das mich sehr interessiert; ein Thema, das in allen meinen Filmen wiederkehrt und das zweifellos auf meine eigenen Probleme mit Autorität zurückzuführen ist. Als ich DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG schrieb, gab es einen Skandal in der Schwedischen Akademie, die unter anderem den Nobelpreis für Literatur vergibt. Das hat mich sehr interessiert, weil es sich um eine Institution handelt, in der eine kleine Gruppe von Menschen immense Macht hat: die Macht, den besten Schriftsteller der Welt auszuwählen. Leider haben diese Leute diese Macht missbraucht und dachten, sie stünden über dem Gesetz. Die Menschen begannen, sie zu kritisieren – und schon bald stand die Institution kurz vor dem Zusammenbruch. Die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit reagierte, inspirierte mich dazu, mir die Situation in Azhar auszumalen.

 

Politik in Ägypten

Die politischen Ereignisse der vergangenen Jahre in Ägypten sind eine weitere Quelle der Inspiration. Jene ägyptische Revolution, die Feldmarschall Sisi an die Macht brachte, wurde als Militärputsch angesehen, obwohl sie eigentlich vom Volk unterstützt wurde. Nach seiner Ernennung zum Präsidenten beschloss Sisi, der Ägypten seit acht Jahren regiert, sich direkt mit der Azhar-Institution auseinanderzusetzen. Seine erste Entscheidung war, die Universität am Geburtstag des Propheten zu besuchen. In seiner Rede sagte er im Wesentlichen: „Entweder ihr tragt zum Problem bei oder ihr tragt zur Lösung bei. Wir müssen den Terrorismus bekämpfen, was ihr bisher nicht getan haben. In eurer Institution gibt es sogar Bücher, die den Terrorismus fördern, und das muss aufhören.“ 

 

Mit dieser Rede wollte er den Mitgliedern von Azhar sagen: „Ich bin der neue Führer Ägyptens, ihr solltet euch besser fügen.“ Er hatte gerade die Muslimbruderschaft, eine Sekte innerhalb des Islams, aufgelöst und wollte mit Nachdruck sagen: „Das ist das heutige Ägypten.“ In Ägypten gibt es Christen und Muslime, es gibt religiöse Minderheiten und alle leben zusammen. Sie alle sind vor allem und in erster Linie Ägypter, so wie die Azhar-Universität ägyptisch ist. Zunächst schien die Azhar-Führung das Spiel mitspielen zu wollen, doch dann bat Sisi um Hilfe bei einigen Verfassungsfragen. Der Großimam Sheikh el-Tayeb, ein sehr intelligenter Mann, antwortete: „Ich bin nur der Großimam, mein einziges Privileg ist es, Empfehlungen aus dem Koran zu geben. Sie, Sisi, machen das Gesetz und ich mische mich nicht ein.“ Der Präsident wollte, dass der Koran seine Gesetzesvorschläge unterstützt. Der Großimam entgegnete, dass er das nicht könne, weil es unmöglich sei, den Koran zu ändern. Der Konflikt zwischen den beiden Führern wurde öffentlich, und der Imam gewann weltweit an Popularität, da er dem Tyrannen gegenüberstand, den niemand herauszufordern wagte. Der Konflikt, den ich mir in meinem Drehbuch ausgemalt hatte, fand also auch im wirklichen Leben statt. 

 

Ich interessiere mich für das Genrekino. Das Genre ist eine Art Vertrag zwischen dem Regisseur und dem Publikum: Wenn ich einen Thriller ankündige, wird das Publikum bestimmte Erwartungen haben. Aber ich möchte diese Erwartungen untergraben, die Klischees des Genres durch den Einbruch der Realität zerstören. Denn dadurch verliere ich die Kontrolle über die Geschichte, und das ist ein Gefühl, das ich genieße. Ich glaube, jeder Regisseur ist auf der Suche nach diesem Gefühl, nach der Art und Weise, wie die Figuren in seinem Film die Kontrolle über die Geschichte übernehmen und beschließen, ihr eigenes Leben zu leben. Manchmal macht mir das Angst, aber um ehrlich zu sein, ist das der Grund, warum ich Filme mache: um meine Träume wahr werden zu lassen.

 

Foto:
©Verleih

Info:
Regie und Drehbuch. Tarik Saleh

Darsteller und Rolle 

Tawfeek Barhom (Adam) 

Fares Fares (Ibrahim) 12++++

Mohammad Bakri (General Al Sakran) 13

Makram J. Khoury (Sheikh Negm) 13

Sherwan Haji (Soliman) 14

Mehdi Dehbi (Zizo)