rodeo1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. Juli 2023, Teil 3

Redaktion 

Paris (Weltexpresso) – Es gibt zwei Liebesgeschichten in diesem Film, die parallel zu einander verlaufen. Welche ist denn die echte Liebe?
Julia ist eine Frau, also erwartet man zwangsläufig, dass sie in der Lage ist, einen Körper zu begehren, genauer gesagt einen männlichen. Aber man merkt, dass sie vielleicht tatsächlich eine Frau begehren kann. Die Tatsache, dass sie nicht konkret auf diese beiden Formen des Begehrens reagiert, erlaubt das Stereotyp aufzulösen. Die Erwartungshaltung ist eine Form des Stereotyps. Es ist notwendig, Erwartungen zu durchkreuzen, Überraschungen zu schaffen, das Unbewusste des Zuschauers zu stören.

Ich stelle fest, dass die Leute oft über RODEO sagen, dass er dem Zuschauer das Gefühl gibt, in alle Richtungen geschüttelt zu werden wie in einer Waschmaschine. Wir haben den Film als eine  diskontinuierliche Linie angelegt, mit seinen Abzweigungen, seinen Haarnadelkurven und seinen U-Turns. Die Geschichte besteht aus Brüchen, aus Kontrasten. Einige Szenen enthalten „Jump Cuts“. Es gibt große Ellipsen. Das gibt einen Effekt von Geschwindigkeit, Instabilität, Prekarität, Nervosität. Mir gefällt, dass wir mitgenommen werden und in alle Richtungen geschüttelt werden wie in einem Karussell. Wir werden mitgerissen in dieser Lust am Leben.

Wir haben den Film wie einen Kriegsfilm geschnitten, ohne Pause, ohne dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, sich auszuruhen. Seit Headshot (ein Dokumentarfilm, den ich gemeinsam mit Antonia Buresi geschrieben habe) habe ich mich von diesem Satz von Edouard Glissant leiten lassen: „Wir verstehen die Welt besser, wenn wir mit ihr zittern. Denn die Welt zittert in alle Richtungen.“ Wir müssen mit der Figur der Julia zittern, um sie zu verstehen. In diesem verrückten und beklemmenden Labyrinth, ist es diese Begegnung mit Julia, die den Faden der diskontinuierlichen Erzählung in Gang hält. Ich wollte, dass wir mit ihr verbunden sind, dass wir sie nie verlassen. So entsteht eine sehr konkrete Beziehung zu dieser Figur, mit ihrer Rätselhaftigkeit. Am Anfang sehen wir sie als einen unveränderlichen Block der Wut, der sich aber formt und verfeinert, als sie sich dem Blick von Kais und Ophélie öffnet.


Wie haben Sie mit dem restlichen Cast zusammengearbeitet, die alle die größtenteils keine Profis sind?

Wir haben die Besetzung zusammen mit Julie Allione, der Casting-Direktorin, ausgewählt. Es war eine spannende Aufgabe, das Team zu formen. Vor den Dreharbeiten haben wir uns für zehn Tage nach Nordfrankreich zurückgezogen, um mit Antonia, Yanis und Julie zu proben. Julie hat eine besondere Beziehung zu ihrem Körper. Sie hat eine sehr geringe Energie, fast das Gegenteil der Hauptfigur. Es war notwendig, ihn auf Julias Wut vorzubereiten. Julie straffte ihren Körper. Sie trainierte, aufrecht zu stehen, wie Julia zu gehen, zu schreien, ohne ihre Stimme zu beschädigen. Zu dieser Zeit entstand ein sehr starkes Vertrauensverhältnis.

Dann war da noch die Arbeit mit der großen Gruppe. Wir haben viel vor den Dreharbeiten geübt. Während der Improvisationsübungen haben die Schauspieler jeweils sich und ihre fiktive Figur kennengelernt. Es war toll zu sehen, wie sie ständig im Dialog mit ihnen standen. Die Fiktion formte sie, aber sie ließen sich auch von intimen Dingen ihrer Selbst formen. Das war diese Chemie, die ich filmen wollte. Meine Regieführung drehte sich komplett um sie. Es ist die Energie der Figuren, die mir die Richtung vorgibt. Ich bin da als Anführerin, als Katalysator, der die Energie lenkt, konzentriert oder zerstreut. Es ist ein freies, gemeinsames, kollektives Spiel, bei dem jeder die Verantwortung für seine Figur trägt. Die Figuren in meinem Film sind potentielle Subjekte, die mit ihren eigenen Problemen kämpfen, mit ihrer eigenen Beziehung zur Realität.

Zum Beispiel ist die Szene, in der Julia mit dem ersten großen gestohlenen Motorrad zurückkommt, der Moment, in dem wir erkennen, dass sie die etablierte Ordnung in der Werkstatt durcheinander bringt. Jeder Fahrer hat eine eigene Reaktion auf das, was passiert. Die Figur des Mous, gespielt von Ahmed Hamdi, ist Julia gleichzeitig nahe und vertraut, und gleichzeitig nennt er sie einen „charo de cité“, einen Dieb. Er verkörpert, wie ambivalent Faszination sein kann. Er misstraut Julia, aber er bewundert sie. Er ist der erste, der sie unterstützt, als sie zum ersten Mal die Garage betritt. Seine Reaktion gefällt mir sehr gut, sie ist sehr verstörend, feministisch und sexistisch zugleich. Ich wollte diese Komplexität einfangen.

Gestern habe ich mit Ihnen über die Authentizität der Dialoge gesprochen. Wie ist das gelungen?

Es ist die Realitätsnähe der Darsteller, ihr Engagement für das Spiel. Sie haben ihr Bestes gegeben. Sie haben viel zugehört, wir haben viel geprobt und vor allem fühlten sich alle frei. Bei den Gruppenszenen kam es vor allem auf ihre Energie an. Es war manchmal sehr anstrengend, sie hervorzubringen. Die Wahrheit des Schauspiels musste vor allem anderen Vorrang haben. Bei den Garagenszenen mit der „B-more“-Crew wollte ich unbedingt, dass sie sich den Ort so weit aneignen, dass sie ihn auswendig kennen, so dass die Filmcrew fast zu zahlreich war. Wir haben viel und kontinuierlich gedreht, so dass wir nie die Energie verloren haben. Ich liebe es, so zu arbeiten, Master zu machen, die sehr lang sind, wie Tunnel, in denen wir die ganze Sequenz von A bis Z durchspielen. So entschieden wir uns zum Beispiel, Julia in einer Nahaufnahme zu folgen. Wir folgen ihr dann in all ihren Bewegungen, dann machen wir das Gleiche mit den anderen Figuren, wir multiplizieren die Blickwinkel. Beim Schnitt war das gesammelte Material sehr umfangreich, aber von einer unglaublichen Dichte. Das wirklich Tolle an dieser Methode ist, dass wir sehr schnell nah an der Wahrheit sind, an der Einfachheit, es ist wie eine Partitur, die wir nach
und nach anpassen.

Von dem Moment an, als wir „Action“ sagten, lebten die Figuren die Szene zwanzig Minuten lang. Die Figur der Julia hat sich im Lauf der Dreharbeiten mehr und mehr entwickelt. Wir haben fast der Reihe nach gedreht. Die erste Szene des des Films ist die erste Szene, die wir gedreht haben. Wir waren beide gerade erst angekommen, wir kannten das Team nicht. Am Anfang versuchen wir dieser kleinen Figur zu folgen, die vor Wut aufflackert.

Ich habe Raphaël Vandenbussche, dem Kameramann des Films, immer gesagt, dass wir mit Julia wie mit einer Nabelschnur verbunden sein müssen. Bei den Fahrsequenzen haben wir sie frei gelassen, es war nicht choreografiert. Wir organisierten eine Veranstaltung namens Rasso und brachten eine Menge Statisten aus Paris und Bordeaux. Die Schauspieler im Film fahren alle auf unterschiedliche Art und Weise. Das Komplizierteste ist zu wissen, wie man sein Gewicht verlagert Man ist immer auf der Kippe, es basiert alles auf Vertrauen.

Der Dreh einer Szene ist dann erfolgreich, wenn er über das hinausgeht, was geschrieben steht. Außerdem ist das Drehbuch ein oft steifes und strenges Dokument, das sehr wenig Kreativität hervorruft. Ich habe ihnen nie etwas zum Lesen gegeben. Ich zog es vor, dass sie ihrer Fantasie freien Lauf ließen, und sich nie auf eine vorgefasste Meinung über den Film festlegen. Was ich oft gemacht habe, war, sie während der Tests zusammenzubringen, um Szenen rund um den Film zu improvisieren, die nicht im dem Drehbuch stehen. Ich habe ihnen die Geschichte des Films immer wieder erzählt, auf verschiedene Weise. Ich hatte den Eindruck, dass sie den Film so viel besser aufgenommen haben. Es erlaubt uns auch, das Skript nicht zu etwas Unantastbarem zu machen.
Es ist nicht länger ein Dokument, dem man folgen muss.


Sie sind mittendrin in dieser Realität, aber es gibt auch surreale Elemente wie Julias magisches Desinfektionsmittel. Was macht sie überhaupt damit?

Es ist Salbei, um ihren Körper zu reinigen. Diese esoterische Beziehung kommt von meinem tiefen Glauben an die Macht der Energien, Träume, Zeichen und Symbole. Dieses Thema ist auch ein Erbe eines Film snamens „Ça brûle“, den ich allein beleuchtet, gerahmt und geschnitten habe. Es ist ein sehr einzigartiges Objekt, das ich sehr liebe und das mich weiterhin inspiriert und und mich im Leben begleitet. Der Film ist ein Dokumentar- und Spielfilm und erzählt die Geschichte von der Begegnung zwischen einem Jungen, Khalillou, und einer Frau, Samaya. Dieser Film war der Ursprung für die Traum-Ebene von RODEO.


Es ist lustig, dass Sie über Immaterialität sprechen, denn Ihr Film hat etwas, das sehr im Materiellen verankert ist, im Prosaischen, es gibt Kies, Metall, Funken. Es gibt eine gewisse Härte des Materials, es ist ein rauer Film, in dem es viele Objekte gibt, Rennen, Spielzeug, das Motorrad.

Ja, es gibt eine Form von Dichte, deshalb spreche ich von „Übernatürlichkeit“. Die Nähe zum Material durch die Nahaufnahme, meine Besessenheit von Objekten, signifikanten Details und Symbolen verdichtet den Blickwinkel, poetisiert ihn. Ich glaube, dass die Einzigartigkeit von RODEO in seiner eigenen Mythologie liegt, seiner Struktur, die für mich wie eine Schicht von Signifikanten ist. Wenn man einen Film aufbaut, indem man das Drehbuch schreibt und es dann überarbeitet, gibt es den bewussten und rationalen Teil der Geschichte, aber es gibt auch ihre tiefere und unbewusste Dimension. Diese ist für mich der wichtigste Teil, der auch am schwierigsten zu bewerkstelligen ist. Die Arbeit im Schnitt und beim Abmischen, ermöglicht es, tiefer in diese imaginäre und unbewusste Dimension einzudringen. Die Arbeit rund um den Klang erlaubt uns das Spiel mit dem Immateriellen, dem Flüchtigen, mit dem, was auftaucht, aber nicht gesehen wird. Mit Ton zu arbeiten, bedeutet, von Energien heimgesucht zu werden, von Motiven, der Mystik des Films. Die Lust am Leben, am Tod, Julias Träume, das Erscheinen von Abra.

Die Kraft der übernatürlichen Elemente ist allgegenwärtig. Im Ton wird Abra materialisiert durch den Wind der Geschwindigkeit, der Luftstrom, der gegen das Garagentor klopft, durch die Blätter des Ventilators, dann durch den Hubschrauber, den wir in den Träumen hören... Auch das Feuer ist ein reales Motiv, das wir durch Klang zum Leben erwecken. Es unterstreicht auf konkrete Weise Julias Wunsch nach Anerkennung. Ihre Flügel brennen, um zu leuchten, um die Nacht zu erhellen.


Können Sie uns etwas zum Einsatz der Musik sagen?

Es ist das erste Mal, dass ich so viel Musik in einem meiner Filme einsetze, ich wusste nicht, was ich verwenden sollte. Man hat mir eine Menge Alben zum Anhören gegeben, aber ich mochte sie nicht, sie waren zu akademisch oder vorhersehbar. Dann war da dieser Typ namens Kelman Duran, er kommt aus Los Angeles und ist dominikanischer Herkunft. Er ist Musikproduzent und sein Ding ist es, Reggaeton-Samples zu nehmen und er verwandelt den Sound, er verzerrt ihn komplett. Er schleift, er loopt sie endlos, so dass es seltsam wird. Das ist Post-Reggaeton die ursprünglich eine festliche, tanzbare Musik ist. Er verlangsamt bestimmte Abschnitte, raut den Rhythmus ein wenig auf, schafft Pausen, Schleifen. Es entstehen völlig melancholische, metallische Stücke. Was er für den Film gemacht hat, ist perfekt.


Sie sind sehr aufmerksam in Bezug auf Fragen der Sprache, Benennung, Worte. Wie ist der Filmtitel RODEO zustande gekommen?


Rodeo ist ein Begriff für das Leben auf dem Motorrad, der in den Vereinigten Staaten sehr akzeptiert und keineswegs abwertend ist, während er in Frankreich sehr negativ konnotiert ist wegen reaktionärer Journalisten und Politiker, die dieses Wort benutzen, um diese Praxis des „Cross-Bitumen“ als eine Form der Kriminalität zu bezeichnen. Ich wollte vermeiden, einen scharfen Akzent auf das e von Rodeo zu setzen direkt und mich so direkt auf die amerikanische Sprache zu beziehen. Es ist eine Möglichkeit der Wiederaneignung dieses Begriffs. Einmal wollte ich den Titel ändern, aber die Biker haben es mir verboten. Ich wollte den Film „La Dalle“ nennen, wie Hunger, wie ein Grabstein, wie unbändiges Verlangen. Rodeo ist gut, es ist Bewegung. Rodeo ist auch ein Kampf – ein Kampf, um durchzuhalten und um nicht von der Leinwand verdrängt zu werden.


Gibt es Filme, die Ihr Schreiben beeinflusst haben?

Ich hatte mehrere Filmfreunde, die das Schreiben von RODEO begleitet haben, und in denen viel von Wut die Rede ist... „...denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean oder „Lärm und Wut“. Letzterer ist ein großartiger Film. Ich mag seine Brutalität, seine immense Poesie, seine traumhafte Kraft. Ich habe das Gefühl, dass ich die Gewalt jeder Figur verstehe. An das Licht der Traumsequenzen zu denken, Raphael Vandenbussche (mein Kameramann) und ich waren sehr inspiriert von den Traumszenen mit der Erscheinung der Frau und dem Vogel. Die Figur der Julia ist sehr stark von den paranoiden Figuren dieses Kinos inspiriert. Ich bin fasziniert von unsympathischen, drogensüchtigen Figuren, die sich in einer manchmal selbstzerstörerischen existenziellen Krise befinden.

Foto:
©Verleih


Darsteller 

Julia          Julie Ledru
Kais         Yanis Lafki
Ophélie     Antonia Buresi
Kylian       Cody Schroeder
Ben          Louis Sotton
Manel.     Junior Correira
Mous.      Ahmed Hamdi
Abra        Dave Nsaman
Clark       Mustapha Dianka
Amine.    Mohamed Bettahar
William    Chris Makodi
Sergio     Gianni Caira
Marvin      Quentin Arizzi
Yan           Brice Straehli
Domino.    Sébastien Schroeder

Stab
Regie          Lola Quivoron
Drehbuch   Lola Quivoron, Antonia Buresi

Abdruck aus dem Presseheft