Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Bauerntrecker. Verkehrschaos. Bahnstreik. S-Bahn-Bauarbeiten. Eiseskälte. Es empfängt mich keine besonders einladende Atmosphäre in der schmuddeligen Filmstadt. Ich nutze lange Umwege um den Potsdamer Platz, das Zentrum der kommenden 74. Berlinale, zu erreichen. Noch gut einen Monat bis zum Beginn der Festspiele mit seinem Bären-Wettbewerb, aber auch den vielen anderen Sektionen.
Doch für uns Journalisten werden zahlreiche Filme vorab im "Filmhaus" am Potsdamer Platz gezeigt, freundlicherweise reduziert das den Stress während des Festivals erheblich. Mein Einstieg in die Kinowelt, nach der gerade noch gelungenen Anreise vor dem Streik, beginnt allerdings zunächst mit der normalen Pressevorführung des Films „Zone of Interest“, der in Cannes bei den Festspielen mit dem „Großen Preis der Jury“ ausgezeichnet wurde. Darin gibt die unvergleichliche Sandra Hüller die treusorgende, aber auch durchsetzungsfähige Ehefrau des Ausschwitzkommandanten Rudolf Höß. Das Werk ist kein Biopic, keine Biografie von Monstern, sondern zeigt die „Banalität des Bösen“ (Hanna Arendt), also das scheinbar normale und behagliche Leben der Höß-Familie im Schatten der Barbarei. Von den Ereignissen im Lager sieht man nichts, aber das Grauen hinter der Idylle ist ständig spürbar. Wir werden den Film gründlich - zum Start in Deutschland am 29. Februar – besprechen.
Die journalistische Vorab-Berlinale startet mit einer Zeitreise in die Vergangenheit. In der Sektion „Retrospektive“ werden zwei Tage lang, von der Deutschen Cinemathek restaurierte Streifen gezeigt, welche einst neue Wege des Kinos erkundeten.
In „Tobby“ aus dem Jahr 1961, lässt sich der Jazzmusiker und Sänger durch die Berliner Boheme treiben. Dennoch sind damals alle immer ordentlich gekämmt und die (meisten) Musiker tragen Krawatten. Doch der Schwarz-Weiß-Film schafft es tatsächlich durch extreme Nahaufnahmen, radikale Schnitte, assoziative Bilder oder Überblendungen richtig „jazzig“ zu werden. Zehn Jahre später in „Fegefeuer“ sind die Haare viel länger und die Röcke wesentlich kürzer. Zur dramatischen Musik von „Supertramp“ entsteht ein philosophischer Politkrimi, der immer wieder von blitzartigen assoziativen Einblendungen oder längeren Erinnerungsbildern unterbrochen wird.
Schon in den ersten Filmen dieser Rückschau wird deutlich, was für subversive Ideen die Filmemacher in den 1960er und 1970er-Jahren entwickelten, welche neue Filmsprache sie suchten und wie sie konventionelle Erzählformen aufhoben. Heute sind viele dieser cineastischen Mittel, ist „Das andere Kino“ (so der Obertitel der Retrospektive), selbstverständlich bis in den Mainstream der „Tatort“-Serien geworden.
Wird fortgesetzt.