der Woche der Kritik 2024, die traditionell parallel zur Berlinale in Berlin stattfindet
Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) - Das politische Kino zwischen Merkel-Masken und kapitalistischen Horrorvisionen. Flotte Filme zwischen Kirche, Kolonialismus und Kugelhagel. Träume als Interventionen und das Scheitern der Kunst im Angesicht der chinesischen Staatsgewalt. Die ersten Filme der 10. Woche der Kritik stehen fest.
Weil der deutsche Staat versagt hat, leben zahlreiche Menschen außerhalb der Gesellschaft im Wald: Sichtlich inspiriert von den Klima-Aktivist*innen, die seit 2012 in regelmäßigen Abständen den Hambacher Forst besetzen und ihre zivile Identität als Teil ihres Aktivismus ablegen, dringt der Videokünstler Omer Fast (Continuity, Remainder) in seinem dritten Langfilm Abendland in surreale Gefilde vor. Sein filmisches Maskenspiel wollen wir zum Anlass nehmen, über die Möglichkeiten und Routinen des politischen Kinos heute zu debattieren. Wir zeigen und diskutieren Abendland zusammen mit dem psychedelischen, albtraumhaften Kurzfilm Notes from Gog Magog, in dem Riar Rizaldi aus der konkreten Realität von Arbeiter*innen in Südkorea und Indonesien eine Horrorvision des internationalen Kapitalismus formt. Hierbei begibt er sich an die Grenzen des Erträglichen, zersetzt Bilder in ihre Bestandteile und lässt Zeit, Raum und Körper immer weiter zerfließen.
Western war gestern! In selbstbewusster Auflehnung gegen das schnörkellose Unterhaltungskino präsentieren sich Clara Winter, Miiel Ferráez und Megan Marsh mit ihrem Langfilmdebüt Wikiriders in einem ironischen Road Movie: Während ihre Alter-Egos Texas und Mexiko durchqueren, sind sie auf der Suche nach dem Erbe des Kolonialismus. Dieser erscheint ihnen in Gestalt einer einflussreichen Adelsfamilie – viel lebendiger, als es ihnen lieb ist. Auch in Nocturne for a Forest von Catarina Vasconcelos (The Metamorphosis of Birds) leben die Totgeglaubten weiter: Die Regisseurin lässt Geister von portugiesischen Frauen sprechen, die durch die dortige Kirche lange gesellschaftlich unterdrückt wurden – allen voran die wichtige Malerin Josefa de Óbidos, deren Gemälde Sagrada Familia ins Zentrum einer übernatürlichen Betrachtung rückt. Der Abend wird eröffnet von Natalia del Mar Kašik, die in Pistoleras zum Duell der Blicke aufruft. Ein Film, der schneller vorbeihuscht als ein Schatten.
Dreams About Putin basiert auf Träumen über Wladimir Putin, die viele Menschen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in Textform im Internet veröffentlicht haben. Nastia Korkia und Vlad Fishez haben aus unterschiedlichen Traumprotokollen sowie Archivaufnahmen Putins einen Trip in das Unterbewusstsein der Gegenwart montiert. Durch computergenerierte Bilder kommentieren die im Exil lebenden Filmemacher*innen auf besonders eindrückliche Weise die realen Verhältnisse und stellen sich der Unmöglichkeit, im heutigen Russland kritische Filme zu drehen. Was geschieht, wenn die Kunst letztlich doch an politischen Verhältnissen zerbricht? Das beschäftigt Zhenming Guo in seinem Langfilmdebüt Tedious Days and Nights. Er porträtiert eine Gruppe von chinesischen Künstlern, Widerständlern und Aussteiger*innen um den Dichter Dekuang Zeng, deren Leben und Wirken von der traumatischen Erinnerung an das Tian’anmen-Massaker und von der Frustration über die gesellschaftlichen Zwänge in der Parteidiktatur geprägt sind. In den Ruinen eines ehemaligen Kohleabbaugebiets verhallen ihre großen Widerstandsgesten gemeinsam mit ihrer Melancholie und ihren derben Sprüchen – nicht jedoch im Kino, wo Guos halbfiktionales Filmgedicht eine eigentümliche Kraft entwickelt.
Die Auswahlkommission der Woche der Kritik 2024
Die Filmauswahl der Woche der Kritik erfolgt durch eine internationale Kommission von vorwiegend Filmkritiker*innen, deren Besetzung regelmäßig wechselt. Die Filmauswahl der Festivalausgabe 2024 kuratierten Lucía Salas und Srikanth Srinivasan gemeinsam mit Petra Palmer und Dennis Vetter von der kollektiven Künstlerischen Leitung der Woche der Kritik. Wir danken zudem Devika Girish und Pedro Segura für die Zusammenarbeit und Yu Shimizu für ihre Impulse bei der Programmberatung. Die Filmauswahl der Woche der Kritik folgt keinen thematischen Vorgaben. Stattdessen präsentieren wir neue, aufregende Filme der aktuellen Festivalsaison.
Lucía Salas ist eine argentinische Filmkritikerin, Programmgestalterin und Filmemacherin. Sie ist Mitherausgeberin des Filmmagazins La vida útil, Mitglied des Programmteams des Festivals Punto de Vista (Festival Internacional de Cine Documental de Navarra), Dozentin im Studiengang Curatorial Studies der Elías Querejeta Zine Eskola und arbeitet unter anderem mit den Plattformen Con Los Ojos Abiertos, Jugend ohne Film und der Viennale. Zusammen mit dem Kollektiv LaSiberia Cine führte sie bei dem Film Implantación (2016) und mehreren Kurzfilmen Regie. Derzeit ist sie Doktorandin im Communications-Studiengang der Abteilung CINEMA an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona.
Srikanth Srinivasan ist ein Filmkritiker, Programmgestalter und Übersetzer aus Bangalore. Er schreibt seit 2008 für zahlreiche Publikationen übers Kino und konzentriert sich dabei auf Experimentalfilm und Videokunst. Seine erste Monografie Modernism by Other Means (erschienen bei Lightcube) ist die weltweit erste Buchveröffentlichung zum Werk des indischen Experimentalfilmers Amit Dutta. Srikanths zweites Buch Nainsukh, the Film wurde 2023 durch das Museum Rietberg Zürich veröffentlicht.
Die ersten Filme im Überblick
Abendland
R: Omer Fast, DE 2024, 115 Min. – Weltpremiere
Dreams About Putin
R: Nastia Korkia, Vlad Fishez, BE/HU/PT 2023, 30 Min. – Deutschlandpremiere
Nocturne for a Forest
R: Catarina Vasconcelos, PT 2023, 16 Min. – Deutschlandpremiere
Notes from Gog Magog
R: Riar Rizaldi, ID 2022, 20 Min. – Deutschlandpremiere
Pistoleras
R: Natalia del Mar Kašik, AT 2023, 2 Min. – Deutschlandpremiere
Tedious Days and Nights
R: Zhenming Guo, CN 2023, 110 Min. – Europapremiere
Wikiriders
R: Clara Winter, Miiel Ferráez, Megan Marsh, MX/DE 2024, 60 Min. – Weltpremiere
Foto:
Abendland
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Info:
Die Woche der Kritik 2024 findet vom 14. bis 22. Februar 2024 statt. Das Filmprogramm beginnt am Donnerstag, den 15. Februar 2024 im Hackesche Höfe Kino.
Die Woche der Kritik ist eine Veranstaltung des Verbands der deutschen Filmkritik, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst und die Rudolf Augstein Stiftung. Die Auftaktkonferenz findet in Kooperation mit der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste statt.