Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. August 2023, Teil 3
Valentin Merz
Berlin (Weltexpresso) - EXPERIMENTIEREN: Mit NACHTKATZEN wollte ich mir so viel Freiheit wie möglich nehmen. Ich wollte mit Immersion und Improvisation arbeiten und mich während dem Dreh überraschen lassen. Zu Begin der Dreharbeiten hatte ich mehrere Szenen in Kapitel eingeteilt und wusste, was die wichtigsten Handlungsstränge sein würden, es gab aber kein Drehbuch:
Die Geschichte kristallisierte sich während des Drehens heraus, sodass die genaue Handlung auch für mich erst dann entstand.
LUST
Die verschiedenen Stimmen, Körper, Sprachen und Geräusche des Films werden durch die Fiktion miteinander verwoben und erlauben, verschiedene lebendige Materialien ins Spiel zu bringen. Die Schauspieler*innen sind sehr präsent, eine treibende Kraft im Film, ebenso wichtig wie die Erzählung und die theoretischen und formalen Aspekte. Die Kamera folgt ihnen aufmerksam und zugeneigt.
EIN SELBSTREFLEXIVER FILM
Ich wollte einen Film machen, der seiner selbst bewußt ist, als ob er sagen könnte: „Ich bin ein Film, ich bin konstruiert und durchdacht“. Ich mag es in Filmen daran erinnert zu werden, daß man dabei ist, einen Film zu schauen und man doch gleichzeitig von einer Geschichte mitgerissen wird – ich hoffe, das ist mir mit meiner Geschichte, die von einer idyllischen französischen Landschaft zum Istmo de Tehuantepec in Mexiko führt, auch gelungen.
Gemeinsam mit den Darsteller*innen und der Crew wollte ich das Genre der Metafiktion lustvoll erkunden, in welchem die Grenzen zwischen der fiktiven Erzählung und dem Making-Of verschwimmen.
Wir folgen dem Entstehen verschiedener Erzählstränge, die fließend ineinander übergehen: Es gibt die Hauptgeschichte und den Film im Film. Neben dem spielerischen Umgang mit Fiktion und Narration habe ich versucht, die klassische Trennung zwischen den Darsteller*innen hinter und dem Team vor der Kamera aufzuheben: der Regisseur, der Kameramann und andere Crewmitglieder spielen ihre eigenen Rollen.
ALTER EGO
kurzen Dokumentarfilm „Brothers – Family Film“ (2020), gedreht, in dem mein Bruder und ich die beiden Hauptfiguren spielen. Meine Rolle ist eine leicht fiktionalisierte Version von mir. In NACHTKATZEN wollte ich diesen Ansatz weiterverfolgen, mein Leben zu fiktionalisieren und es aufregender und ergreifender machen.
Im Film habe ich mehrere Affären und meine Liebhaber kämpfen leidenschaftlich um mich. Ich stelle mir auch meinen eigenen Tod mit einer romantischen Beerdigung vor.
Ich wollte, daß Valentin eine zweideutige Figur ist. Er wirkt engelsgleich, aber nutzt auch seine Position als Regisseur aus.
DAS ENSEMBLE
Es gibt mehrere Hauptfiguren im Film, wie bei einer Matroschka-Puppe. Die Geschichte jeder Figur führt zur nächsten mit ihrem eigenen Subgenre, Erotikfilm, Zombiefilm, Krimi oder magischer Realismus. Die Charaktere suchen alle nach etwas – und anstatt es zu finden, verirren sie sich. Valentin und die Bestatter verirren sich im eintönigen, endlosen Tannenwald; Robin im üppigen Dschungel; die Polizisten in ihren Ermittlungen…
VIELFALT (a.k.a. DIVERSITÄT)
NACHTKATZEN bringt Protagonisten mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen: Bauern aus dem Limousin, Asylsuchende aus Mauretanien, Schauspieler*innen aus dem Bereich der Pornografie, die sich mit dem Thema der sexuellen Ausbeutung auseinandersetzen. Dazu „klassische“ Film- und Theaterschauspieler*innen sowie Muxe (das sogenannte dritte Geschlecht Mexikos) aus dem Isthmus von Tehuantepec in der Region Oaxaca in Mexiko. Ich wollte, daß die Handelnden und ihre Figuren genügend Raum bekommen, um ihre eigenen Sehnsüchte zu erforschen.
NACHTKATZEN ist sich der Bedeutung von Sexualität im Leben der meisten Menschen bewußt. Der Film will einen zärtlichen und zugleich skurrilen Blick auf dieses Setting werfen, indem das Experimentieren er mit verschiedenen Fantasien und Wünschen ermöglicht. Obwohl es meine Absicht war, den Film durch Leichtigkeit und Freude zu gestalten, sterben der Regisseur Valentin und sein Geliebter Robin am Ende. Die vielen Bilder von Leichen – Zombies, Tiere, Menschen – verweisen auf die Gefahr und die Gewalt, denen Menschen ausgesetzt sind, die nicht der Norm entsprechen.
PRODUKTION
Ich habe mich für eine alternativ-native Produktionsweise entschieden, um den kreativen Prozeß dynamischer zu gestalten, indem ich den klassischen Realisierungsprozeß umgehe.
Der Philosoph Félix Guattari schrieb, man müsse zuerst die Institution behandeln, um einen Nervenkranken zu heilen. Eines der Hauptprobleme sei die Hierarchie, wobei die Patienten durch die Übertragung von Verantwortung Selbstvertrauen gewinnen müßten. Er stellte sich daher einen anderen Ansatz vor: Die Patienten würden für Patienten kochen, sie dorthin bringen, wo sie gebraucht werden, ihren Haushalt erledigen und Theaterstücke inszenieren… Dieser Ansatz brachte mich auf die Idee, das Filmteam und die Schauspieler über die ihnen üblicherweise zugewiesenen Aufgaben hinaus in die Abläufe einzubeziehen. Auch wenn dies unsere Arbeit nicht einfacher machte, waren die Auswirkungen auf die Dreharbeiten äußerst positiv. Das Team fühlte sich stärker involviert und unbefangener, traditionelle Hierarchien und Unterschiede, wie sie am Filmset üblich sind, wurden aufgehoben.
MUSIK
Lieder und Texte reflektieren die Handlung. Die meisten dieser Hits aus den 1970er Jahren tragen zur partyartigen und orgiastischen Atmosphäre bei. Manchmal gibt die Interpretenstimme einen poetischen Ausblick auf zukünftige Ereignisse: Der Film beginnt zum Beispiel mit der italienischen Version des Liebesliedes „Aline“ von Christophe, in dem es um eine Frau geht, die plötzlich verschwindet – „aimée qui disparaît sur la plage“. Das Lied kündigt das Schicksal von Valentin und Robin an.
DE NOCHE LOS GATOS SON PARDOS
De noche los gatos son pardos würde man im Deutschen mit „im Dunkeln sind alle Katzen grau“ übersetzen. Obwohl die Bedeutung des Sprichworts in beiden Sprachen dieselbe ist, bedeutet „de
noche“ auf Spanisch „nachts“, und „pardos“ ist nicht grau, sondern eine nicht genau definierbare rot-bräunliche Farbe.
Nachts ist es schwieriger, die Dinge zu unterscheiden, und wir verwechseln sie leichter. In Tehuantepec sagte mir Karla Yaziri, eine der Muxe-Darstellerinnen in meinem Film, daß sie die Nacht liebt, wenn die Leute nicht wirklich erkennen können, wer man ist und man wirklich die Person sein kann, die man sein will. Ich habe auch das Gefühl, daß wir nachts oft eher bereit sind, gesellschaftliche Konventionen zu überschreiten, und so besser wir selbst sein können.
FILME BEFREIEN DEN KOPF
Ich wollte einen Film über die großen Themen in meinem Leben machen: Filme, Liebe, Sex und Tod. Im Idealfall greift das Publikum auch andere Aspekte auf, deren ich mir nicht bewußt bin. Der Arbeitstitel des Films war „Filme befreien den Kopf“, ein Zitat von Rainer Werner Fassbinder.
Ich hoffe, daß ich den Zuschauer*innen dieses Gefühl vermitteln kann!
ÜBER VALENTIN MERZ
Valentin Merz: geboren1985 in Zürich, wohin seine Mutter aus Istanbul eingewandert war. Er arbeitete in Mexiko-Stadt als Typograf und in Berlin fünf Jahre lang im Bereich Kino und Theater. 2014 absolvierte er ein Filmstudium an der Haute École d’Art et de Design (HEAD) in Genf. Seine Kurzfilme wurden weltweit auf Festivals gezeigt. „Brüder – Ein Familienfilm“, sein jüngster Kurzfilm, wurde bei Visions du Réel 2020 uraufgeführt. NACHTKATZEN, sein Spielfilmdebüt, wurde 2022 in Locarno uraufgeführt, wo er eine lobende Erwähnung für den besten Erstlingsfilm erhielt.
Seitdem wurde der Film auf internationalen Festivals gezeigt, darunter Rotterdam, Thessaloniki, Sevilla, São Paulo und der Berliner Woche der Kritik. Valentin ist Gründer der Produktionsfirma Andrea Film und spielt auch in Produktionen und Filmen mit, in seinen eigenen, aber auch in
denen von Kolleg*innen, wie in Cyril Schäublins „Unruh“.
Foto:
©Verleih
Info:
mit
Adrian Merz
Alain Labrune
Andoni de la Cruz
Bishop Black
Candida Sanchez Céline Carridroit
Daniel Binggeli
Dogartzi Magunagoicoechea
Donaji Mendoza
Jean-Charles de Quillacq
Jean Legros
Kahlil Dahi
Leon David Salazar
Mara Thurnheer
Marie Lanne-Chesnot
Matthieu Palud
Maxi Schmitz
Miguel Moraes Cabral
Nad
ège Naria
Natalia Portnoy
Pablo Marte
Printille Davigo
Robin Mognetti
Sharon Celeste
Tatiana Pozzo di Borg
Valentin Merz
Yanna Rüger
Yannick Chassagne
Wanda Wylowa
Fassung: deutsch, englisch, französisch, kastilisch, Schweizerdeutsch mit deutschen Untertiteln
110 min., Farbe
Verleih: GMfilms
Abdruck aus dem Presseheft