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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. November 2023, Teil 1

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Was war der Ausgangspunkt von ANATOMIE EINES FALLS?


Ich wollte einen Film über die Zerrüttung einer Paarbeziehung realisieren. Die Idee war, ausgehend vom Sturz eines Körpers vom Scheitern eines Paares zu erzählen, von einer Liebesgeschichte.Dieses Paar hat einen Sohn, der die Geschichte seiner Eltern in einem Prozess entdeckt - ein Prozess, der ihre Beziehung methodisch seziert - und dieser Junge wechselt vom Stadium der Kindheit, das durch das absolute Vertrauen zu seiner Mutter geprägt wird, in das Stadium des Zweifels. Der Film beobachtet diesen Übergang. In meinen früheren Filmen waren Kinder zwar anwesend, ergriffen aber nicht das Wort. Sie waren da, aber es fehlte ihre Perspektive. Mir war, als sei der Moment reif, den Blick des Kindes in die Erzählung aufzunehmen, ihn gegen den Blick von der Hauptfigur Sandra in ein Gleichgewicht zu bringen.

Der Film entwickelt sich nach und nach zu einem langen Verhör: In einer Abfolge von Szenen – von den Ereignissen im Haus bis hin ins Gericht – werden Menschen befragt. 

Ich wollte dem Realismus sehr nahe kommen in einem fast dokumentarischen Sinne, sei es beim Schreiben oder in der Form. Aber es ging vor allem darum, tiefer in die Vielschichtigkeit einzutauchen, in die Geschichte des Films ebenso wie in die der Emotionen. Alles ging in Richtung einer größtmöglichen Sachlichkeit: Es gibt keine zusätzliche Musik, der Film ist roher, nackter als meine vorherigen Filme.

Die erste Einstellung des Films verwirrt, ein Ball fällt die Treppe herunter...

Das Fallen im Film ist eine Art Obsession, zunächst auf eine sehr physische, konkrete Weise. Wie fühlt es sich an, wenn etwas fällt? Diese Idee des „Körpergewichts“, das Gewicht eines fallenden Körpers, habe ich schon lange im Kopf, vor allem seit dem Vorspann von MAD MEN, diesem Mann, der immer wieder fällt...

In meinem Film geht man nur Treppen rauf und runter, schaut von unten nach oben, von oben auf den Boden und versucht den Sturz zu rekonstruieren und zu verstehen. Also mussten wir mit einem Kniff in den Film einsteigen: Ein Ball fällt, wird vom Hund aufgefangen, der Sandra, unsere Figur, ansieht und uns sagt: Sie ist es, die wir versuchen zu verstehen, sie ist es, die wir zweieinhalb Stunden lang beobachten werden.


Der Streit eines Paares, der Eltern eines Kindes, steht im Mittelpunkt des Films.

Es ist ein Film über das Paar und über die Aufteilung der Zeit. Das Kind steht im Mittelpunkt dieser Ein- und Aufteilung. Und was schuldet man sich als Paar? Was gibt man einander? Ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen möglich? Das sind Fragen, die mich beschäftigen und deren Behandlung im Kino oft fehlt.

Hier ist Sandra Voyter eine anerkannte Schrift- stellerin, ihr Mann ist Professor und unterrichtet ihren Sohn zu Hause, während er selbst versucht, einen Roman zu schreiben. Das archetypische Schema eines Paares existiert hier nicht, die Rollen sind vertauscht. Ich zeige eine Frau, die ein Ungleichgewicht schafft, indem sie sich ihre Freiheit nimmt und nach ihren Wünschen lebt. Gleichberechtigung in der Partnerschaft ist eine wunderbare Utopie, aber sehr schwer zu erreichen, und Sandra beschließt, zu nehmen, ohne zu fragen, wohl wissend, dass sie sonst leer ausgeht. Diese Haltung verleiht eine Form von Macht und ist auch zu hinterfragen. Und der Film tut nichts anderes als das: Er hinterfragt.

Bei Paaren geht es um Versuche der Demokratie, die immer wieder von diktatorischen Impulsen unterbrochen werden. Und hier eskaliert die Situation fast zu einem Krieg, geprägt von einer starken Rivalität. Sandra und Samuel haben sich gegenseitig in die Falle gelockt, und etwas zwischen ihnen ist verloren gegangen, weil niemand zurückstecken will. Aber sie sind große Idealisten, ich mag diese Menschen, weil sie nicht resignieren. Selbst in der Streitszene, die eigentlich eine Verhandlung ist, hauen sie sich weiterhin die Wahrheit um die Ohren. Für mich ist da noch etwas von der einstigen Liebe zu spüren.

Sie haben das Drehbuch gemeinsam mit Arthur Harari geschrieben. Es basiert nicht auf einer wahren Begebenheit, und doch wimmelt es von Details, insbesondere juristischen, die lebensecht wirken. Inwieweit haben Sie Experten hinzugezogen?

Arthur und ich haben das Drehbuch wirklich gemeinsam geschrieben, das war eine komplette Arbeitsteilung. Außerdem beriet uns der Straf- verteidiger Vincent Courcelle-Labrousse, den wir ständig angerufen haben, um uns bei juristischen Aspekten helfen zu lassen, aber auch, um dem Zuschauer das Prozedere von französischen Gerichtsverhandlungen näher zu bringen und verständlich zu machen.

Was uns überraschte, war die etwas chaotische Seite einer Gerichtsverhandlung in Frankreich, im Gegensatz zu den USA, wo der ganze Verlauf und die Plädoyers strenger strukturiert sind. Dieser Aspekt ermöglichte es mir, einen sehr französischen Film zu machen und einen Gegenpol zu dem viel spektakuläreren amerikanischen Gerichtsfilm zu bilden. Die Idee, in sich geschlossenen Blöcken von Gerichtsverhandlungen beizuwohnen, fand ich sinnvoll. Ich verbrachte die ganze Zeit damit, meinen Cutter Laurent Sénéchal zu bitten, das Tempo zu verlangsamen, die Einstellungen unvollkommen, unscharf und ein wenig zittrig zu halten. Ich wollte keinen bequemen, allzu sauberen Film. Auf jeden Fall reizte mich in diesem Film die neue formale Herausforderung.

Foto:
Justine Triet
©VPresseheft

 Info:
"Anatomie eines Falls", Frankreich 2023, 150 Minuten, Filmstart 2. November 2023
Regie Justine Triet mit Sandra Hüller, Milo Machado Graner, Swann Arlaud, Samuel Theis und andere

Abdruck aus dem Presseheft