Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie sind Sie auf die Idee für das Drehbuch gekommen?
Es war eine Kombination aus drei Dingen: Das erste war ein Abendessen mit Vincent Roget, einem der Produzenten des Films. Zusammen mit Pierre Forette und Thierry Wong hatten sie einen meiner Filme, MEINE GEISTREICHE FAMILIE, pro- duziert und wir sprachen informell über mögliche Projekte. Im Laufe des Gesprächs kamen wir auf John Ford zu spre- chen, insbesondere auf die Zeit, in der er für Fox arbeitete. Wir sprachen über die tiefe Menschlichkeit der Charaktere, die von Schauspielern wie Will Rogers verkörpert wurden. Ich mag die scheinbare Einfachheit dieses Kinos und er- zählte Vincent, der selbst ein großer Ford-Fan ist, davon. Dann brachte einer von uns die Hypothese ins Spiel, dass der Film auf einer zufälligen und harmlosen Begegnung auf- bauen könnte – zum Beispiel nach einer Autopanne. Dann schwenkte das Gespräch auf ein anderes Thema um. Aber der Samen war wohl gepflanzt.
Mehrere Monate später brach die Coronakrise aus. Am Tag nachdem die Einschränkungen verkündet wurden, wechselte ein mir entgegenkommender Passant die Straßenseite, um mir auszuweichen. Er kannte mich gar nicht, aber hatte Angst vor mir! Ich ging wieder nach Hause, nahm mir einen Moment Zeit zum Nachdenken und rief Pierre Forette, Vincent Roget und Thierry Wong an, für die ich gerade einen anderen Film schrieb. Ich bat sie, mir einen Monat Zeit zu geben, um ihnen ein Thema vorzuschlagen, über das ich dringend schreiben musste. Die Zeit schien angehalten worden zu sein und ich beschloss, mit dem Schreiben eines Drehbuchs gegen den aufkommenden Zustand des Misstrauens anzukämpfen.
Die Idee war, einen „Handschlag“-Film zu schreiben. Einen Film, der davon erzählt, dass Anderssein etwas Positives ist, und wie gut es sein kann, Vertrauen in einen anderen Menschen zu haben. Ich erinnerte mich an diese beiden Menschen, die nach einer Autopanne am Straßenrand auf mich warteten. Und schließlich der dritte Grund: Grégory Gadebois. Ich hatte gerade À LA CARTE! - FREIHEIT GEHT DURCH DEN MAGEN (2021) beendet und wollte so schnell wie möglich wieder mit ihm arbeiten. Die Idee für seine Figur hatte ich schon seit einiger Zeit. Ich musste nur noch den richtigen Schauspieler für die zweite Hauptrolle finden. Und natürlich die Geschichte.
Das Gespann, das Grégory Gabebois und Lambert Wilson bilden, ist in der Tat sehr weit entfernt von denen, die man sonst auf der Leinwand zu sehen bekommt...
Es ist das Wort „Gespann“, das die Sache verkompliziert. Normalerweise wird es für Buddy-Movies verwendet, die auch Actionfilme sind. Ich liebe zum Beispiel DIE FILZLAUS (1973) und MIDNIGHT RUN (1988), aber das ist nicht die Art Film, die ich machen wollte. Großartig ist natürlich MEIN ES- SEN MIT ANDRÉ (1981) von Louis Malle. Zwei Schauspieler unterhalten sich in einem Restaurant und es bleibt die ganze Zeit spannend. Allerdings bin ich eher ein Outdoor-Typ. Ich liebe den Wind und die Landschaft. Daher wusste ich, dass meine Figuren an die frische Luft gehen würden. Außerdem haben wir alle unsere Macken. Ich bin Drehbuchautor und kann noch so sehr auf Einfachheit setzen, ich komme nicht umhin, meine Geschichte mit Wendungen zu versehen.
Es handelt sich also weder um eine Actionkomödie noch um einen einfachen Dialogfilm. Mein roter Faden als Ant- wort auf die Veränderungen der Gesellschaft seit Corona war die Möglichkeit einer Begegnung und sogar einer neu- en Freundschaft. Mir wurde also klar, dass ich einen Film über Freundschaft machen würde. Aber was ist überhaupt ein Freund? Dann wurde mir klar, dass die meisten Filme über Freundschaft Menschen zeigen, die sich seit dreißig oder vierzig Jahren kennen – zum Beispiel DER GROSSE FRUST (1983), EIN ELEFANT IRRT SICH GEWALTIG (1976) oder PETER‘S FRIENDS (1993).
Ich wollte etwas anderes ausprobieren. Mir gefiel die Idee, von einer Begegnung auszugehen. Und an einem Wochen- ende die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine ein- fache, scheinbar zufällige Kreuzung zum möglichen Beginn einer tiefen Freundschaft wird. Tatsächlich wurde mir beim Schreiben klar, dass alle meine Konstruktionspunkte die einer romantischen Komödie waren. Und als ich das Skript noch einmal las, dachte ich, dass der Film, der meinem in Bezug auf die Konstruktion am nächsten kam, sicherlich DIE SCHÖNEN WILDEN (1975) von Jean Paul Rappeneau war.
Das war nicht beabsichtigt, aber im Grunde ist es gar nicht so erstaunlich. Die Geschichte einer Begegnung und der Möglichkeit, dass sich das Leben auf den Kopf stellt. Im Grunde ist es eine Fantasie, die wir alle schon einmal ge- habt haben.
Worauf haben Sie Ihren Film aufgebaut?
Zunächst einmal auf einem scheinbar sehr einfachen und klaren Gegensatz zwischen meinen beiden Figuren. Als Pierre Vernant und Vincent Delcourt einander begegnen, scheinen sie die Antipode des jeweils anderen zu sein. Dann entfaltet sich die Geschichte und man merkt, dass sie viel komplexer sind, als es zunächst den Anschein hatte. In einer romantischen Komödie sind das Spiel der Verführung und das Aufkommen von Liebesgefühlen die Hauptlinien. Das war mir hier nicht vergönnt. Meine Triebfedern mussten also woanders liegen. Zunächst einmal in der Komplexität der Charaktere. Jeder der beiden versteckt sich hinter einer sozialen Maske. Das geht so weit, dass sie sich sogar selbst belügen. Und die Begegnung mit dem anderen ermöglicht es jedem, sich selbst zu finden. Die Entdeckung der wahren Identität jedes einzelnen Charakters nährt die Erzählbögen. Mir gefiel die Idee, mit Archetypen zu spielen. Daran zu erinnern, dass wir alle viel komplizierter sind, als wir aussehen.
Nur weil Sie Holzarbeiten machen, ohne ein Wort zu sagen, sind Sie noch lange kein Einfaltspinsel. Und nur weil Sie ein mächtiger Mann sind, der um die Welt reist, heißt das nicht, dass Sie keine inneren Brüche haben. Ich habe mir vorgestellt, dass die beiden nach und nach ihre gegenseitigen Schwächen aufdecken, dass sie sich dessen bewusst werden, wovor sie bislang geflohen sind. Und das jeder auf seine Weise: der eine prahlt, der andere versteckt sich hinter einer schweigsamen Holzfällerpersona. Beide sind auf der Flucht. Ihre Begegnung zwingt sie nicht nur zum Anhalten, sondern auch dazu, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Ich arbeite außerdem schon seit mehreren Filmen an der Zerbrechlichkeit des Männlichen. Bisher gab es immer eine Frau, die meine Figuren vor sich selbst rettete und sie dazu zwang, sich zu verändern. Dieses Mal müssen sie ohne sie auskommen. Indem sie ihre Masken ablegen, lernen sie, zu ihrer Zerbrechlichkeit zu stehen.
Jede ihrer aufeinanderfolgenden Enthüllungen wirkt wie ein Theatercoup, was den Eindruck erweckt, dass Ihr Film trotz seiner schlichten Handlung nie in eine Linearität verfällt...
Ihre Bemerkung berührt mich, weil ich mir während der gesamten Entstehungsphase des Films überlegt habe, dass ich mich aufgrund der Einfachheit seiner Konstruktion auf nichts Äußeres verlassen kann, um den Film spannend zu halten. Ich wusste, dass ich nur auf die allmähliche Offenlegung der Psychologien von Pierre und Vincent setzen muss. Sie mussten die zwei Seiten in jedem von uns darstellen – denjenigen, der effizient, schnell, erfolgreich, anerkannt und zeitgemäß sein möchte, und der, der die Kontemplation, die Reflexion und die Ruhe vorzieht. Wir alle sind zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen. Rafting in den Stromschnellen oder am Ufer sitzen und das glitzernde Wasser betrachten. Jeder von uns ist auf der Linie eingeschrieben, die zwischen diesen beiden Extremen gespannt ist. Und es ist nicht leicht, seinen Platz zu finden. Auf seine Weise sagt der Film aus, dass wir uns oft über den Platz, an dem wir uns einschreiben, belügen und dass unsere tiefsten Sehnsüchte oft woanders liegen. Deshalb steht die Idee der Lüge im Mittelpunkt der Konstruktion. Darin liegt der Trick des Drehbuchautors. Die Figuren belügen uns, weil sie sich selbst belügen. Und wir entdecken nach und nach die Wahrheit hinter den Lügen. Die Erzählung wird durch die Entdeckung dieser Wahrheiten angetrieben.
Warum haben Sie aus Pierre Vernant einen Spezialisten für Meeresbiologie gemacht?
- Es erfordert eine Form von Demut, um mit Dingen zu arbeiten, die man nicht sehen kann. Das passt gut zu Pierre. Ich wollte einen möglichen Nobelpreisträger darstellen, der sich hinter den Manieren eines Holzfällers versteckt. Ich wollte nicht etwas zu Poetisches wie Astrophysik oder etwas zu Abstraktes wie Mathematik. Ich brauchte ein originelles Forschungsgebiet, dessen Anwendungen potenziell sehr konkret sind und kommerzielle Interessen wecken können. Ich schaute mich in viele Richtungen um, bis ich plötzlich auf erstaunliche Fotos von Plankton stieß. Ich recherchierte und fand heraus, dass diese Mikroorganismen nicht nur ganz am Anfang der Nahrungskette stehen, sondern auch eine große ökologische Herausforderung und einen möglichen Weg darstellen, um die Ernährung einer ständig wachsenden Bevölkerung zu garantieren. Es handelt sich hierbei um eine Domäne der Zukunft. Ich fand das alles nicht nur spannend, sondern dachte mir auch, dass es eine gewisse Komik hätte, wenn ein Meeresbiologe in den Bergen untertauchen würde. Das würde Fragen nach seinen Motiven aufwerfen. Und wir müssten sie beantworten...
Fortsetzung folgt
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Buch und Regie Éric Besnard
Besetzung
Vincent Lambert Wilson
Pierre Grégory Gadebois
Camille. Marie Gillain
Stella Magali Bonat
Monceau. Antoine Gouy
Journalistin. Déborah Lamy
Philippe. Pascal Gimenez
junge Kollegin. Amandine Longeac
Arzt. Pasquale D‘Inca
Pressesprecher. Félix Fournier