Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 4. Mai 2023, Teil 1
Mikhail Ratgauz
Berlin (Weltexpresso) - Wie kam es zu der Entscheidung, sich mit Ödipus zu befassen, wie fing das an?
Es gibt Fragen in meinem Leben und damit auch in meinen Filmen, auf die ich keine Antwort habe. Sie betreffen die Familie, Familienverhältnisse und ebenso das Schicksal oder einfach den Zufall, der uns bestimmt und dem wir uns beugen müssen. Im Ödipus Mythos findet sich das alles, auch der Schmerz, der in all dem liegt. Und es gab eine Inszenierung, die ich als sehr junge Schauspielerin gesehen habe.
Ödipus von Sophokles in der Hölderlin-Übertragung, von Jürgen Gosch, nicht wahr?
Ja. Die Schauspieler spielten auf Kothurnen und mit großen Masken. Die Bühne bestand aus einer Treppe, die zu einem Zelt führte, und der Eingang zu diesem Zelt war nur ein Schlitz. Durch diesen Schlitz zwängte sich Ödipus bei jedem Auftritt und am Ende der Szene zwängte er sich wieder zurück. Durch die reduzierten und eingeschränkten Bewegungen, die noch erschwert durch die Kothurne waren, war diese Inszenierung sehr, sehr körperlich. Sodass auch sein Schmerz sehr körperlich wahrnehmbar war. Seine ganze Existenz schien mir schmerzhaft.
Dann gibt es einen Weg von diesem Schmerz zur Musik?
Ja. Ich scheue die Musik, weil sie schnell überwältigt, deswegen zieht sie mich an, wie jeden anderen auch, und deswegen bin ich vorsichtig… jetzt gab es durch den Schmerz einen Grund, eine Notwendigkeit für die Musik. Ich finde den Gedanken, dass es die Möglichkeit gibt, zu überleben, also dass es uns gelingen kann, unser Leben oder Schicksal zu ertragen, sehr, wie soll ich sagen, das ist ein fantastischer Gedanke. Jon entwickelt ein Vermögen, seinem Schicksal zu begegnen, und das ist der Gesang, er singt.
Am radikalsten brechen Sie den klassischen Mythos da, wo Ödipus, bei Ihnen Ion, über seine Herkunft und so über seine Schuld gar nichts erfährt. Er bleibt von diesem Wissen verschont.
Ja. So hat es sich beim Schreiben entwickelt. Auch wenn ich von Sophokles ausgegangen bin, sind beim Schreiben des Drehbuchs Figuren entstanden wie in meinen anderen Filmen auch, keine mythischen Figuren, sondern Menschen. Ich verschone Jon mit dem Ausmaß an Erkenntnis, damit er sich nicht wie Ödipus die Augen ausstechen muss. Er verliert sein Augenlicht über viele Jahre, er lebt nicht wie Ödipus nach Iokastes Tod blind im Wald, sondern mit seiner Tochter unter Menschen. Mich interessiert an dem Mythos nicht das Einzigartige, sondern was die Erzählung für uns heute bedeuten kann, mich interessiert das, was ich mit jedem teilen kann, das Normale, Nachvollziehbare. Alles andere liegt im Unbewussten der Figur und dort entsteht auch Jons Gesang.
Aber Iokaste, im Film Iro, verschonen Sie nicht. Was dann letztlich ihren Tod bedeutet …
Jon muss nichts verdrängen, weil er nichts weiß, er kennt seine Geschichte nicht. Iro aber schon. Sie hofft, fürchtet, verdrängt und stirbt, als das Maß des Erträglichen für sie überschritten ist.
Lucian, das ist im Mythos die Figur des Laios, was war da für Sie wichtig?
Lucian ist für mich der Inbegriff einer tragischen Figur, weil er keine Chance hat, er ist unschuldig und geht trotzdem zu Grunde. Um nach der Geburt die Mutter seines Kindes zu retten, lässt er das Kind zurück. Er zerbricht an diesem Versagen, was bedeutet, er kennt keine Regeln mehr, an die er sich halten kann, er weiß nicht mehr, wie man sich als Teil der Gesellschaft bewegt, und daran stirbt er schließlich - durch seinen Sohn, was er nicht weiß. Er sieht diesen jungen Mann und fühlt eine Anziehung, er will ihn küssen.
Es scheint mir, dass Ihre Filmsprache in Bezug auf den Mythos auch sehr stark verändert wird. Die Bilder werden insgesamt viel dichter.
Ich glaube, Sie sprechen über das Schweigen. Die Erzählung entwickelt sich durch das Unausgesprochene, es entsteht, weil es keine Sprache dafür gibt. Es ging darum, Bilder für Vorgänge zu finden, für die es meiner Meinung nach keine Worte gibt. Wie im Leben. Man tut etwas und man schweigt darüber. Das ist sehr menschlich. Sprache ist der Versuch, das Schweigen zu brechen, aber es ist nur ein Versuch. Unser Leben ist voll von missglückter Verständigung.
In MUSIC arbeiten Sie wieder mit Ellipsen. Die Distanz zwischen den entfernten Orten und den abgelegten Zeiten in ihren Filmen wird so leicht überquert, wie es beim alten Theater war, z.B. bei Shakespeare...
Die Auslassung bedeutet ja nicht, dass etwas nicht passiert ist, es bedeutet nur, dass etwas nicht gesehen wurde. Im Theater stellt das keiner in Frage. Natürlich kann man sagen, der Film ist das, was ich auf der Leinwand gesehen habe. Diese Bilder sind aber nur entstanden, weil man sich für bestimmte Auslassungen entschieden hat. Das weiß eigentlich jeder und wenn man an den Prozess des Schnitts denkt, wird es nochmal überdeutlich. Bei Spielfilmen habe ich oft den Eindruck, es wird etwas gezeigt, damit es auch geglaubt wird. Das ist mir fremd. Für mich liegt in der Auslassung erst die Chance, zu erzählen. Alles entsteht aus der Auslassung, die Orte, an die ich gehen kann, die Zeit, die ich vergehen lassen kann.
Ich möchte zurückkehren zur Musik. Die Songs, die Jon singt, sind von Doug Tielli. Wie haben Sie ihn gefunden?
Das war eine lange Suche. Die Musik, die Jon im zweiten Teil singt, ist ja seine Sprache, aber ich konnte sie nicht schreiben. Ich hatte eine Vorstellung, aber es fiel mir schwer, sie in Worte zu fassen. Ich habe endlos Musik gehört, bis ich auf Doug Tielli gestoßen bin, der in Kanada auf dem Land lebt und den ich dann in Toronto getroffen habe. Er hat mir Songs geschickt, an denen er arbeitet, die damals noch nicht veröffentlicht waren. Ich habe die Entscheidung für die Musik dann nie mehr in Frage gestellt, das war ein Glücksfall für mich, ebenso die Besetzung des Films, Aliocha Schneider und Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou und Argyris Xafis, das waren sehr glückliche Begegnungen für mich, bis hin zu den Laiendarstellern in Griechenland. Es gibt so viel Schweigen in dem Film, umso mehr nimmt man die Gesichter wahr, die Körper, Bewegungen, alles entsteht aus diesen Darstellern und der Natur.
Foto:
©Verleih
Info:
ANGELA SCHANELEC
(Deutschland/Frankreich/Griechenland/Serbien 2022)
Kinostart: 4.5.2023
108 Min., DCP-2K, deutsch-griechische OmU-Fassung
Regie, Drehbuch, Schnitt Angela Schanelec
Kamera Ivan Marković
Sound Design, Ton Rainer Gerlach
Szenenbild Ingo Klier
Kostüm Anette Guther
Maske Monika Münnich, M
Besetzung:
Aliocha Schneider Jon
Agathe Bonitzer Iro
Marisha Triantafyllidou Merope
Argyris Xafis Elias
Frida Tarana Phoebe mit 6
Ninel Skrzypczyk Phoebe mit 14
Miriam Jakob Marta
Wolfgang Michael Hugh