anaSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. November 2023, Teil 2

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Die Rolle der Sandra haben Sie direkt für Sandra Hüller geschrieben, nicht wahr?


Ich hatte Lust, nach SYBIL erneut mit ihr zu arbeiten. Ich habe für sie geschrieben, sie wusste das, das war eine der Antriebsfedern von Anfang an. Diese freie Frau, die schließlich auch für die Art und Weise, wie sie ihre Sexualität, ihre Arbeit und ihre Mutterschaft lebt, beurteilt wird: Ich dachte, sie würde der Figur eine Komplexi- tät, eine „Unreinheit“ oder besser Nicht-Konformität verleihen, weit weg von vom Begriff der „Botschaft“. Und dann haben wir uns bei den Dreharbeiten wirklich kennengelernt. Sie brachte einen Glauben, eine Wahrheit mit, die über das Drehbuch hinausgeht. Sie ist jemand, der jeden künstlichen Dialog in einer Realität verankert, die durch sie geschieht. Oder sie lehnt ihn ab und wirft ihn mir ins Gesicht. Es ist auf jeden Fall sehr lebendig; sie verteidigt ihren starken Standpunkt, sie drückt jegliche Regung durch jede Faser ihres Körpers aus. Sie prägt einen Film gefühlsmäßig wie kaum eine andere Schauspielerin. Am Ende der Dreharbeiten hatte ich das Gefühl, dass sie mir einen Teil von sich gegeben hatte, wirklich. Eine fantastische Einmaligkeit, die nicht zu wiederholen ist.

Das ganze Spiel mit den Sprachen – Franzöisch, Englisch, die deutsche Herkunft – fügt dem Prozess eine weitere komplexe Ebene zu, sowie eine Form von Undurchdringlichkeit in Sandras Charakter...

Das unterstreicht weiterhin die Distanz zu einer Ausländerin, die in Frankreich vor Gericht steht und sich der Sprache ihres Mannes und ihres Sohnes befleißigen muss, auch wenn sie die nicht so gut beherrscht. Sie ist eine Frau, durch deren emotionale Schichten sich der Prozess durcharbeiten muss, die er erforschen muss. Schließlich interessierte es mich, das Leben eines Paares zu beobachten, das nicht dieselbe Sprache spricht. Das beeinflusste ganz konkret die Auseinander- setzungen zwischen ihnen und führte zur Idee einer dritten Sprache als neutrales Terrain.

Stand Samuel Theis von Anfang an für die Besetzung fest?

Nein, es gab ein Casting mit vielen Schauspielern, ironischerweise hieß die Figur bereits Samuel. Er taucht im Film kaum auf, ist aber für die Erzählung wesentlich, er beherrscht sie buchstäblich, deshalb musste er uns sofort fesseln. Ich muss zugeben, dass ich ihn sehr attraktiv finde, ich liebe seine Stimme, seine scheinbare Sanftheit, hinter der sich etwas viel Komplexe- res verbirgt. Ich hatte einfach Lust, mit ihm zu drehen. Er strahlt eine besondere Tiefe aus, ein besonderes Profil, was ich bei Schauspielern liebe. Auch hier ist es eine körperliche wie innerliche Ausstrahlung auf verschiedenen Ebenen.


Und Milo Machado Graner, der kleine Daniel. War es schwierig ihn zu finden?

Es hat schon eine Weile gedauert. Meine Casting-Kollegin Cynthia Arra und ich haben zunächst vier Monate lang sehbehinderte Kinder gecastet, und als wir niemanden finden konnten, haben wir noch drei Monate lang Kinder ohne Sehbehinderung gecastet, bis wir auf Milo stießen. Er wurde von Jill Gagé, die das Casting- Team verstärkte, entdeckt. Er hat uns sofort durch seine Natürlichkeit beeindruckt. Er lernte intensiv Klavier und dann suchten Cynthia und ich gemeinsam mit Hilfe von Augenspezialisten nach dem Grad der Sehbehinderung. Wir haben uns für eine leicht zu verkörpernde Stufe entschieden, eine starke Kurzsichtigkeit ohne größere Beeinträchtigung des peripheren Sehens. Er ist ein Kind mit außergewöhnlichen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, gepaart mit einem Hauch von Melancholie.


In den Gerichtszenen spürt man eine Freude am Wort, am Wortgefecht. Antoine Reinartz als Staatsanwalt hat einen großen Anteil daran. Wie haben Sie ihn ausgewählt?

Ich habe ihn wegen der Modernität gewählt, die er der Figur verleiht. Er bringt eine andere Farbe in den Film, er bringt die zeitgenössische Welt hinein und das bricht die staubige Feierlichkeit des Prozesses... Er spielt gewissermaßen den Bösewicht, aber einen sehr verführerischen, durchtriebenen, verschlagenen, funkelnden Bösewicht. Er spricht anstelle des Toten und muss den Toten, den man fast nie sieht, liebenswert machen, uns und die Geschworenen verstehen lassen, dass dieser Mann eine gute Verteidigung verdient. Antoine verleiht dem Gerichtssaal die Aura einer Arena, die zivilisierte Gewalt der Staatsanwaltschaft.

Im Gegensatz dazu verkörpert Swann Arlaud einen eher zerbrechlichen, sensiblen, defensiven Charakter....

Ich wollte keinen Hahnenkampf zwischen ihnen. Seine Figur Vincent ist kein Glanzlicht der Anwaltschaft, er ist gut, aber nicht idealisiert. Swann bringt eine Subtilität in sein Spiel, eine Angst, weil er seine Mandantin kennt und sich dadurch gefährdeter fühlt. Ich fand es interessant, dass er in gewisser Weise ein Doppelgänger von Samuel ist, dass die beiden sich ein wenig ähneln. Man merkt schnell, dass Sandra und er sich vor Jahren mal kannten und dass es zwischen ihnen immer noch etwas gibt.

Außerdem hatte Vincent Courcelle-Labrousse (unser beratender Anwalt) uns gesagt: Man wird ständig von Freunden gefragt, ob man sie nicht verteidigen will, das ist immer eine Falle. Dieser Begriff der Falle, oder zumindest der mangelnden Distanz, war wichtig für die Übereinstimmungen dieses Duos. Man spürt, das ist noch etwas anderes im Spiel, und wahrschein- lich braucht Sandra das, um sich unterstützt zu fühlen. Swann ist genial darin, all diese Dimensionen ohne Dialoge rüberzubringen: Da ist sie zu fühlen, diese starke Anspannung.

Der Film verzichtet auf Rückblenden mit einer einzigen, sehr starken Ausnahme: der Streitszene am Vorabend des Todestages.
Das Fehlen von Rückblenden war von Anfang an mein Wunsch. Ich mag das in Filmen nicht, und vor allem wollte ich, dass das Wort im Mittel- punkt steht, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, alles durchdringt. So funktioniert ein Pro- zess: Die Wahrheit verschwindet, es gibt eine riesige Leere und man hat nur das Wort, um selbige zu füllen. Die einzigen Ausnahmen, die wir uns erlaubt haben, sind durch die Tonebene entstanden. Und in Wirklichkeit sind diese Ausnahmen keine Rückblenden: In der Streitszene handelt es sich um eine Tonaufnahme, die sich plötzlich im Bild ausdrückt, es gibt also durch den aufgenommenen Ton einen Sprung von der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Ton ist fast mächtiger als das Bild, wie ich finde. Es ist gleichzeitig reine Gegenwart und geisterhaft.

Es gibt auch die Szene, in der Daniel Worte seines toten Vaters nachstellt, aber sie gehören zu einem anderen Komplex. Da haben wir das Bild, aber es ist die Erzählung einer Erinnerung, wenn nicht sogar eine Erfindung, auf jeden Fall eine Aussage, die nicht als Beweis dienen darf, wie der Staatsanwalt betont.

Im Grunde ist das Gericht der Ort, an dem unsere Geschichte nicht mehr uns gehört, sondern der Beurteilung anderer obliegt, die sie aus ver- streuten, vieldeutigen Elementen zusammen- setzen müssen. Da wird die Wahrheit zwangsläufig zur Fiktion, und genau das ist es, was mich interessiert.

Foto:
©Verleih

 Info:
"Anatomie eines Falls", Frankreich 2023, 150 Minuten, Filmstart 2. November 2023
Regie Justine Triet mit Sandra Hüller, Milo Machado Graner, Swann Arlaud, Samuel Theis und andere

Abdruck aus dem Presseheft