Bildschirmfoto 2023 10 05 um 22.50.39Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Oktober 2023, Teil 8

Redaktion

München (Weltexpresso) –  „Es ist bis heute nicht langweilig“! Was Franz Gernstl, 72, und sein Sohn Jonas, 39, über die Auswahl ihrer Protagonisten, die vielen Tage im Schneideraum – und die wichtigste Erkenntnis aus vierzig Jahren Herumfahren zu sagen und zu zeigen haben.


Ihr neuer Kinofilm „Gernstls Reisen – Auf der Suche nach irgendwas“ blickt auf 40 Jahre zurück und ist ein Loblied auf den Zufall. Welche Rolle spielte der Zufall für den Start der Gernstl-Filme?

Franz Gernstl: Der Zufall hieß Georgia. Eine coole Frau, die ich Mitte der 70er Jahre kennenlernte. Doch es stellte sich heraus, dass sie einen Ehemann hat. Wir sind trotzdem zusammengekommen. Nach einem Jahr hatte sie die Nase voll, erst von mir, dann von ihrem Mann, dem HP Fischer, der später mein Kameramann wurde. Wir waren beide verlassen, freundeten uns an und machten in München eine Wohngemeinschaft auf. Bei einer großen Reise durch Kalifornien hatten wir dann die Idee: Wir verbinden Vergnügen und Arbeit und drehen ein Roadmovie.

1983 war es dann so weit. Für das Bayerische Fernsehen machten Sie die erste Reise, am 10. Längengrad entlang – vom Allgäu bis zur Ostsee.

Franz Gernstl: Wir haben vom BR den Auftrag für vier Fernsehfilme bekommen. Die Idee war: Nicht groß recherchieren, sondern rumfahren und mit interessanten Leuten ins Gespräch kommen. Der Redakteur warnte uns: „Wenn ihr bei der zweiten Tankstelle oder beim dritten Bauern seid, wird es fad.“ Es ist aber nicht langweilig geworden, bis heute nicht. Was die Leute vordergründig machen, ist egal. Es geht uns darum, herauszufinden, warum sie etwas machen, und wir wollen ihre Lebensphilosophie kennenlernen.

Mittlerweile sind 200 Fernsehfilme entstanden. Was ist das Erfolgsrezept?

Jonas Gernstl: Die Filme erfüllen Sehnsüchte. Da sind drei Kerle unterwegs, die mit einer erstaunlichen Beiläufigkeit, Essenzen des Lebens finden und dem Wesen des Seins auf die Spur kommen. Das erschöpft sich erstaunlicherweise nicht, sondern zeigt sich in immer neuen Facetten.

Franz Gernstl: Bei einer Testvorführung des neuen Kinofilms haben auffällig viele Besucher gesagt, dass sie es sympathisch finden, dass wir die Menschen nicht beurteilen. Dass wir ihnen wohlwollend gegenübertreten und ihnen eine Plattform geben, ihre Geschichte zu erzählen.

Jonas Gernstl: Deswegen heißt der Film ja auch „Gernstls Reisen – Auf der Suche nach irgendwas.“ Weil ihr nicht genau wisst, was ihr sucht, sondern offen durch die Welt geht.
Franz Gernstl: Vielleicht ist ein Geheimnis, dass wir für die Zuseherinnen und Zuseher ein stellvertretendes Reiseteam sind. Es gibt etliche, die uns schreiben, sie hätten die eine oder andere Reise nachgemacht und würden jetzt anders reisen. Rumgernstln, ein Begriff, der sich für das ziellose Herumfahren etabliert hat.

Wie wählen Sie die Leute für Ihre Filme aus?

Franz Gernstl: Wir haben keine festen Kriterien. Wenn wir sehen, wie einer im Vorgarten eine Rosen schnippelt, fahren wir im Bus langsam vorbei und schauen genauer hin. Man sieht den Leuten an, ob sie oder er eine Pappnase ist, oder ob der Typ oder die Frau etwas zu erzählen hat.

Jonas Gernstl: Ich glaube, jeder schaut sich andere Menschen an und überlegt sich, ob sie oder er interessant sein könnte. Der Unterschied ist, dass das Gernstl-Trio wegen der Kamera die Erlaubnis hat, die Leute anzuquatschen und zu gucken, was hinter der interessanten Fassade steckt.

Franz Gernstl: Das stimmt. Im Grunde bin ich ein schüchterner Mensch, mit der Kamera habe ich einen Vorwand, auf jemanden zuzugehen.

Was sind die besten Fragen, um das Eis zu brechen?

Franz Gernstl: Was machen Sie da? Was sind das für Brathendl? Wie geht es den Rosen? Immer mit banalen Fragen beginnen, auf die Situation bezogen. Wenn eine Leidenschaft extrem ist, frage ich manchmal: Was sagt die Frau dazu, dass du jeden Abend im Keller an deiner Eisenbahn herumbastelst? Dann wird es meistens emotional.

Jonas Gernstl: Es ist ein angenehmes Geplauder, bei dem einer im besten Fall sein Herz öffnet. Oft haben die Leute ihre Geschichte, die sie erzählen wollen. Man muss sie nur behutsam hinschieben.
Franz Gernstl: Sie aufs richtige Gleis heben. Wenn ich mit den Leuten rede, habe ich keinerlei kritische Distanz. Ich möchte sie oder ihn zum Star machen, zum Strahlen bringen. Erst beim Anschauen des Filmmaterials merke ich, ob das funktioniert hat oder nicht.

Nun kommen die Geschichten auf die große Leinwand. Wie ist der Kinofilm entstanden?

Franz Gernstl: Jonas und ich haben uns mit Cutter Rolf Wilhelm in den Schneideraum gehockt und gut zehn Wochen lang die Geschichten aus 40 Jahren angeschaut. Die Auswahl haben wir sehr pragmatisch getroffen: Wenn zwei von uns drei gesagt haben, die Geschichte passt, dann hat es gegolten. Wenn zwei gesagt haben, die ist nix, ist sie rausgeflogen.

Jonas Gernstl: Das war ein aufreibender Prozess, bis wir die Richtung gefunden haben. Es gab ja unendlich viele Möglichkeiten.

Franz Gernstl: Im Laufe der Jahre haben wir mit etwa zweitausend Leuten gedreht, tausend davon waren bislang in unseren Filmen zu sehen.

Jonas Gernstl: Der Film ist außerdem ein Making-of. Ich kenne Kameramann Hans Peter Fischer und Tonmann Stefan Ravasz seit meiner Kindheit. Mit ihnen habe ich Interviews gedreht und mir erzählen lassen, wie sie auf die vergangenen 40 Jahre blicken. Und man sieht Franz und mich beim Kochen und Reden übers Leben.

Was sind Ihre Lieblingsszenen im Film?

Jonas Gernstl: Ich finde Fuzzy vom Wiener Naschmarkt mit seinem Plädoyer für Zufriedenheit in schwierigen Lebenssituationen sehr berührend. Und ich mag die Geschichte zwischen Herrn Hünermund und seinem Sohn, der ein Handicap hat, sehr gerne.

Franz Gernstl: Mir gefällt am besten die Geschichte mit der Waldfriseurin. Die hat den Spieß plötzlich umgedreht und angefangen, das Team zu befragen. Und sie hat uns erklärt, was das Geheimnis einer guten Beziehung ist. „Wenn du dich selbst magst und den anderen nicht brauchst, dann kannst du ihn lieben.“

Der Großteil der Geschichten spielt in Deutschland. Was hat sich verändert, seit Sie mit dem Bus unterwegs sind?

Franz Gernstl: Die Leute sind offener und toleranter geworden.
Jonas Gernstl: Wenn man sich das Archivmaterial anschaut, merkt man, dass es heute viel weniger extrovertierte, freakige Menschen gibt, die selbstvergessen und ab vom Mainstream ihr Ding durchziehen.

Franz Gernstl: Typen, die sich Schloss Neuschwanstein in den Garten bauen oder extravagante Hühner halten, gibt es kaum mehr. Heute hocken alle am iPad und spielen da herum. Die Buntheit an Leuten, die nicht darauf schauen, was die Nachbarn sagen, ist weniger geworden. Wir müssen heute jedenfalls länger nach interessanten Geschichten suchen, als es früher der Fall war.

Sie haben mal im Scherz gesagt, die Filmerei ist für Sie eine permanente Psychotherapie. Was ist Ihr Fazit aus all den Jahren?

Franz Gernstl: Das Leben ist, wie es ist. Das klingt so banal, dass man es gar nicht sagen möchte. Aber es ist tatsächlich die wichtigste Erkenntnis, die ich in 40 Jahren gewonnen habe. Nimm die Würfel, wie sie gefallen sind, und mache das Beste daraus.

Nach dem Film ist vor dem Film. Was ist als Nächstes geplant?

Franz Gernstl: Zum 40-jährigen Jubiläum hatte unsere Redaktion im BR die Idee für die Reihe „Call a Gernstl“. Dafür drehen wir den Spieß um: Nicht wir fahren herum und suchen, sondern die Leute können sich uns zu sich nach Hause bestellen, wenn sie etwas Interessantes zu zeigen oder zu erzählen haben. Wie das funktioniert, wissen wir noch nicht. Im Sommer und Herbst werden wir drehen. Der Sendetermin ist voraussichtlich zum Jahresende.

Es ist also kein Ende in Sicht?

Franz Gernstl: Ich bin jetzt 72, könnte mich auf eine Parkbank hocken und mit dem Kopf wackeln, aber das ist keine so erfreuliche Tätigkeit. Ich drehe die Filme nicht wegen des Geldes, sondern weil es eine schöne Tätigkeit ist. Wir machen weiter, bis einer von uns dreien im Rollstuhl sitzt. Uns haben oft Leute erzählt: Hört ja nicht auf mit dem Arbeiten. Wenn ihr aufhört, steht der Tod vor der Tür.


Jetzt steht erstmal der Kinostart vor der Tür. Wer sollte sich „Gernstls Reisen –
Auf der Suche nach irgendwas“ unbedingt anschauen?

Franz Gernstl: Bei den Probevorführungen haben die Besucher gesagt, wir sollten die ganzen Jammerer reinschicken, die sich über das Leben aufregen.

Jonas Gernstl: Alle mit schlechter Laune.

Franz Gernstl: Der Film entlässt vielleicht mit einem leicht melancholischen Gefühl, aber mit dem wohligen Gefühl, dass das Leben schön ist.


Foto:
©Verleih

Info:

Regie.          Franz X. Gernstl, Jonas Gernstl 
Drehbuch.    Franz X. Gernstl, Jonas Gernstl
Kamera.       HP Fischer
Ton               Stefan Ravasz
Musik  René Aubry 

Deutschland 2023
92 Minuten
Format: 16:9

Abdruck aus dem Presseheft