Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Oktober 2023, Teil 6
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Faszinierend. Ein Film, der quer zu allem steht, was man gegenwärtig als Hollywoodkino, französische Wohlfühlfilme, englische Sozialdramen oder Geschichtsepen sieht und hört, von den deutschen Komödien ganz abgesehen. Von Beginn an weht einen der Atem dramatischer Ereignisse und unbekannter Wichtigkeiten an.
Gleich zu Beginn erkennt man in der Hauptperson, dem jungen deutschen Physiker Johannes Leinert (Jan Bülow), einen Mann, der nicht mit sich im reinen ist, zudem ungelenkt. Er ist Gast in einer Talkshow, wo über seinen Roman DIE THEORIE VON ALLEM gesprochen werden soll, wo er jedoch schon bei der Kategorisierung Roman widerspricht, sich in Widersprüche verheddert, von Quantentheorie und moderner Physik murmelt und dem Fehler, in diese Sendung gekommen zu sein, aufsteht, um einfach zu gehen, aber auf einmal völlig klar und orientiert durch die Kamera eine gewisse Karin anspricht, daß sie sich melden solle.
Das war ein Vorspiel in den Siebzigern, empfindet man, denn jetzt geht es im Jahr 1962 in diesem speziellen Schwarz-Weiß erst los, wenn im Speisewagen des fahrenden Zuges der strenge, ja hochfahrende Professor Julius Strathen (Hanns Zischler) seinem Doktoranden Johannes Leinert die Leviten liest, was die Dissertation angeht, ihn dabei aber auch als Mensch zur Sau macht. Beide sind auf dem Weg in die Schweiz zu einem Physikerkongreß in einem Nobelhotel in den Bergen, auf dem ein iranischer Wissenschaftler, der nie kommen wird, die Theorie von Allem in einer bahnbrechenden Theorie der Quantenmechanik entwickeln will. Und wir sind längst mitten in einem Rätselfilm, dessen Faszination den Film über anhält, der uns dann ins Bodenlose entläßt, denn all die vielen Spuren, die er legt, führen letzten Endes ins Nichts, in den tiefen Schnee der Schweizer Berge. Die Enthüllung, die Erklärungen, auf die man wartet, sie kommen nicht, aber das Geschehen nimmt auf jeden Fall unerwartete Wendungen.
Noch im Zug sitzt am Nachbartisch mit dem abgewirtschafteten Physiker und eigentlich für den Nobelpreis vorgesehenen Professor Henry Blumberg (Gottfried Breitfuß ) der Gegenspieler des gestrengen Doktorvaters, der Leinert die Weiterarbeit am Thema empfiehlt, sehr viel später aber eine der Irritationen darstellen wird. Denn nachdem der Kongreß längst abgesagt ist und stattdessen einige Tage Erholung und Skifahren angesagt sind, tut sich für Leinert eine unheimliche Welt auf. Das fing mit der Bar-Pianistin an, die ihn fasziniert, Karin, die über ihn mehr weiß, als er selbst, ihm seine Kindheitserinnerungen und mehr nahebringt und die unmittelbare Zukunft auch schon deuten kann. Und so geht es weiter. Es passieren unheimliche Sachen.
Das Hotel ist eingeschneit, der Lift außer Betrieb, doch da gibt es Blut und Spuren und Tote auch. Dann tauchen die Hinweise auf die Vergangenheit auf, Nazis, Gasmasken, Mörder, Ermordete, ein Höhlensystem in den Bergen und das alles in tiefem weißen Schnee.
Professor Blumberg ist verschwunden, Karin auch, die sucht Leinert unentwegt, zieht in das Zimmer, das sie im Ort bezogen hatte, und während wir rätseln, wird es immer unheimlicher. Da ist das Gefühl von Expressionismus, was die Gesten und das Schwarz-Weiß angeht, da ist das Gefühl von Faschismus und Verbrechen, da sind viele Gefühle, doch keine Gewißheit, wo wir sind und was das alles bedeutet. Aber es fühlt sich bedeutend an und die Bilderfülle, die Tiefe, in die wir schauen, die wirkt lange nach, lange nachdem man das Kino verlassen hat.
Daß Regisseur Timm Kröger mit diesem Film bei den Filmfestspielen von Venedig war, hat vielleicht dazu geführt, daß DIE THEORIE VON ALLEM heute in den Kinos anläuft, dabei handelt es sich um den zweiten Teil einer Trilogie, deren erster Teil ebenfalls nach Venedig eingeladen war, aber nie in hiesige Kinos kam. Der Film kann übrigens süchtig machen.
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Regie Timm Kröger
Buch Roderick Warich, Timm Kröger
Roland Stuprich Kamera
Besetzung
Jan Bülow Johannes Leinert
Hanns Zischler. Prof.Julius Strathen
Olivia Ross Karin Hönig
Gottfried Breitfuß Prof. Henry Blumberg
David Bennent Kommissar Arnold
Philippe Graber. Kommissar Amrein
Imogen Kogge Anna Leinert