Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - DIE LAUBE. Die Laube ist Leons Bereich, den hat er markiert. Und gleichzeitig ist die Laube eine Bühne, auf der er sich präsentiert. Er spielt Schriftsteller, er simuliert Arbeit, er ist auf seiner eigenen Bühne. Aber diese Bühne hat keine Zuschauer. Die anderen, die auf der anderen Seite sind, am Tisch vor dem Haus, die Spaß haben und lachen und ein Dach reparieren, die sind viel interessanter als er. Es war mir wichtig, dass er da, wo er sitzt, selbst eine Zuschauerposition hat. Das Haus, die Wiese, die Scheune, das Vordach sind die andere Bühne: Da können andere anständig miteinander umgehen, die können Spaß haben und am Leben teilhaben, sie können die Welt anfassen und verändern.
Wie der Thomas Schubert das spielt, mit diesem Blick, das ist fantastisch ... Er ist ja empört, das zu sehen, und gleichzeitig würde er selbst so gerne in dieser Welt da draußen sein. Diese furchtbare Position, in die er mit seinem zweiten Roman geraten ist, ist etwas, was horrormäßig sein kann, aber es hat auch etwas Komisches.
Warum ist der zweite Roman so schwierig?
Der zweite Roman ist etwas, wo sich vieles entscheidet: Hast du eine Identität? Hast du eine Leidenschaft? Bist du Schriftsteller oder war das erste Buch eine Eintagsfliege? Das ist beim Film wahrscheinlich nicht anders. Mein zweiter Film war im Grunde genommen Leons Roman ähnlich. Mein erster Film, Pilotinnen, war erfolgreich, und ich hatte sofort die Möglichkeit, den nächsten Film zu machen. Und mir ging es dann ähnlich wie dem Leon, ich hatte oft das Gefühl, dass ich das spiele, dass ich Regisseur spiele. Die Geschichte war voller Zitate aus dem Film Noir, das war der Film
eines jungen Mannes, der sagen wollte: „Hey, ich bin Cineast, ich habe echt Ahnung.“ Das hat die Geschichte erdrückt. Der Film hieß Cuba Libre, und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Titel von Leons gescheitertem Roman, Club Sandwich, ziemlich ähnlich klingt.
DIE GRUPPE
Der Leon telefoniert in seiner Laube mit seinem Verleger, mit einem Tennisball in der Hand, den er immer hochwirft wie Jack Nicholson in Shining. Und wir sehen, wie vor dem Haus gerade ein Tisch gedeckt wird, wie Felix und Nadja sich miteinander unterhalten, wie sie sich bewegen, wie sie da beide fast tanzen am Tisch. Diese Szene hat großen Spaß gemacht. Wie sie den Devid begrüßen, wie sie sich umarmen und sich freuen ... Das hat sich durch den ganzen Film gezogen. Diese Dinge, die mehr im Hintergrund passieren, sind im Drehbuch ja nicht ausgeschrieben, das haben die
Schauspieler selber gemacht. Die haben sich in ihren Figuren mit einer Leichtigkeit und einem Spaß miteinander bewegt, wie ich das so vorher noch nicht erlebt hatte.
Wie hat sich diese Selbstverständlichkeit, diese Leichtigkeit entwickelt?
Drei Wochen vor Drehbeginn haben wir das Haus besucht, mit den vier jungen Schauspielern und dem Matthias Brandt. Alle haben sich das Haus angeguckt, sind herumgegangen, und dann hatten wir noch zwei Stunden Zeit, bis wir abgeholt wurden. Da waren Tische aufgebaut, es gab zu essen und zu trinken, und die vier jungen Schauspieler setzten sich an den einen Tisch und Matthias Brandt und ich an den anderen. Die vier fingen plötzlich an, Karten zu spielen, und irgendwann haben Matthias und ich zu denen rübergesehen und gesehen, was für einen Spaß die hatten. In dem Moment sagte der Matthias: „Ich glaube, das wird wirklich toll.“ Und ich dachte dasselbe auch. Weil die untereinander schon eine Sprache hatten, nicht nur eine verbale Sprache, sondern auch eine körperliche Sprache. Das war alles
schon da.
DER BLAUE VORHANG
Ich habe in der Zeit, als ich mit Corona im Bett lag und die Idee zu diesem Film bekam, viele Filme von Eric Rohmer angeschaut. Der hat immer wieder eine ungeheure Geschwindigkeit in seinen Filmen: Jemand steigt ins Auto, Schnitt, Paris, Schnitt, Einfahrt, Aussteigen aus dem Auto, klack, klack. Das wiederholt er, und dadurch bekommt der Film eine Strukturierung. Und so war dieser blaue Vorhang auch gedacht, als Struktur, erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag. Aber gleichzeitig müssen diese Bilder, wie bei Rohmer, eine Schönheit haben, etwas Eigenes. Das Licht ändert sich,
der Wind ändert sich, das Gefühl einer Sommernacht. Dieser Zustand ist für mich immer ein Glückszustand. Wir haben den Film mit einem Zustand des Halbschlafs angefangen, das Driften durch den Wald, die Musik, und das zieht sich
durch den ganzen Film. Leon wacht nachts in einem fremden Haus auf, er sieht die Schönheit des Mondlichtes und der Vorhänge, aber gleichzeitig muss er anderen zuhören, die gerade wahnsinnig Spaß haben und Musik hören. Das verstärkt sein Gefühl des Ausgeschlossenseins. Er schließt sich aus der Welt aus, weil er glaubt, die Distanz gehört zum Schriftstellersein. Er hat noch nicht begriffen, dass das keine Erzählposition ist.
DIE EISVERKÄUFERIN
Irgendwann in all den Jahren, in denen wir zusammen geschrieben haben, ist Harun Farocki aufgefallen, dass in den Filmen, die wir lieben, die Orte eigentlich immer zweimal auftauchen. Und zwischen dem ersten und dem zweiten Auftauchen eines Ortes ist etwas geschehen. Leon ist an derselben Stelle, an der er mit Felix war und gehört hat, dass die Wälder brennen. Und jetzt ist da die junge Frau, Nadja, die bisher ohne Biografie für ihn war: Sie ist Eisverkäuferin, sie lädt ihn ein, und sie kriegt eine Abfuhr nach der anderen. Und trotzdem lacht sie ihn an. Für mich ist dieser Film im
Grunde genommen ein Film von unschuldigen Menschen. Und diese Kinder hier, die SchlumpfEis bestellen, die Bewegung auf der Promenade, die Leute und das Meer und der Sommer schaffen eine Atmosphäre, in der ein junger Mann und eine junge Frau versuchen, in einen Kontakt zueinander zu kommen. Wenn sie zum Abschied dieses Victory-Zeichen macht und er darauf reagiert, wirkt er noch unschuldiger und zerbrechlicher und komischer. Er wird selbst zum Kind. Das ist vielleicht seine Lebensrettung, wieder Kind zu werden. Der ganze Film ist eigentlich kein Entwicklungsroman von jemanden, der jemand wird, sondern jemand, der wieder etwas verlieren muss.
Ist der Druck, etwas darstellen zu müssen, heute größer als früher?
Heute ist alles sehr individualistisch, finde ich. Die 60er, 70er oder 80er Jahre waren vielleicht so etwas wie die Jahre des gemeinsamen Ausbrechens aus dem gesellschaftlichen Druck. Aber heute musst du schon mit 22 Jahren wissen, wer du bist. In den Universitäten gibt es keine Lehre mehr, sondern nur noch Schule. Du darfst dich nicht verschwenden, du kannst nicht irgendwohin driften. Und das tun die drei anderen. Die verschwenden sich und infizieren später auch den Helmut, den Verleger. Da steckt vielleicht eine Utopie drin. Und vielleicht ist das auch das Interesse von Nadja an Leon: Sie will ihn gerne dazu bringen, sich zu verschwenden. Das ist dann nämlich die Liebe: Wenn
du dich verschwenden kannst.
DAS MEER
Diese Einstellung ist so ähnlich wie der blaue Vorhang. Es gibt Dinge, die für sich sind. Der Strauch links im Bild ist eine kleine Reminiszenz an Nosferatu: Da gibt es den Friedhof am Meer, alles ist schwer und brutal, die Pest und der Tod … Und auf einmal sieht man das Meer und die Dünen, und man denkt, es ist möglich, Luft zu bekommen. Und Leon, der dem Leben abhanden kommt und dem das Leben abhanden gekommen ist, sitzt auf einer Bank am Meer, er sieht das wunderbare, einfache Meer und nimmt sich seinen Rucksack vor die Brust, wie einen Schutzschild. Er schützt sich vor
der Einfachheit und Schönheit und Klarheit der Welt. Und dann schläft er ein, wie ein Kind ...
Bis er wieder aus dem Schlaf gerissen wird, von einer Fahrradklingel.
Ich habe bei Menschen, die man schlafend zeigt und die geweckt werden, in den guten Filmen immer das Gefühl, dass das, was wir dann sehen, eigentlich die Verlängerung ihres Traums ist. Am Anfang wacht Leon im Auto auf, und alles, was wir dann sehen, der Wald, das Haus, die Lichtung, könnte Teil des Traums sein. Wenn jetzt Nadja vor ihm steht, dann könnte sie auch die Verlängerung eines Traums sein, der ihm aber entgleitet. Wir hatten in dieser Szene Glück, dass der Wind an diesem Tag so stark war. Man hat das Gefühl, die Natur treibt die beiden in die Begegnung.
DER ASRA
Paula wollte das Gedicht nicht vorher proben. Sie sagte, wenn ich es probe, dann mache ich es kaputt, dann klingt es wie ein Gedicht, das von einer Schauspielerin vorgetragen wird. Und diese Gegenwärtigkeit spürt man in der ganzen Szene. Wir haben das nur aus zwei, drei Positionen gedreht, jeweils nur einmal. Und der Matthias Brandt, der Enno Trebs und der Langston Uibel waren von dem Gedicht dann wirklich angefasst.
Man sieht, dass da ein Widerstand bei ihr ist, das Gedicht vorzutragen, wie eine Scham. Das hat Paula fantastisch gemacht, dieser Widerstand und gleichzeitig die Schönheit des Gedichtes … Der einzige, der nicht zuhört, ist Leon, der sich von der ersten Sekunde an zusammenreißt. Das ist auch etwas, was den Tisch unter Spannung setzt. Und
wenn sie das Gedicht zum zweiten Mal vorträgt, macht Paula etwas Überraschendes: Nadja widmet das Gedicht ihm. Sie guckt ihn immer wieder an, als wollte sie ihm sagen: „Du bist der Asra. Du könntest der Asra sein.“
Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Und mein Stamm sind jene Asra, / welche sterben, wenn sie lieben“ – eigentlich schon ein Verweis auf den späteren Tod der beiden Liebenden Felix und Devid.
Der Godard hat einmal gesagt, dass das Kino dem Tod bei der Arbeit zuschaut, so wie jede Fotografie dem Tod bei der Arbeit zuschaut: In dem Moment, in dem man fotografiert wird, ist dieser Moment schon Vergangenheit. Ich finde aber, das Kino trotzt dem Tod die Gegenwart ab. Die Wälder brennen, zwei junge Menschen, die in den Flammen umkommen … und trotzdem gibt es in dem Gedicht von Heine, in dem die Liebe und der Tod so ineinander verschränkt sind, eine
wahnsinnige Lebendigkeit. Darum geht es im Kino, finde ich: dem Tod das abzutrotzen.
DAS FEUER
Wenn wir die Geschichte eines Schriftstellers erzählen und die Welt mit seinen Augen sehen, dann müssen auch die Feuer literarisch sein. Als ob er sie fast ein bisschen mit erzeugt, als ob sie Teil seines Romans sind. Im Wald sieht er den sterbenden Frischling, er schaut hoch und die Flammen sind da. Und hier steht er vor dem Meer, er ist erschüttert, und das Feuer ist da. So, als ob die Flammenwand aus ihm herauskommt, also als ob das alles auch ein Erinnerungsbild von ihm ist.
Das Feuer ist in Ihrem Film von Anfang an als eher unterschwellige Bedrohung da.
Ich wollte diese Gefahr im Film nicht künstlich herstellen, die Hitze, schwitzende Gesichter wie in einem Italowestern ... Ich fand es viel besser, dass das wie so eine Glocke aus Dürre über der ganzen Szene hängt. Das Interessante ist ja, dass da alles so grün aussieht, obwohl es in den sieben Wochen Drehzeit kein einziges Mal geregnet hat. Und trotzdem gab es da etliche Waldbrände, weil alles so ausgetrocknet war. Den verbrannten Wald haben wir in der Nähe von Treuenbrietzen aufgenommen, da ist die Glut, die Hitze tief in den Boden hineingegangen. Es war gespenstisch. Ein verbrannter Wald hat keine Geräusche mehr, kein Wind in den Blättern, keine Vögel, keine Insekten, alles weg.
DIE LIEBENDEN VON POMPEJI
Der Ausbruch des Vesuvs ist eine Naturkatastrophe, für die die Menschen nichts können. Aber den Waldbrand zweitausend Jahre später haben wir verursacht. Beides führt zu Liebenden im Tod, aber die Liebenden von Pompeji sind überrascht worden, und die Liebenden von heute sind Opfer des von den Menschen gemachten Klimawandels, der die Leben und die Gefühle der jungen Menschen in einem Maß beeinflussen wird, wie wir uns das wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können.
In Ihrem Film ist die Tragödie Teil einer Erzählung, eines Textes.
Wir hatten diesen Text mit Matthias Brandt schon am zweiten oder dritten Drehtag aufgenommen, und meine Idee war ursprünglich, diesen Text abzuspielen, während wir diese Szenen mit Paula und Thomas drehen. Aber die beiden wollten den Text nur einmal intensiv hören, wie Musik, und dann die Szenen spielen. Und dadurch, dass sie den Text vorher gehört hatten, waren sie schon nicht mehr in der Gegenwart der Szenen, sondern schon in etwas Verlorenem. Ich habe das Gefühl, dass der Film all das, was wir da gerade sehen, in eine Vergangenheitsform bringt, um es erzählbar zu machen. Es ist wie eine Abspaltung. Eine traumatische Erfahrung hat jemanden dazu gebracht, ein Buch zu schreiben. Und dieses Buch jetzt vorgelesen zu bekommen, ist für ihn und für uns als Zuschauer vielleicht wie eine Befreiung. In Roter Himmel sehen wir an dieser Stelle, mit der Erzählerstimme und der Musik, den Leon zum ersten Mal wirklich von außen, weil er sich selber von außen sieht. Jetzt steht er ohne Bühne da. Und dem setzt er sich aus. Er ist Mensch geworden.
ERZÄHLUNGEN
Ich kann keine Filme mit Thema machen, das geht nicht. Ich kann nur etwas erzählen. Und in diesen Erzählungen verfangen sich Themen, manchmal bewusst, manchmal wie von selbst und manchmal auch nicht gewollt. Das, was in dem Film zu sehen ist, ist nicht die Erinnerung an meine eigenen Sommerurlaube. Die Welt hat sich verändert. Und wenn Fridays for Future uns daran erinnern, dass wir uns anpassen müssen, um weitermachen zu können, dann schaffen die etwas, was ich sehr interessant finde, nämlich ein Gemeinschaftsgefühl in der Anpassung. Das ist ein großer Angriff auf das, was uns die letzten 30, 40 Jahre erzählt worden ist, wie wir zu leben haben. Dafür habe ich eine ungeheure Sympathie. Ich glaube, dass man in den Resten von dem, was die Eltern hinterlassen haben, vielleicht noch seine Sommer verbringen kann, aber dass ein Wandel ansteht. Diese Generation braucht ihre Geschichten, ihre Erzählungen, ihre Bilder, ihre Gefühle. Und die produzieren die gerade. Das hat mich interessiert. Der Roman, den Leon zum Schluss hinbekommt, ist der Roman von etwas, was er erlebt hat. In diesem Moment kann er einen Text schreiben, weil er die Welt sieht, weil er ein Teil von ihr ist. Und wenn wir die ganze Zeit spüren, dass dieser Sommer auf eine bestimmte Art der letzte sein könnte, dann ist die Frage: Was machen wir jetzt? Wie kommen wir zu einer Erzählung?
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Regie Christian Petzold
Buch Christian Petzold
Kamera Hans Fromm
Darsteller
Thomas Schubert (Leon)
Paula Beer (Nadja)
Langston Uibel (Felix)
Enno Trebs (Devid)
Matthias Brandt (Helmut)
Abdruck aus dem Presseheft