Martin Kudlac
Prag (Weltexpresso) - Sie haben mehrere Jahre an VICTIM gearbeitet. Könnten Sie die zentrale Erzählung – eine einzige Lüge zwischen Mutter und Sohn gerät außer Kontrolle und erzeugt einen Schneeballeffekt innerhalb der Gesellschaft – näher ausführen?
Die Geschichte ist mir in meinem zweiten Jahr an der Filmschule eingefallen, als ich meinen Kurzfilm Fear in San Sebastian vorstellte. Am Anfang stand die Idee, dass jemand überfallen wurde, aber wir nicht sicher sein können, ob sich die Ereignisse so zugetragen haben wie das Opfer es behauptet. Und die Geschichte sollte aus der Perspektive einer anderen Figur erzählt werden. Als Tomáš Hrubý von der tschechischen Firma nutprodukce das Projekt übernahm, hatte er die Idee, die Hauptfiguren zu Migranten in einem fremden Land zu machen. Das öffnete die Tür für die Konfrontation einer Minderheit mit einer anderen Minderheit. Dieser Prozess, in dessen Verlauf der Geschichte immer wieder neue
Ebenen hinzugefügt wurden, verlief schrittweise, Die ursprüngliche Idee war viel einfacher als die finale Kinofassung. Ich wollte einen Film über eine Lüge machen, die vielleicht gar keine Lüge ist.
Hatten Sie erwogen, das ursprüngliche Drehbuch angesichts der russischen Invasion in die Ukraine und deren Folgen zu ändern?
Wir haben viel darüber gesprochen. Der Krieg hat VICTIM zu einem semi-historischen Film gemacht. Letztendlich beschlossen wir, dieses Thema nicht einzubeziehen, da die Story wenig Bezug zur Ukraine hat und von Menschen handelt, die in der Tschechischen Republik leben und zufällig ukrainische Pässe haben. Die Ukraine als Land spielt in dem Film keine Rolle. Wichtig ist jedoch, dass die Protagonisten sich nicht als Tschechen fühlen und als Ausländer betrachtet werden.
Zwei Minderheiten stehen im Mittelpunkt der Erzählung: Ukrainer und Rumänen. Die Situation der Roma in Mitteleuropa wurde bereits in lokalen Romanen und Dokumentarfilmen thematisiert, allerdings wurden sie nicht einer anderen Minderheit, sondern stets der Mehrheitsgesellschaft gegenübergestellt. Warum haben Sie sich entschieden, die Dynamik innerhalb zweier Minderheiten zu untersuchen?
Wir haben Romani gewählt, weil es zahlreiche Fälle gab, in denen bei Angriffen Romani die Schuld gegeben wurde. Da Romani in unserem Land aufgrund gesellschaftlicher Vorurteile als aggressiver wahrgenommen werden, haben wir beschlossen, sie in Opposition zu den ukrainischen Figuren zu stellen. Die Menschen neigen dazu, eher den Schwächeren als den Stärkeren zu beschuldigen. In der Regel sind die Roma infolge sozialer Ungerechtigkeit schwächer und nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Ich habe die Vorurteile ein wenig genutzt, um das Seherlebnis so zu beeinflussen, dass die Zuschauer denken, Romani könnten den Jungen verprügelt haben. In der Mitte des Films wollte ich, dass die Zuschauer wie Irina fühlen und eine Ahnung haben, dass sie eventuell betrogen wurden. Von Beginn des Projekts an ging es bei der Auslotung der Machtdynamik nicht um eine Konfrontation zwischen zwei Minderheiten, sondern der Vorfall bezieht sich eher auf die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft.
Ausgelöst durch den zentralen Vorfall taucht eine weitere Minderheit auf, die nicht ethisch, sondern politisch und ideologisch gekennzeichnet ist: Rechtsextremisten.
Ein sehr aktuelles Motiv, denn nicht nur die COVID-Krise hat die Gesellschaft extrem polarisiert. Haben Sie für den Film über Rechtsextremisten recherchiert und warum haben Sie sich entschieden, im Film alles auf der lokalen Ebene zu belassen und nicht auf die höhere Politik zu verweisen?
Gemeinsam mit Jakub Medvecky haben wir uns Jan Geberts Dokumentarfilm When the War über die slowakische paramilitärische Gruppe Slovak Recruits angesehen. Der Protagonist Peter Svrcek hat uns fasziniert. Wir dachten, dass es stimmiger wäre, so einen Charakter statt eines Skinheads zu zeigen. Uns hat gefallen, wie subtil er mit der Politik umgeht. Man könnte denken, dass er seine persönliche Überzeugung auslebt, aber dann erkennt man allmählich seine politische Agenda. Als wir darüber sprachen, wer die Rolle des rechten Aktivisten in unserem Film spielen sollte, dachte ich sofort an Viktor Zavadil, der die Hauptrolle des Jan Palach in dem gleichnamigen Film spielte. Seine Figur geht sehr weltmännisch mit Rassismus um. Die rechte Weltanschauung wird nur durch diese, von Viktor Zavadil porträtierte Nebenfigur repräsentiert, die für einen Teil der Gesellschaft steht, der versucht, die Situation auszunutzen. Das ist keine Schlüsselfigur, da wir den Film nicht zu politisch machen wollten.
Ihre vorherigen Arbeiten setzten sich ebenfalls mit sozialen Problemen auseinander. Sie scheinen sich für die Analyse von Moral, Bewusstsein, Individualität und der Gesellschaft zu interessieren.
Ja, da haben Sie recht. Meine Geschichten gingen genau auf diese Themen ein. Außerdem wollten wir, gemeinsam mit dem Drehbuchautor Jakub Medvecký, die Figuren besser kennenlernen und herausfordern, bevor wir sie schließlich mit einem moralischen Dilemma konfrontieren. Etwas Ähnliches habe ich in Suspicion und Atlantis, 2003 gemacht. Ich halte das für eine gute Methode, um eine Geschichte zu erzählen: man verbringt etwas Zeit mit der Figur, lernt sie besser kennen, läßt die Zuschauer die Figur so gut wie möglich verstehen und erst dann wird die Figur mit einem moralischen Dilemma konfrontiert, das im Grunde jeder im wirklichen Leben erfahren könnte. Und dann lassen wir die Zuschauer über die Entscheidung der Figur nachdenken.
Sie sagten, Sie wollten Sozialdrama mit Genre verbinden. Wie sind Sie an die Sache herangegangen? Was hat Sie an der Idee gereizt, ein Genre in den Film einzubauen?
Die Beobachtung wie die Hauptfigur durch nächtliches Türklingeln oder Zerstörungen an ihrem Auto belästigt wird, stammt sozusagen aus dem Genre-Werkzeugkasten. Als die Hauptfigur psychologischem Druck ausgesetzt wird, gehören die Genre-Aspekte zum organischen Teil der Geschichte. Wir wussten von Anfang an, dass wir keinen politischen Film machen und auch, dass wir Irina nicht jede zweite Szene neben ihrem bettlägerigen Sohn sitzen lassen wollten. Wir haben uns entschieden, eine hybride Geschichte zu erzählen und einen unterhaltsamen, fesselnden Film zu machen, den das Publikum genießen kann.
Wenn Sie sagen, Sie hätten das Drehbuch freier interpretiert, heißt das, dass Sie auch beim Regieführen lockerer war?
Nicht ganz. Jede Aufnahme dauert durchschnittlich drei Minuten und wir haben 25-30 Takes gemacht. Wir brauchten nur einen Take, aber der musste perfekt sein und es dauerte einige Zeit, bis sich die Schauspieler an diese Vorgehensweise gewöhnt hatten. In einigen Szenen war es große Mathematik: am Set mussten wir vor allem die Kameralogistik und die Navigation der Kamera durch den Raum planen. Eine der schwierigsten Szenen war das Geständnis der Protagonistin gegenüber ihrer Freundin. Die Szene dauert sechs Minuten und wir haben sie einen halben Tag geprobt. Eines hat uns wirklich geholfen: Indem meine Produzenten und ich als Stand-Ins für die Figuren agierten, haben wir den ganzen Film vorher sozusagen Probe gedreht. So hatten wir es auch für die Miniserie Suspicion gemacht, da die Dreharbeiten aufgrund von COVID verschoben wurden. Als wir mit den eigentlichen Dreharbeiten begannen, wusste der Kameramann schon, wie er jede Szene ausleuchten musste.
Die Miniserie „Suspicion“ und VICTIM scheinen in dasselbe filmische Universum zu gehören, nicht nur wegen der Hauptgeschichte, sondern auch wegen der Ästhetik. Die Krankenhausszenen in beiden Filmen könnten in demselben Gebäude spielen. Das liegt zum Teil am Setdesign, an der Beleuchtung und an der Kameraführung, da Sie bei beiden Filmen mit dem Kameramann Adam Mach und der Architektin Stella Šonková zusammengearbeitet haben.
Wie kam es zu dieser Konstellation und warum arbeiten Sie gerne mit Adam Mach, der auch Ihre Kurzfilme, darunter „Atlantis, 2003“, gedreht hat?
Beide Geschichten spielen in einer tschechischen Kleinstadt. Alles andere ist Zufall. Außerdem wollten wir das Umfeld von Suspicion etwas leichter gestalten, während wir uns bei VICTIM für ein raueres Milieu entschieden. Aber die Geschichte würde nicht funktionierten, spielte sie in Prag. Die Kleinstadt hat ihre eigenen Regeln. Wir haben uns immer intensiv mit dem Kameramann Adam Mach über das Projekt und die filmische Vision auseinandergesetzt. Wir tauschten uns über Bezugspunkte und Filme aus, machten gemeinsam das Location-Scouting und überlegten schon vor Ort, welche Einstellungen, zum Beispiel eine dynamische oder ein feste, am besten wären und ob wir eine Handkamera oder eine Steadycam nutzen könnten. Das haben wir immer gemeinsam herausgefunden. Auch die Art und Weise wie Jakub Medvecky das Drehbuch geschrieben hatte, machte die visuelle Umsetzung einfach.
Die Ästhetik und Kinematographie von VICTIM ähnelt Myroslav Slaboshpytskyis ukrainischen Drama „The Tribe“. War der Film inspirierend oder hatte irgendeinen Einfluss?
Ich mag The Tribe und er gehört zu den filmischen Referenzen über die wir mit dem Kameramann sprachen. Aber The Tribe verwendet mehr weite Einstellungen und die Kamera schwebt, da sie eine Steadycam verwendeten, während wir eine dynamischere Kameraführung haben wollten. Uns schwebte keine explizite filmische Referenz vor. Allerdings weiß ich, dass Adam Mach Cristian Mungius 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage vor den Dreharbeiten zweimal gesehen hatte. Wir verwendeten häufig Einstellungen, die die Protagonisten von hinten zeigten. Hier ging es vor allem um technische Details: wie dreht man sich um die Figur oder filmt eine Figur, die sich vor der Kamera zurückzieht.
Ihre früheren Arbeiten und ganz offensichtlich auch VICTIM sind geprägt von Ihrem unverkennbaren Stil, den Feinfühligkeit, Authentizität und sozialer Realismus auszeichnet. Warum bevorzugen Sie einen fast dokumentarischen Stil ohne visuellen Manierismus?
In diesem Fall wollten wir realistisches Bildmaterial verwenden. Wir wollten uns ganz auf die Protagonistin konzentrieren, so haben wir eine Überästhetisierung vermieden. Als wir an Suspicion gearbeitet haben, haben wir die Schwerpunkte sowohl auf die Bilder als auch auf die Geschichte gelegt. In unserem nächsten Film Cowgirl wollen wir uns mehr auf das Milieu konzentrieren. So unterschiedlich ist die Ästhetik des Geschichtenerzählens bei jedem Projekt.
VICTIM und Suspicion zeichnen sich durch ästhetischen Minimalismus aus.Warum neigen Sie zu diesem visuellen Ansatz?
Ich mag diesen Ansatz, weil er nicht die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Kamera weiß, was für die jeweilige Szene wirklich wichtig ist. Im Fall von VICTIM mussten wir darauf achten, die Aufmerksamkeit des Publikums nicht in die Irre zu führen, damit es sich nicht in der Handlung verliert.
Foto:
©Verleih
Info:Slowakische Republik, Tschechische Republik, Deutschland 2022 / 91 Minuten /
Originalfassung (Ukrainisch/Tschechisch) mit deutschen Untertiteln und
teilsynchronisierte Fassung / Originaltitel: Obeťb
Stab
Regie. MICHAL BLAŠKO
Drehbuch JAKUB MEDVECKÝ
Darsteller
Irina VITA SMACHELYUK
Igor GLEB KUCHUK
Officer Novotný IGOR CHMELA
Selský VIKTOR ZAVADIL
Irinas Freundin INNA ZHULINA
Abdruck aus dem Presseheft