emilie Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. April 2023, Teil 8

Redaktion

Paris (Weltexpresso) –  Wie wurde dieser Film entwickelt?

Nach meinem letzten Spielfilm (MON MAÎTRE D’ÉCOLE) wollte ich das Thema „Transmission“ und den Begriff "Berufung" und seine Bedeutung für Schulkinder auf der ganzen Welt vertiefen. Ich dachte: Wenn Jean-Michel Burel, der Held aus MON MAÎTRE D’ÉCOLE, das Schicksal in andere Bahnen gelenkt hat, wie verhält es sich dann mit Lehrer:innen, die irgendwo am Ende der Welt unterrichten? Welchen Einfluss haben sie auf ihre Schule und was müssen sie überwinden, um etwas weiterzugeben zu können? Als ich anfing, an diesem Film zu arbeiten, habe ich – auch dank Jean-François Camilleri, der bereits MON MAÎTRE D’ÉCOLE ins Kino gebracht hat – Barthélémy Fougea, Produzent von AUF DEM WEG ZUR SCHULE (SUR LES CHEMINS DE L'ÉCOLE) kennengelernt, der sich das gleiche Thema vorgenommen hatte. Jean-François war der Meinung, dass unsere Vorstellungen übereinstimmen könnten – und er hatte recht!


SCHULEN DIESER WELT nimmt uns mit nach Burkina Faso, nach Bangladesch und nach Sibirien. Warum haben Sie diese drei Länder ausgewählt? Aufgrund der  Lehrerinnen, die sie getroffen haben, oder aus geopolitischen Gründen?

Bei einem Dokumentarfilm sind immer der Blickwinkel und die Sichtweise entscheidend. Es war mir wichtig, dass jede einzelne Geschichte einen spezifischen Kampf für Bildung erzählt. Und ich wollte engagierte Lehrer:innen zeigen, die an Orten unterrichten, an denen der Zugang zu Schule und Bildung nahezu unerreichbar ist. Schließlich ging es darum, diesen einen magischen Moment einzufangen, den Moment der Verwandlung, die sich bei Schüler:innen mit Hilfe der Lehrerinnen vollzieht. Dies offenbart letztlich einen langen und
tiefgreifenden Prozess, der sowohl die Kinder, aber in gewisser Weise auch die Welt ein Stück verändert. Zusammen mit Barthélémy Fougea und Lucile Moura haben wir uns das
Kernziel gesetzt: Lehrer:innen mit ganz unterschiedlichen Geschichten zu finden, die jedoch alle gemeinsam haben, das Schicksal der Kinder vollkommen neu zu definieren.


Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Wir haben etliche Befragungen durchgeführt, monatelang bei Verbänden und Netzwerken recherchiert. Dabei haben wir festgestellt, dass Lehrer:innen auf der ganzen Welt vor einer
Vielzahl an Schwierigkeiten stehen: Dem Mangel an Geldern, Armut in den Familien, Bräuche und Traditionen, Kriege, Klimawandel, geographische Abgeschiedenheit... Die Wahl
der im Film gezeigten Orte fiel nach Kriterien der spezifischen Probleme der Lehrerinnen in ihren Ländern. Burkina Faso beispielsweise schreitet demografisch betrachtet unkontrolliert
voran; die Regierung bemüht sich seit Jahrzenten um eine Alphabetisierung der Bevölkerung. Aus diesem Grund habe ich dieses Land ausgewählt, um über das erste Jahr
einer Lehrerin zu erzählen, die in den Busch versetzt wurde, an eine Schule, die nichts weiter ist als eine Hütte, fernab von allem. Die globale Klimaerwärmung führt an anderen
Orten zu immer mehr Überschwemmungen, am verheerendsten in Bangladesch.

Um gegen den Wasseranstieg anzukämpfen, der dort zu totaler Isolation und infolgedessen zum Schulabbruch vieler Kinder führt, wurden Bootsschulen ins Leben gerufen. Eine wundervolle Erfindung, die den Kindern den Schulbesuch weiterhin ermöglicht und darüber hinaus das Arrangieren von Minderjährigen-Ehen der Mädchen im Alter von 11 oder 12 Jahren verhindern kann. Eine essentielle Rolle der Schule ist es hier ein Gegengewicht zu überkommenen Traditionen und festgefahrenen Mentalitäten zu bieten. In Sibirien wiederum war ich vollkommen fasziniert von den "Wanderschulen" für die Kinder der Nomadenvölker, die sich mit ihren Herden in den Weiten der sibirischen Taiga angesiedelt haben. Diese Nomadenschule ermöglicht es Kindern der Ewenken, in der Nähe ihrer Eltern unterrichtet zu werden, mit ihnen weiterzuziehen und dabei das überlieferte Wissen und die Sprache der Ewenken zu lernen. Auch das ist eine weitere Besonderheit der Schule: Sie kann dabei helfen, sich wieder mit den eigenen Wurzeln zu befassen und dabei zwei Kulturen zu vereinen. Nachdem die Orte gefunden waren, fehlten mir nur noch die Protagonist:innen...


Warum haben Sie sich auf drei Länder beschränkt?

Ich hätte sonst riskiert, dass die Zuschauer:innen nicht genug Zeit haben, sich auf die einzelnen Protagonistinnen einzulassen. Man muss die Chance bekommen, sie wirklich
kennenzulernen, um ihre Zweifel, ihre Motivation, ihre Hoffnungen zu begreifen. Und nicht zuletzt braucht die Entwicklung der speziellen Bindung zwischen Lehrer:innen und
Schüler:innen eine gewisse Zeit.


Kommen wir zurück auf die ausgewählten Lehrerinnen – wie sind Sie zu ihren Protagonistinnen gekommen?

Sie mussten gefunden werden. Ich musste diese Menschen spüren, denn sie sind es schließlich, die den Film tragen, die verstehen mussten, was erzählt werden soll, die sich auf
die Dreharbeiten einlassen und sich selbst dafür öffnen. Es geht darum, zu teilen. Unter etwa zwanzig jungen Menschen, die alle gerade ihr Diplom an der ENEP (École Nationale de
l'Enseignement Primaire) – eine Schule, an der Grundschullehrer:innen ausgebildet werden – in verschiedenen Städten des Landes absolviert hatten, habe ich mich für Sandrine
entschieden, unsere Lehrerin aus Burkina Faso. Ebenso klar fiel meine Wahl auf Taslima, die Lehrerin aus Bangladesch, nachdem ich insgesamt sieben Lehrerinnen auf Schulbooten
im Norden des Landes getroffen hatte. Svetlana wurde mir von einer renommierten, auf die Kultur der Ewenken spezialisierten Forscherin und Anthropologin empfohlen.


Ein großes Wagnis, nicht zu wissen, wie sie sich verhalten werden – für Sandrine z.B. war es ja das allererste Jahr als Lehrerin…

Das konnte man natürlich vorher nicht wissen. Das war es ja aber gerade, was diese filmische Reise so besonders machte, nämlich es gemeinsam herauszufinden. Wir haben sie
von ihrer Heimat Ouagadougou, wo sie ihre Koffer packte und sich von ihren Kindern verabschiedete, bis zu ihrer Ankunft an der Schule, an der sie unterrichten würde, begleitet.
Wir haben ihre ersten Unterrichtsstunden miterlebt, ihre Momente der Schwäche ebenso wie ihre Erfolgserlebnisse...


Taslima, die jüngste unter ihnen, zeigt sich als regelrechte Feministin: „Ich möchte“, so sagt sie, „dass die Frauen das Gleiche lernen wie die Männer, dass sie genau das
tun, was Männer tun und dass sie die gleichen Rechte zugesprochen bekommen.“

Hinter ihrem madonnenhaften Aussehen verbirgt sich eine junge Frau, die genau weiß, was sie will, die nicht locker lässt und sich nicht beeindrucken lässt – und sie hat Recht: Es ist an
ihr, etwas zu bewirken, die Dinge in ihrem Land zu verändern. Interessant an ihrem Fall ist, dass sie in diesem Dorf geboren wurde. Ihre Familie hat den gleichen sozialen Status wie die
der Kinder, die sie unterrichtet. Taslima weiß also aus eigener Erfahrung, dass eine gebildete Frau ihrer Familie helfen und in ihrem Land etwas bewirken kann. Sie ist aufgeklärt, wie sie selbst sagt. Aus diesem Grund ist sie auch der Mutter von Yasmin, eine ihrer Schülerinnen, gegenüber so hartnäckig, als diese alles versucht, um ihre Tochter vom Unterricht abzuhalten. Diese Frau ist nicht nur irgendein Elternteil, sie ist auch Taslimas Nachbarin, Taslima kennt sie gut. Eine Tatsache, die ihre Arbeit sowohl erleichtert als auch erschwert.


Svetlana schein diejenige unter ihnen zu sein, die am wenigsten Begeisterung seitens der Kinder erfährt – zumindest anfangs. Und das, obwohl die Errichtung einer Schule
in ihrem Fall einer Meisterleistung gleichkommt: Nach einer Strecke von fast hundertfünfzig Kilometern, die Svetlana und ihr Mann mit dem Rentierschlitten zurücklegen, müssen sie zunächst ein Zelt aufbauen. Svetlanas Aufgabe ist es dann, den Unterricht für eine Handvoll Kinder zu organisieren – die sich jedoch nicht gerade leicht für die Kultur der Ewenken begeistern lassen…

Svetlana ist großartig! Diese Nomadenschule ist ihr Leben. Sie und ihr Ehemann – er ist Rentierzüchter, wie sie es vor ihrer Tätigkeit als Lehrerin auch war – legen jedes Jahr enorme Strecken zurück, um ihre schulische Mission zu erfüllen. Manchmal, wenn sie die Strecke nicht geschafft haben, müssen sie mitten in der Nacht in irgendeiner Siedlung Halt machen und ihr Zelt aufschlagen. Alle diese Mühen für manchmal nur vier Kinder; vier Kinder, die dann nicht einmal großes Interesse an der Kultur der Ewenken zeigen. Aber sie gibt nicht auf, niemals. Wenn sie z.B. versucht, den Kindern ein Gedicht beizubringen, und merkt, dass sie keine große Lust haben, sich darauf einzulassen, denkt sie sich einfach eine andere Taktik aus. Gemeinsam erfinden sie zum Beispiel ein Lied, zu dem jedes Kind etwas beitragen kann und nach und nach merken sie, dass es auch Spaß machen kann, mit unbekannten Wörtern zu spielen und sie sich zu merken. Wenn sie dann wieder abreist, sind die Kinder richtig traurig. Es ist Svetlana und ihren unendlichen Mühen zu verdanken, dass die Kultur der Ewenken nicht ausstirbt und dass die Kinder ihre beiden Kulturen bewahren können. Auch dafür ist die Nomadenschule da.


Sandrine, Taslima, Svetlana… War es eine bewusste Entscheidung, nur Frauen im Film zu zeigen?

Nein, das war nicht von Anfang an so geplant, stellte sich aber letztlich als ein sehr wichtiger Aspekt heraus. Denn SCHULEN DIESER WELT erzählt auch von den Problemen, die vor
allem Frauen haben, die teils ihre eigenen Kinder zurücklassen müssen, um sich zu emanzipieren, weiterzuentwickeln, um ihren Beruf zu verteidigen und ihre Berufung zu leben
– ein typisch weibliches Problem, welches in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr schuldbehaftet ist.


Wie viel Zeit hat dieses Abenteuer insgesamt in Anspruch genommen?

Gute drei Jahre. Das erste Jahr für die Vorbereitungen und das Finden der Orte. Das zweite für den Dreh und schließlich mehrere Monate für Sichtung und Schnitt.



Foto:
©midi libre

Info:

Frankreich, 2021
Länge: 82 Minuten
Bildformat: 1,85:1
Tonformat: 5.1

Stab

REGIE ÉMILIE THÉROND
KAMERA SIMON WATEL

Besetzung
BURKINA FASO    SANDRINE ZONGO
SIBIRIEN               SVETLANA VASSILEVA
BANGLADESCH. TASLIMA AKTER

ERZÄHLT VON DENNENESCH ZOUDÉ (OV: KARIN VIARD)
 
Abdruck aus dem Presseheft