Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das war völlig überraschend, wie gut, ja, wie sehr gut mir dieser Film gefiel. Ich hatte noch nie von den Filmemachern, einem eingespielten Fernsehteam vom Bayerischen Rundfunk gehört, die seit 1983 in 'Gernstls unterwegs' ganz unterschiedliche Menschen porträtierten, die in diesem Film zweierlei machen: sie besuchen diejenigen, die sie damals interviewten und wir sind dabei - und sie zeigen die damaligen,die alten Aufnahmen, was Dynamik ergibt.
Aber das ist nicht alles! Gleichzeitig ist der Film aus lauter alten Geschichten auch ein Film über das, was. man MAKING OF nennt, denn wir sind mitdabei, wenn die Filmemacher über ihre Reise diskutieren, wenn sie auswählen, wen sie besuchen und auch über das Zusammenschneiden des Films, da man aus dem Material wohl noch mehrere Filme hätte machen können. Und, die hätte ich mir auch noch angeschaut. Sicher liegt das an der unaufgeregten, sehr spontanen Fragetechnik von Franz Gernstl, der im Team derjenige ist, der das Mikrophon in der Hand hält und einfach auf alle möglichen Leute zugeht. Dazu gehört, daß er - wirklich völlig anders als normalerweise bei Dokumentarfilmen - überhaupt kein Skript, kein Drehbuch hat, sondern daß er sich zusammen mit Kameramann HP Fischer und dem Tonverantwortlichen Stefan Ravasz auf den Weg macht und sich von den Gelegenheiten, die sich ergeben, inspirieren läßt und X-Beliebige anspricht. Aber das sind eben nicht X-Beliebige, sondern er hat ein Händchen dafür, auf Menschen zuzugehen, die nicht die Norm in der Bundesrepublik Deutschland darstellen, sondern Individualisten, die ihren eigenen Weg gehen, sehr spezielle Ansichten haben oder eben ein ungewöhnliches Leben oder einen seltenen Beruf. Das Erstaunliche ist aber, daß sich aus dem Zusammentreffen wie von alleine dann die großen Fragen des Lebens: Wer bin ich, mit wem will ich sein, wie will ich leben und was muß ich tun, damit dies eintritt, beantworten.
Aufrichtig beantwortet auch Franz Gernstl, insbesondere im mitgeschnittenen Gespräch mit seinem Sohn beim gemeinsamen Kochen die Fragen danach, wie er es angestellt hat, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen, aber auch, welche Differenzen es beim gemeinsamen Reisen gab. Das allerdings sprechen der Kamera - und der Tonmann selber an. Es ist einfach angenehm, daß einem wieder mal bewiesen wird, daß man am besten miteinander auskommt, wenn man inhaltliche oder auch atmosphärische Probleme anspricht, weil das die Voraussetzung dafür ist, daß man sie löst. Allein die Tatsache, daß die Drei, die zusammen unterwegs sind, dann beim Verfertigen der Filme ja noch auf andere angewiesen sind, mit anderen zusammenarbeiten, nach 40 Jahren noch immer beieinander sind, zeigt, daß da nichts über gute Zusammenarbeit gefaselt wird, sondern daß sie einfach vorhanden ist. Welch nachhaltige Lebensarbeitsleistung, die die drei Fernsehfilmemacher geleistet haben, die sich nun sogar in einem Kinofilm niederschlägt, worüber sich jeder nur freuen kann, der die damaligen Sendungen nicht kannte. Mir ging es sogar so, daß ich am liebsten die Originalbeiträge von damals noch einmal, nein, zum ersten Mal hätte sehen wollen.
Denn, und das ist eigentlich das Wichtigste: Es geht einem bei so vielen Menschen einfach das Herz auf, worauf wir noch zurückkommen. Übrigens ist dies ein Folgefilm, was ich erst nachlas. Denn es hat 2006 schon einmal GERNSTLS REISEN gegeben, mit dem Untertitel, AUF DER SUCHE NACH DEM GLÜCK, der diesmal heißt: AUF DER SUCHE NACH IRGENDWAS.
Und mit dem Glück beginnt es diesmal. Der Mann heißt Bruno Hünemund, der 1990 porträtiert wurde und über das Leben mit seinem Sohn Markus mit Down-Syndrom berichtete. Wie er geweint hat und nicht weiterwußte. Und heute: das pure Glück, er ist so glücklich mit und über seinen Sohn, weil dieser, was unmittelbar mit der Krankheit zusammenhängt, seine Gefühle direkt vorbringt, zärtlich, warmherzig, direkt. Ja, genauso ist es, Was als Nachteil erschien und Eltern unglücklich und hilflos machte, zeigt sich im Nachhinein als menschlicher Gewinn.
Unglaublich, wirklich spannend auch die alten Aufnahmen von den Sannyasien, wie die Anhänger des indischen Gurus Bhagwan hießen. Meine Güte, das waren Zeiten Mitte der Achziger Jahre, als die in Weinrot Gekleideten überall in Scharen auftraten, besonders Betuchte oder besonders Engagierte direkt nach Indien zum Guru pilgerten und die GEW Hessen z.B. einen Sannyasien zum Stellvertretenden Vorsitzenden machte, einschließlich der Kleidung. Im Film jedoch wurden nicht Einzelschicksale gezeigt, sondern das damalige Zusammenleben einer großen Gruppe Sannyasien auf Schloß Wolfsbrunnen, das bei Eschwege liegt und heute ein repräsentatives Hotel ist. Das Besondere nun ist, daß damals ein Junge im Schloß auf eine Frage, wo alle Ja sagen, Nein sagt und wohl auch deshalb von Gernstl ins Gespräch gezogen wurde. Genau diesen hat der Reporter jetzt als Erwachsenen gefunden und interviewt, was auch deshalb interessant war, weil das Kind wohl widerstandsfähiger schien, als es war und der heutige Erwachsene mit seinen damaligen Erfahrungen ganz schön zu kämpfen hat.
Ach, man kann nicht alle aufzählen, auch wenn man möchte, weil die personale Auswahl der Interviews für diesen Film einen dazu motiviert. Ursprünglich gab es für die TV-Unterwegsfilme die Richtung von West nach Ost, was sich auszahlt, denn es kommen sehr viel mehr Personen aus der ehemaligen DDR vor als es in Film und Fernsehen sonst der Fall ist. Das tut dem Film und tut überhaupt gut.
Und es tut gut, daß einmal nicht die Norm oder Noch besser, noch höher, noch weiter eine Rolle spielt, sondern der Mensch in seiner Buntheit. Gut gemacht, Team Gernstl!
Foto:
©Verleih
Info:
Regie. Franz X. Gernstl, Jonas Gernstl
Drehbuch. Franz X. Gernstl, Jonas Gernstl
Kamera. HP Fischer
Ton Stefan Ravasz
Musik René Aubry
Deutschland 2023
92 Minuten
Format: 16:9