Gernot Gricksch
Berlin (Weltexpresso) - Viele meiner Lieblingsfilme spielen auf engstem Raum und beziehen ihre Kraft aus den Konflikten der Figuren, die einander einfach nicht entkommen können. Hitchcocks „Lifeboat“ ist ein weitgehend vergessenes Meister- werk. „Gott des Gemetzels“, „Die zwölf Geschworenen“, „Misery“, „Hard Candy“... ich liebe sie.
Als Tobi Baumann mir vor einigen Jahren von seiner Idee zu 791 km erzählte, war ich deshalb sofort begeistert. Eine mobile Zwangsgemeinschaft, die stellvertretend für uns alle im Zuschauerraum steht. ALLES, wirklich ALLES wird innerhalb des Ensembles verhandelt.
Als ich anfing, die Figuren zu entwickeln, waren Tobi und ich uns einig, dass wir Typen brauchen, aber keine Stereotypen. Wir wollten verschiedene Lebensphilosophien und Erfahrungswelten aufeinanderprallen lassen, ohne uns dabei aber in Klischees zu begeben. Es wäre leicht gewesen, Joseph zu einem kompletten Rechts- außen zu machen und auf eine Marianne loszulassen, die ungebremst absurd „Öko“ und „Eso“ ist. Damit hätten wir vielleicht ein paar laute Lacher eingefahren – aber das ist es nicht, worum es geht. Ich wollte echte Menschen erzählen. Menschen mit Widersprüchen und Widerhaken. Dich und mich. Mein Anspruch war, dass die ZuschauerInnen JEDER Figur im Film in mindestens einem Punkt zustimmen können. Auch denen, die sie zu Beginn des Films womöglich schon mental gecancelt haben. Und: Wichtiger als das, was die Menschen in unserem Taxi denken und sagen, sollte sein, WARUM sie so denken und reden.
Deutschland ist ein ungemütliches Land geworden. Der Stammtisch ist überall und der Stammtisch ist ein Schlachtfeld geworden. In „Diskussionen“ wird fast nur noch gekeult. Jeder sendet, kaum einer empfängt noch. Kein Platz mehr für Differenzierungen. Ja oder nein. Schwarz oder weiß. Für alles gibt es vorgefertigte Meinun- gen, die man ohne Wenn und Aber zähnefletschend verteidigt. Und diese Dogmen treiben dann in Lager. Wer den Klimawandel leugnet, muss auch Transmenschen schlimm finden. Wer im Alltag gendert, muss auch viel Tolles im Koran entdecken. Keiner hat die Absicht, eine Mauer zu errichten, aber in den Köpfen gibt es reichlich. Wir scheinen unversöhnlich. Dabei wollen wir am Ende des Tages doch alle dasselbe: eine Perspektive im Leben, einen gewissen Respekt, Glück und Liebe.
Was aber, wenn die Länge der Zeit und die Enge des Raums, fünf scheinbar inkompatible Menschen zwingt, auch mal zuzuhören und die Deckung fallen zu lassen. Wenn ein gechillter Kiffer und ein grantiger Konservativer, eine ewig suchende Intellektuelle und eine von ihren eigenen Ansprüchen gestresste junge Frau feststellen müssen, dass sie letztlich doch alle im selben Boot, also: auf demselben Planeten sitzen. Und was, wenn als Katalysator all derer Konflikte eine vermeintlich „Beknackte“ mittendrin sitzt, die keine Lager kennt und keine Dogmen, son- dern einfach nur ist, wer sie ist. Und sagt, was sie wirklich denkt. Das hält keine Kopf-Mauer ewig aus.
791 km ist ein versöhnlicher Film ohne Antworten. Es ist das hoffentlich vergnügliche und anrührende Plädoyer an uns alle, einen Gang zurückzuschalten und sich dann aufeinander zuzubewegen. Man muss sich ja nicht gleich umarmen.
Foto:
©Verleih
Info:
BESETZUNG
Marianne. Iris Berben
Joseph Joachim Król
Tiana. Nilam Farooq
Philipp. Ben Münchow
Susi. Lena Urzendowsky
Polizist Kevin. Langston Uibel
Polizistin Birgit. Barbara Philipp
STAB
Regie, Idee
Tobi Baumann
Drehbuch Gernot Gricksch
Abdruck aus dem Presseheft