Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 4. Mai 2023, Teil 7
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) – „Eine besondere Atmosphäre des Zuhörens und Miteinanders“
Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken: Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Lehrer? Hatten Sie einen Lieblingslehrer?
Wir sind viel umgezogen in meiner Kindheit und Jugend. Das heißt, ich machte viele
Schulwechsel mit. Allerdings war ich meine ganze Schulzeit lang immer nur auf
Waldorfschulen. Für mich war diese Schulform mit ihrem sehr idealistischen Ansatz und ohne
Benotung richtig und gut, obwohl ich heute Zweifel an Waldorfschulen habe. Wenn ich an
Lieblingslehrer:innen denke, fällt mir Herr Brückmann ein. Als ich 14 war, sind wir von Bielefeld
nach Tübingen gezogen. Herr Brückmann unterrichtete an der dortigen Waldorfschule
Geschichte und Ethik. Er war toll darin, Konversationen anzuregen und Gespräche zu
ermöglichen, unterrichtete sehr antiautoritär und liebevoll und war sehr geduldig. Auf der
anderen Seite erinnere ich mich an Riva Siedner, eine ältere jüdisch-französische Dame, die
Französisch lehrte. Sie war in unserer Klasse als „Der Drache“ bekannt. Wehe, man hatte die
Hausaufgaben nicht... Ich habe aber nie mehr gelernt als bei dieser Frau! Wenn ich über
Lehrkräfte nachdenke, stelle ich fest, dass ich Autorität liebe, wenn sie angebracht ist. Wenn
mir jemand im übertragenen Sinn auf die Finger haut, wenn die Person weiß, was sie tut. Das
war auch in der Schauspielschule so. Ich habe die Lehrer:innen, die zurecht rumgebrüllt haben,
total verstanden. Ich mag Autorität nur dann nicht, wenn sie nicht angebracht oder ungerecht
ist.
Jetzt spielen Sie selbst eine engagierte, idealistische Lehrerin. Haben Ihre eigenen
Erinnerungen an Ihre Schulzeit geholfen, diese Figur zu gestalten?
Ich musste zurückdenken, was funktioniert hat in einem lauten Klassenzimmer, wie man
Kinder zur Ruhe gebracht hat. Das hat viel mit einer Haltung und Geduld zu tun. İlker hatte
aber auch schon Vieles sehr genau vorrecherchiert und im Drehbuch festgehalten bzw. in
Gesprächen erzählt. Darauf konnte ich mich stark stützen. Eine Grundregel mit Kindern ist, sie
ernst zu nehmen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Das habe ich versucht zu verfolgen
in der Rolle und im Spiel.
Wenn man Anfang 30 ist, ist für eine Schauspielerin die Darstellung einer Autoritätsperson
wie eine Lehrerin vielleicht nicht unbedingt naheliegend. Was waren Ihre ersten Gedanken,
als Sie von dem Projekt erfuhren? Wie haben Sie sich selbst darin gesehen? Waren Sie
überrascht, dass Sie für das Projekt in Betracht gezogen wurden?
Ich erhielt das Drehbuch mit der Bitte, ein Tape mit einer Szene zu machen. Bei der Lektüre
ist mir sofort aufgefallen, wie toll İlker mit Sprache umgeht, wie unglaublich gut er beobachtet.
Dass ich für die Rolle zu jung sein könnte, beziehungsweise der Gedanke, ob man
Lehrerinnenrollen erst spielen sollte, wenn man selbst älter ist, kam mir nie. Vielmehr
begeisterte mich das klug geschriebene Drehbuch. So etwas flattert nicht alle Tage herein.
Andererseits gibt es viele junge Lehrer:innen Ende 20/Anfang 30, die entweder ihr Referendariat absolvieren oder gerade frisch in ihren Beruf starten – wie Carla Nowak, sehr idealistisch und unverbraucht ihre Laufbahn beginnen, mit viel Lust darauf, Dinge anders zu
machen.
Hatten Sie einen Bezug zu Ihrer Rolle der Carla Nowak?
Ich pflege einen sehr nüchternen Umgang mit E-Castings und Tapes. Wenn mich eine Rolle
interessiert, möchte ich gute Arbeit abliefern. Aber grundsätzlich mache ich meine Aufnahme,
schicke sie ab und vergesse sie auch wieder. Bei DAS LEHRERZIMMER war es so, dass mich die
Anfrage zwischen zwei großen Drehs im Frühjahr 2021 erreichte. Ich kam gerade aus Südafrika
vom Dreh der Serie „In 80 Tagen um die Welt“ zurück, hatte eineinhalb Monate in Berlin,
bevor es weiter nach Italien ans Set von „Der Schwarm“ gehen sollte. Das Drehbuch reizte
mich sehr, ich fand die Geschichte spannend. Es war aber nicht so, dass ich etwas von Carla
Nowak in mir gesehen oder dass die Figur zu mir gesprochen hätte. Meine Gedanken gingen
in die Richtung, dass es eine interessante Zusammenarbeit sein könnte, dass da ein kluger
Kopf hinter deem Projekt steckt und ich Lust darauf habe herauszufinden, was der sich dabei
gedacht hat.
Man erfährt nicht viel über den Hintergrund und das Privatleben ihrer Figur Carla Nowak,
ahnt aber, durch viele Andeutungen, dass die Figur ein noch größeres Leben hat, als das,
was man von ihr auf der Leinwand zu sehen bekommt. War es Ihnen wichtig, mehr über sie
zu erfahren?
Ich weiß über sie genauso viel wie alle anderen, die das Drehbuch kennen. Daraus lässt sich
lesen, dass Carla Nowak Ende 20/Anfang 30 ist und vor ein paar Monaten an dieser Schule als
Lehrerin zu arbeiten angefangen hat. Und dass sie polnische Wurzeln hat. Ansonsten weiß
man gar nichts. Ich habe dazu auch nicht mehr gefragt. Für mich standen alle Informationen,
die ich für diese Rolle brauchte, im Buch. Ich bin eine große Verfechterin von Text- und
Körperarbeit. Tendenziell nähere ich mich Rollen nicht dadurch an, dass ich mir Hintergründe
erarbeite, wissen muss, was die Person zum Frühstück isst oder was ihr in der Kindheit
widerfahren ist. Für mich hätte es im Spiel keinen Unterschied gemacht, ob Carla Nowak
Katzen oder Hunde mag, lieber Müsli anstatt Körnerbrot frühstückt. Vielleicht ist das auch von
Projekt zu Projekt anders. Bei DAS LEHRERZIMMER war es so, dass in jeder Szene eine klare
Aufgabe vorhanden war. Da ist die Figur, da das Hindernis, und daraus resultiert, was die Figur
will. Das war in jeder Szene klar gegeben. Ich musste mir nicht zusätzlich etwas bauen, um mir
zu erklären, warum ich mich in dieser oder jener Situation befinde. Das zeichnet ein gutes
Drehbuch auch aus.
Was gefällt Ihnen an der Geschichte? In Ihren Worten: Worum geht es?
Das ist schwer zu beantworten. Ich glaube, DAS LEHRERZIMMER ist ein Kommentar zu unserer
Debattenkultur. Wir sehen mit Carla Nowak eine Person, die alles richtig machen will, aber
immer wieder scheitert, aus unterschiedlichen Gründen. Das passiert durch ein absichtliches
oder unabsichtliches Missverstanden-werden. İlker hat etwas Essenzielles unserer Gegenwart
eingefangen.
Es gibt einen alten Truismus, als Filmschaffender solle man die Arbeit mit Kindern und
Hunden vermeiden. Sie mussten eine ganze Klasse jonglieren. Wie war die Erfahrung? Wie
haben Sie sich den Kindern angenähert?
Alle meine Freunde haben mich ausgelacht, als ich erzählte, dass ich eine Mathe- und
Sportlehrerin spiele und sechs Wochen lang nur mit Kindern abhängen werde. Auch da muss
ich İlker Respekt zollen. Er hat diese Klasse zusammengestellt und wahnsinnig gut ausgesucht.
Es waren so interessante, liebe Kinder. Natürlich waren sie auch mal laut und es war auch
nicht immer einfach. Aber Judith Kaufmann, unsere Kamerafrau, İlker und ich haben erst
unlängst bei einem gemeinsamen Abendessen wieder bekräftigt, dass wir am liebsten nie
wieder anders arbeiten wollen würden. Was İlker hier an Zeit und besonderer Arbeitsweise
investiert hat, habe ich noch nie erlebt. Jeden Tag, bevor wir mit dem Dreh angefangen haben,
versammelten wir uns in unserer Klassenzimmerkulisse, die Kinder, İlker und ich, um über die
unterschiedlichsten, lebensalltäglichsten Dinge zu sprechen. Das war wahnsinnig berührend,
schön und manchmal auch frustrierend. İlker erzeugte eine Atmosphäre des Zuhörens und
Miteinanders. Zwar ist man nach den fünf Stunden Dreh mit den Kids auch erschöpft, weil es
anstrengend und laut ist. Aber das war ok, weil İlker so viel Liebe und Zeit reingesteckt hat
und immer für eine tolle Atmosphäre sorgte. Judith wiederum konnte bei den morgendlichen
Gesprächsrunden mit ihrer Handkamera oftmals schon dokumentarische Aufnahmen
machen, um so viele natürliche Reaktionen der Kinder einzufangen, die es teilweise sogar in
den Film geschafft haben. Das finde ich wahnsinnig schön.
Wie zeichnet İlker Çatak als Regisseur aus?
İlker ist klug, er hört gut zu und weiß gleichzeitig genau, was er will. Er ist offen für Vorschläge,
wenn die aber nicht dem entsprechen, was er sich vorgestellt hat, oder in eine Richtung gehen,
in die er nicht gehen will, bleibt er auch stur. Das ist eine unglaublich gute Mischung. Er macht
sich auch verletzlich gegenüber seinen Schauspieler:innen, weil es ihn mitnimmt, wenn
jemand nicht seiner Meinung ist. Es ist immer eine Begegnung auf Augenhöhe.
Carla Nowak steht als Vermittlerin immer zwischen den Stühlen und wird mit ihrem
Engagement zwischen den verschiedenen Parteien zerrieben. War es eine psychisch
besonders anstrengende Arbeit? Was empfanden Sie beim Dreh als größte Herausforderung?
Ich nehme Dinge glaube ich vom Set generell nicht mit nach Hause. Da sind Kolleg:innen sehr
unterschiedlich. Ich fand die Arbeit an DAS LEHRERZIMMER sogar wahnsinnig befreiend, weil
ich so viel lernen und auch umsetzen konnte, was an der Schauspielschule unterrichtet wurde.
Es ging sehr um die Arbeit im Moment. Zu Hause hatte ich nie das Gefühl, ich werde den Stress
nicht los. Es ging mir psychisch nicht schlecht, ich war nur etwas müde von den vorherigen
Dreharbeiten bei „In 80 Tagen um die Welt“ und „Der Schwarm“. Das war die größte
Herausforderung.
DAS LEHRERZIMMER ist ein Film, der drängende Fragen über das Zusammenleben in der
modernen Gesellschaft stellt, simplistische Antworten aber verweigert. Kennzeichnend für
diesen Ansatz ist die letzte Szene des Films. Was ist Ihre Interpretation?
Es ist ein kluges Ende. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich weiß auch nicht, ob die
Schulsekretärin die Diebin ist, ich weiß nicht, wer Recht hatte. Spielt es eine Rolle am Ende
des Tages? Ich frage mich, ob wir in der Diskussion da
rum, wer Recht hat, nicht aus den Augen
verlieren, was wir mit der Diskussion anrichten.
Sind Sie stolz auf diese Arbeit? Welchen Stellenwert hat sie in Ihrem bisherigen Schaffen?
Ich bin total stolz und glücklich über diese Arbeit. Wenn ich könnte, würde ich sofort wieder
mit İlker, Judith und Ingo drehen. In meiner Idealvorstellung würde ich pro Jahr einen kleinen
feinen Arthouse-Film drehen und ein größeres Projekt, das die Miete bezahlt und womit man
sein Standing hält. Rückblickend über die letzten Jahre waren die zwei schönsten Projekte „In
80 Tagen um die Welt“ und DAS LEHRERZIMMER. Sie sind überhaupt nicht miteinander
vergleichbar. Aber es sind die zwei Projekte, die ich immer gemacht haben werden will. Das
hat mit der Zusammenarbeit zu tun, mit der Einstellung der Leute, der Herangehensweise, wie
man Geschichten gemeinsam erzählen will. Je länger ich das mache, desto wichtiger sind diese
Aspekte. Es geht darum, wie man die gemeinsame Drehzeit gestaltet. DAS LEHRERZIMMER
war eine der schönsten Dreherfahrungen, die ich je hatte.
Foto:
© Verleih
Info:
STAB
Regie İLKER ÇATAK
Drehbuch İLKER ÇATAK, JOHANNES DUNCKER
Produktion. INGO FLIESS
Kamera JUDITH KAUFMANN
BESETZUNG
Carla Nowak LEONIE BENESCH
Thomas Liebenwerda MICHAEL KLAMMER
Milosz Dudek RAFAEL STACHOWIAK
Dr. Bettina Böhm ANNE-KATHRIN GUMMICH
Friederike Kuhn EVA LÖBAU
Lore Semnik KATHRIN WEHLISCH
Vanessa König SARAH BAUERETT
Oskar LEONARD STETTNISCH
Lukas OSCAR ZICKUR
Jenny ANTONIA LUISE KRÄMER
Hatice ELSA KRIEGER
Tom VINCENT STACHOWIAK
Ali CAN RODENBOSTEL
Lieun PADMÉ HAMDEMIR
Luise LISA MARIE TRENSE
Abdruck aus dem Presseheft