plaion pictures lola quivoronSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. Juli 2023, Teil 2

Redaktion 

Paris (Weltexpresso) – Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen, das Sie in RODEO zeigen?
Diese Umgebung kenne ich seit meiner Kindheit, als ich in einem Vorort von Paris lebte und ich junge Leute beim Motocross vor meinem Haus gesehen habe. Im Sommer 2015 hatte ich sie kennengelernt, damals war ich auch noch an der Nationalen Filmhochschule „La Femis“. Ich bin auf Videos in den sozialen Medien von Jugendlichen gestoßen, die „Cross-Bitumen“ betrieben und sich „Dirty Riderz Crew“ nannten. Ich kontaktierte den Anführer der Gruppe, Pack, der mich einlud, einige Zeit auf ihrer Trainingsstrecke in einem Vorort von Paris zu verbringen.

Von diesem Tag an, war ich wirklich angefixt. Es war eine physische Begegnung. Die Motoren sind sehr stark, was sie tun, ist ziemlich gefährlich und sehr beeindruckend. Auf engen Straßen fahren sie extrem schnell und sehr nah aneinander. Ich bin ungefähr fünfzigmal dort gewesen und habe mich mit allen angefreundet. Ich wollte ihre Welt, ihre Regeln, ihre Philosophie usw. verstehen. Warum tun sie das? Wer sind diese jungen Leute? „Au Loin Baltimore“, mein Abschlusskurzfilm, befasst sich mit der Praxis des „Cross-Bitumen“ auf eine eher „naturalistische“ Weise. Und seit 2015 habe ich nie aufgehört, Zeit in diesem Umfeld zu verbringen und das mit Clips, Kurzfilmen oder Fotoreportagen zu dokumentieren.

RODEO, mein erster Spielfilm, entstand über einen Zeitraum von fast 5 Jahren und basiert auf einer Mischung zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Als ich mit der „Dirty Riderz Crew“ auf den Strecken unterwegs war, war ich oft das einzige Mädchen. Die wenigen anderen saßen entweder hinten auf den Motorrädern oder am Straßenrand. Aber kaum eine von ihnen ist gefahren. Das ist auch der Grund, warum ich die Figur der Julia erfunden habe: Sie entsprach einem ziemlich intimen Wunsch, diesen Traum von einer Gemeinschaft für mich zu verwirklichen.

RODEO ist aus der Begegnung mit der Gruppe entstanden, die ich seit Jahren verfolge, und meinem innigen Wunsch, dass eine junge Frau eines Tages ihr Motorrad genauso fahren würde wie die Jungs. RODEO ist für mich ein epischer und „hyper-naturalistischer“ Film. Er geht über den Naturalismus von Au Loin Baltimore hinaus, was sein Verhältnis zu Farbe, Erzählung und Regie betrifft. Er bringt das Filmemachen bis an die Grenzen. Wir drehten mit einer Arri Alexa MiniKamera im Cinemascope-Format (2:39) und mit anamorphotischen Master Prime Objektiven. Wie in den klassischen Western. Das verleiht diesen spektakulären und gleichzeitig dokumentarischen Look, den ich auch bewahren wollte. Ich wollte, dass die Leute die Körper physisch spüren, die von der Geschwindigkeit und dem Adrenalin mitgerissen werden. Ich wollte aber auch die brutale Seite zeigen, die Beziehung zum Tod, zum Asphalt.


Vor „Au Loin Baltimore“ haben Sie den Kurzfilm „Stand“ gedreht, in dem Sie einen Schießstand in Paris zeigen. Dies ist ebenfalls eine überwiegend männliche Umgebung, in der aber eine Frau zu sehen war. Reizen Sie diese Männerwelten?

Was mich interessiert hat, war die Erkundung dieses geschlossenen Universums, eines Ortes, der von der normalen Welt abgeschnitten ist. Wir tauchen in eine verborgene, sichere, sehr maskuline und sehr kodifizierte Umgebung ein. Die Kunden sind hauptsächlich Männer, Polizisten, ehemalige Soldaten oder Zivilisten, die lernen, ihre Waffen zu benutzen. Ich war fasziniert von ihren Ritualen, ihrer Fachsprache und der Art und Weise, wie sie ihre Waffen als Teil ihrer selbst verstehen.

In diesem System sehen wir Sandra, die Frau, die bei der Verwaltung und bei der Organisation hilft. Sie beherrschte alle Kaliber, war eine Meisterschützin. Sie erschien mir sofort als eine eigenständige Figur, eine Kämpferin, die in diesem Umfeld eine Außenseiterin ist, eine ungewöhnliche Heldin. Ich habe sie schnell ins Herz geschlossen. Ich glaube, es gab so etwas wie einen Spiegeleffekt. Der Film erzählt die Geschichte ihrer Reise innerhalb dieser sehr männlichen Welt.

Jedes Mal werfe ich meinen Blick in Welten, die weitgehend vom männlichen Blick und männlichen Körpern dominiert werden. Ich bin wie eine fremde Figur unter ihnen. Das ist natürlich ein sehr  wiederkehrendes Motiv des Schreibens und Regieführens, das mir erlaubt, Fiktion zu produzieren, die Realität der Geschlechterstereotypen in Frage zu stellen und einen atypischen, fast „fremden“ Blick auf das System zu werfen. Ich betrachte dieses System aus meiner weiblichen Position heraus.


Ist das wichtig für Sie? Ein System infiltrieren, ein System verstehen?

Ich liebe es, in ein System einzudringen, es von innen zu betrachten, um zu verstehen, wie es funktioniert, und um es zu dekonstruieren. Ich verliere mich gerne in dieser Erkundung, nehme mir die Zeit zu recherchieren, um den Ort zu wählen, an dem ich die Geschichte erzähle.

In meinem Kurzfilm „Fils du loup“ geht es um einen kleinen Jungen, der lernt, seinen Kampfhund auszubilden. Was mich am meisten interessiert hat, war ein System, das den Körper versklavt. Die Tierdressur schafft durch ihre Befehle und ihre Techniken ein dominantes und gewalttätiges Verhältnis, vor allem für das Tier, aber auch für den Menschen. Es ist ein Film über die Beziehungen von Dominanz zwischen Mensch und Tier. Der unerfahrene Junge entdeckt, wie das Training funktioniert und wie man diesen Hund namens „Iron“ dominiert. Mit ihm fragen wir uns, wie wir irgendwie die Gewalt der Konditionierung hinter uns lassen können. Seine Naivität zeigt uns eine alternative Art der Beziehung zum Tier, aber vor allem zum Anderen. Er dekonstruiert dieses System.

Es beruhigt mich sehr zu denken, dass die Paradigmen eines großen Systems zerstört werden können. Seit einigen Jahren ist viel von „Dekonstruktion“ die Rede, von Dekonditionierung, insbesondere von Frauen in Bezug auf das, was von ihnen erwartet wird. Wie man wieder das Subjekt wird, das einen Blick hat. Wie kann man sich aus den Zwängen befreien, die der dominante männlichen Blick vorgibt. Wie sorgt man dafür, dass man nicht die Gewalt von gewissen Beziehungen reproduziert? Die Phänomene der Dekonstruktion sind Formen der inneren Revolution, die eine große Triebkraft für mich sind. Sie lassen mich sehr konkret über Politik nachdenken. Es ist eine Grundlage, um eine Welt zu schaffen, die der Vielfalt mehr Platz einräumt. Ein Nährboden für das Unerwartete, die Schönheit von Monstern, das Unvereinbare, das Seltsame usw.

RODEO ist auch ein Film mit einem System. Aber innerhalb dieses System werden die Figuren nie auf das männliche Bild reduziert, das sie vermitteln. Jeder von ihnen existiert individuell und kollektiv und entzieht sich jeder Zuordnung zu einer Identität. War Ihnen das wichtig?

Ich habe viel an der Reise der einzelnen Figuren gearbeitet, wie sie sich entwickeln und wie sie in ihrer Entwicklung im Lauf der Geschichte manchmal unsere Überzeugungen und Darstellungsnormen in Frage stellen. Die Figur der Julia als „Die Fremde“ ist ein perfektes Beispiel dafür. Sie überrascht uns, weil sie sich der Fixierung auf eine einzige, einheitliche Darstellung entzieht. Ihr Gesicht ändert sich ständig, ihr Outfit, ihre Züge. Sie verkörpert mehrere Figuren, bewegt sich zwischen Genres, Codes, sozialen Umfeldern. Zu Beginn des Films ist es schwierig, ihr zu folgen, sie festzunageln. Sie flieht, entzieht sich einem statischen Bild von ihr. Sie ist getrieben von einer Leidenschaft, von einem unbändigen Wunsch, anders und anderswo zu leben, Horizonte neu zu ziehen.

Stereotypen werden von Menschen auferlegt, die die Dinge zu fixiert sehen. Es ist gut, wenn sich die Linien bewegen. Julia ist die „Fremde“, die sich den Grenzen, dem Radar der Zuordnungen entzieht. Sie macht es uns schwer, sie zu „lesen“. Während des Schreibens habe ich darauf geachtet, die Figuren nicht zu vereinfachen. Gewalt zum Beispiel wird immer aus dem Blickwinkel der Subjektivität der Figuren behandelt, deshalb entzieht sie sich der Zuordnung. Ich wollte, dass die Brutalität der Beziehungen auf eine fließende Art und Weise vermittelt wird. zwischen den Blicken, die sie sich zuwerfen, und den Körpern. In Rodeo ist eine Figur nie an sich gewalttätig. Sie ist gewalttätig, weil sie sich verteidigt, weil sie frustriert ist, weil sie sich schämt, usw.

In einer Geschichte ist es wichtig, sich von den Figuren überraschen zu lassen und zu sehen, wie sie sich selbst dekonstruieren. Das Schreiben hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Natürlich ist das Drehbuch von meinem Aktivismus geprägt, meine Erfahrungen als Frau in der Gesellschaft, mein Verhältnis zur Gewalt. All das formte, was ich die „Mythologie“ des Films nenne. Danach kommt die Begegnung mit den Fahrern, die Begegnung mit Julie, die Energie der Schauspieler, ihr Ausdruck, ihre Sprache, ihre Wahrheit.


Julias Weiblichkeit in RODEO wird von den Jungs ständig in Frage gestellt, auch wenn sie alle geschlechtsspezifischen Klischees meidet. Warum?

Ich habe davon geträumt, eine weibliche Gangsterfigur zu schreiben, das ist wirklich etwas, das wie ein großes Loch in meinem Leben war. Ich mag Mafiafilme, Kriegsfilme, Filme mit viel Gewalt. Sehr oft kommen Frauen in diesen Geschichten nicht vor. Oder sie sind zumindest nicht die treibende Kraft. Ich habe von genau dieser Figur geträumt. Ich hatte eine Ahnung von dieser Julia. Ich habe sie geschrieben, aber ich habe auch viel Zeit damit verbracht, sie zu finden.

Soziale Netzwerke sind unglaubliche Werkzeuge für diese Art der Recherche. Ich hatte lange Zeit damit zu kämpfen, das Drehbuch zu schreiben. Auf Instagram fand ich den Account "Inconnue_du_95". Ihr echter Name ist Julie Ledru und sie ist Bikerin. Wir haben uns in BeaumontSur-Oise getroffen, in den Vororten von Paris. Ich kannte diese Stadt, ich war dort während der ersten Gedenkfeiern für den Tod von Adama Traoré. Ich hielt das für ein Zeichen. Sie kam in ihrer alten Honda-Jacke an und erzählte mir ihre ganze Geschichte. Ich erzählte ihr von dieser weiblichen Figur, die sie auf eine sehr offensichtliche Weise zu verstehen schien. Als ich von dem Treffen zurückkam, rief ich Antonia an und sagte ihr: „Das ist so seltsam, dieses Mädchen ist eine große Lügnerin. Sie hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt und das ist die Geschichte des Films.“

Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber es war wie ein Wunder, als würden die beiden Enden von etwas zusammenkommen. Das Reale und die Fiktion. Also begann ich, meinen Film mit ihrem
Gesicht im Kopf umzuschreiben, ihrem Körper. Das löste viele der Probleme, die ich beim Schreiben hatte. Julie wurde der Figur aufgepfropft, sie hatte die Erfahrung dieser Figur in sich. Der Film ist das Porträt dieser jungen Frau. Sie erzählte mir Dinge, die sofort nach unserem Treffen in das Drehbuch einflossen. Sie erzählte mir, dass sie einen Mann gerettet hatte, der mit seinem Motorrad verunglückt war. An diesem Tag war er gestürzt und sie war herbeigeeilt, um ihm zu helfen, aber er hatte sie wegen seines Egos abgewiesen. Der Mann wollte nicht von einem Mädchen gerettet werden. Julie empfand das als sehr ungerecht.


Wie reagierte die Darstellerin Julie Ledru auf die Lektüre ihrer Figur der Julia?

Julie Ledru war unglaublich, sie hat schnell die Komplexität dieser Figur verstanden, die gleichzeitig gestört, gewalttätig und manipulativ ist. 
Julie, Julia und ich sind nicht-binäre Menschen. Von dem Moment an, in dem die Schauspielerin ihre Figur kennenlernt, kann man alles machen. Man muss nur ein bisschen Vertrauen haben und sich führen lassen. Mit ihr haben wir diese Figur aufgebaut. Wir haben an ihrer Intensität gearbeitet, an ihrer Geschwindigkeit (sie ist immer allen einen Schritt voraus), ihre Brutalität, ihre Respektlosigkeit, ihre Haarigkeit. Julia ist ein Chamäleon, das sich ständig verwandelt, die ihr Aussehen, ihre Maske verändert. Im Film hat man das Gefühl, dass ihr Körper eine Art Hülle ist, die man in ein Fußballtrikot oder ein T-Shirt vom Vortag bekleiden kann, mit einem BH oder nackt. Ihr Körper ist ein Subjekt. Und ihr Spiel mit den Äußerlichkeiten, das ihr bei ihrer Suche hilft, macht ihre Fluidität überzeugend. Es ist, als ob ihr Körper existiert und nicht existiert. Darin liegt eine Form der Metaphysik, sowohl materiell als auch nicht-materiell. Das interessiert mich sehr, denn darin liegt die Kraft, die man dem weiblichen Körper gibt, in seiner Nicht-Zugehörigkeit, der Tatsache, dass er nicht sexualisiert ist, dass er sich wehrt, wenn er verdinglicht wird, wenn er zum Objekt gemacht wird. Julia rebelliert gegen diejenigen, die sie fotografieren.


Ich sehe Julia ein bisschen wie die Medusa, die denjenigen in Stücke sprengt, der es wagt, sie anzusehen. Wenn Julia begehrt wird, dann deshalb, weil sie es akzeptiert hat. Die einzigen Blicke, die sie ertragen kann, sind die von Kais und Ophélie. Den Rest der Zeit kämpft Julia unermüdlich gegen alle Formen der Ausbeutung, Unterdrückung, Fremdheit oder fehlgeleitetes Verlangen.

Ich habe das Gefühl, eines der großen Themen des Films ist Julias Körper. Es ist ein Körper, der mit anderen Körpern kämpft, die nicht so sind wie er. In RODEO geht es um eine Figur, die versucht, ihren Platz in dieser traurigen Welt zu finden. Sie ist auf der Suche nach einem Motor, einer Daseinsberechtigung. Diesen Motor findet sie findet sie in ihrem Bike, aber auch in einem Raub, den sie nur der Anerkennung wegen begeht.


Foto:
Lola Quivoron
©plaion pictures
 


Darsteller 

Julia          Julie Ledru
Kais         Yanis Lafki
Ophélie     Antonia Buresi
Kylian       Cody Schroeder
Ben          Louis Sotton
Manel.     Junior Correira
Mous.      Ahmed Hamdi
Abra        Dave Nsaman
Clark       Mustapha Dianka
Amine.    Mohamed Bettahar
William    Chris Makodi
Sergio     Gianni Caira
Marvin      Quentin Arizzi
Yan           Brice Straehli
Domino.    Sébastien Schroeder

Stab
Regie          Lola Quivoron
Drehbuch   Lola Quivoron, Antonia Buresi

Abdruck aus dem Presseheft