Redaktion
Berlin (Weltexpresso) – Auch 15 JAHRE ist wieder ein Musikfilm, der allerdings ein anderes Konzept hat als VIER MINUTEN.
Ja. In VIER MINUTEN stießen einfach nur die klassische westliche Musik und diese Jazzpunk-Improvisationen von Jenny aufeinander – verkörpert durch die beiden Protagonistinnen. In 15 JAHRE hingegen trifft eine enorme Vielfalt an Musikstilen aufeinander: Punk, Kirchenmusik, Pop, Klassik, Hip Hop, französischer Chanson, arabische Musik, Folk, sogar deutsches Liedgut.
Wieso ist das so?
Es ist wesentlicher Bestandteil des Musikkonzepts. Jenny spielt zu Anfang des Films keine eigenen Kompositionen mehr, wie noch in VIER MINUTEN. Ihre individuelle musikalische Sprache ist gewissermaßen in der Haftzeit verstummt. Im Grunde dienen die unterschiedlichen Musikstile in 15 JAHRE dazu, Jenny einen Parcours durch die Weltmusik zu legen, hin zu ihrem neuen Selbst. Das findet sie am Ende auch musikalisch ganz woanders als da, wo es noch bei VIER MINUTEN verortet war.
Der Antagonist Gimmiemore, die große Jugendliebe Jennys, an der sie sich rächen will, ist ausgerechnet ein berühmter Popstar geworden.
Ja, er hat nicht nur seine Jugendliebe verraten und verkauft, sondern auch sich selbst und seine Musik. Er war eigentlich in seiner Jugend Punker gewesen, hat die Musikindustrie gehasst. Es ist faszinierend zu sehen, wie stark Albrecht Schuch als Gimmiemore dessen innere Zerrissenheit durch Minimalismus zum Ausdruck bringt. So kam er zum Beispiel zu den Proben mit einer Art kaum verständlichem Gemurmel, hat die Übergröße seiner Figur mit einem Genuschel unterspielt, das den armen Tonmann Carlo Thoss zuweilen zur Verzweiflung getrieben hat. Aber es war natürlich eine geniale Idee, die mich begeistert hat.
Albrecht Schuch ist derzeit einer der größten Stars des deutschen Kinos. Man hat fast den Eindruck, er kann jede Rolle spielen und er brilliert hier erneut auf eine Weise, die man noch nie gesehen hat.
Wobei er immer wusste, dass der Gimmiemore ein enormes Risiko ist. Zum einen eine Kunstfigur zu spielen, ein Produkt der Popkultur, und dann unter dieser Fassade einen todkranken Mörder in seinen ganzen Abgründen anzudeuten, das alles, ohne zur Karikatur zu verkommen: Da hatten wir Manschetten vor, auch Albrecht, zumal er nur drei große Szenen hat, um seine Figur zu entwickeln.
Jenny weiß zu Anfang nicht, welche Popularität ihr einstiger Gefährte Gimmiemore errungen hat. Sie sagten bereits, diese Unwissenheit resultiere aus der Realität der deutschen Haftbedingungen. Warum wird dieser Realitätsbezug im Film nicht näher thematisiert?
Darum geht es in 15 JAHRE nicht, das ja kein Sozialdrama sein will. Alle Konflikte sind ins Innere der Figuren verlegt. Und alle diese inneren Konflikte rühren aus der Vergangenheit der Protagonisten und Protagonistinnen her. Die Handlung ist fast schon klassisch auf ein Melodram gebaut. Das bedeutet aber nicht, dass die erzählte Welt nicht authentisch sein darf. Im Gegenteil. Der Film hätte gar nicht entstehen können ohne die politischen Bezüge zur Gegenwart.
WUNSCH („SHAQ“)
Der Adler steigt über die Schlafenden Schlaf, so gut du kannst Schlaf wie ein Gewicht in den Uhren Wach nicht auf.
Schlaf, meine Liebste
Sieh nicht, was geschah, hör nicht, was geschah, träum ́ nicht mal, was geschah, vielleicht riechst du die Bomben.
Schlaf, meine Liebste
Vertrau deinem Schlaf Etwas Besseres findest du nicht. Verschlaf den Adler
Ihn traf die zweistrahlige MIG.
Verschlaf den Adler, den Adler Schlaf, meine Liebste.
(Musik: Annette Focks, Text: Chris Kraus, Übersetzung ins Arabische: Sadek Democratoz)
SYRIA IS REALITY
Wie sind Sie in diesem Zusammenhang auf die Figur des syrischen Flüchtlings Omar gekommen, der sich in Jenny verliebt und mit ihr an einer zynischen Talent-Show teilnimmt?
Anfang 2019 kam ich mit der Entwicklung der Geschichte nicht mehr voran. Es war klar, dass man 15 JAHRE über eine dritte Hauptfigur erzählen muss, die das Prinzip der Vergebung personifizierte. Ich war auf der Suche nach diesem möglichst authentischen Charakter. Jenny sollte zwischen den Menschen wählen müssen, die den Kernkonflikt repräsentierten. Zufällig stieß ich in einer Buchhandlung auf die Autobiographie von Aeham Ahmad.
Ich habe gelesen, dass er als „Pianist in den Trümmern“ Bekanntheit erlangt hat. Aber ich kannte seine Geschichte nicht.
Ich auch nicht. Sie ist aber atemberaubend. Aeham ist der Sohn eines palästinensischen Klavierstimmers. Er wurde in Syrien geboren und am klassischen Konservatorium Damaskus zum Konzertpianisten ausgebildet. Während des syrischen Bürgerkrieges wohnte er im Stadtteil Yarmoukh, in dem die Rebellen herrschten. Assads Regime belagerte dieses Viertel und legte es mit Raketen über Monate hinweg in Schutt und Asche. Inmitten dieses brutalen täglichen Bombenhagels begann Aeham, mit den überlebenden Kindern des Stadtteils zwischen den Ruinen gemeinsam zu singen. Er nahm ein altes Klavier auf einen Handwagen und fuhr damit neben einen Bombenkrater und einer seiner Freunde filmte das und lud es auf Youtube hoch. Die Bilder gingen um die Welt.
Das heißt, die Figur des Omar ist ein Alter Ego von Aeham Ahmad?
Nein, überhaupt nicht. Die Figuren unterscheiden sich zum Teil fundamental. Aber inspiriert wurde ich durch diese unverhoffte Lektüre eines dermaßen harten Lebens.
Es ist auffällig, dass Omar eine der wenigen nicht aggressiven Personen ist, die in 15 JAHRE einander umkreisen.
Ja, aber er ist auch als einziger von unverschuldeter Gewalt geprägt, nämlich vom Krieg. Mich hatte beispielsweise an Aeham Ahmad auch interessiert, wie jemand angesichts eines solchen Schicksals dermaßen bei sich bleiben kann. Aeham hat fast alles verloren, sein Haus, seine Heimat, seinen Beruf, er hat Folter und Verfolgung durchlitten, war jahrelang von seinen Eltern getrennt. Seine besten Freunde wurden getötet. Aber er ist dennoch nicht von Hass zerfressen, sondern hat all seinen Schmerz in die Musik gelegt, in seine wirklich zum Teil betörenden Kompositionen. Er war mit diesem Versuch einer Traumabewältigung das perfekte Gegenstück zur Jenny. Er suchte eben nicht nach einer aktiven Selbstermächtigung wie sie, sondern hat sein Schicksal angenommen und das Bestmögliche daraus gemacht.
Hat Aeham Ahmad davon erfahren, dass ein Film entstanden ist, der sein persönliches Schicksal als Inspirationsquelle hat?
Ja natürlich. Ich erfuhr, dass er als Flüchtling in Wiesbaden gelandet war. Und nachdem das Buch fertig geschrieben war, suchte ich 2020 den Kontakt.
Erst nachdem das Buch fertig geschrieben war?
Vorher hätte ich ja nichts zeigen können.
Was wäre geschehen, wenn Herr Ahmad mit dem über ein Jahr entwickelten Drehbuch nicht einverstanden gewesen wäre?
Diese Frage haben wir uns natürlich auch alle gestellt. Und durchaus ängstlich. Rein theoretisch hätte der ganze Film ohne sein Placet gedreht werden dürfen. Das Drehbuch hatte keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Sowas kann man leicht mit Anwaltshilfe konstruieren. Aber ich wäre mir schäbig vorgekommen. Ausgerechnet ein Projekt, in dem es inhaltlich um Verrat und Betrug geht, hinter dem Rücken eines solch beeindruckenden und mich zutiefst bewegenden Lebens zu entwickeln, war einfach undenkbar. Außerdem wurden in meiner Laufbahn auch künstlerische Leistungen von mir ohne mein Einverständnis benutzt und ich habe das bis heute schwer verkraftet. Es kam also gar nicht in Frage, Aeham nicht zu informieren.
Und wie hat er reagiert?
Erst mal sehr schlecht. Als wir uns zusammen mit seinem damaligen Agenten in Wiesbaden trafen, hatte er gerade erfahren, dass sein Leben unautorisiert von einer amerikanischen Independentproduktion verfilmt worden war. Und dieser Film lief während der Coronazeit in Cannes. Aeham war außer sich, ging gerichtlich gegen die Produktion vor, natürlich erfolglos, denn die hatten das juristisch so abgesichert, wie man das eben machen kann. Aeham hätte am liebsten jeden Regisseur, der was von ihm wollte, in den Boden gerammt. Und das sagte er mir auch. Aber dann mochten wir uns sehr schnell leiden. Aeham hat einen wunderbaren Humor, er mochte auch, dass ich im Grunde mein ganzes Projekt riskiert hatte mit der Reise zu ihm. Und es hat auch geholfen, dass er einst in Damaskus mit seinen Kommilitonen VIER MINUTEN gesehen hatte, in einer Raubkopie, die nur heimlich geschaut werden durfte.
DREI LETZTE DINGE
Hassan Akkouch ist eine große Entdeckung als Omar.
Hassan wurde über Nacht in diese Produktion geworfen – im Gegensatz zum Beispiel zu Hannah Herzsprung, die sich monatelang mit Klavierunterricht, Body Building, Gesangsstunden, Ernährungsumstellung, Coaching auf ihre Tour de force vorbereitet hatte. Dass Hassan Akkouch trotz dieses Kaltstarts auf absoluter Augenhöhe mit Hannah und Albrecht agieren konnte, ist vielleicht das größte Wunder bei dieser Produktion, und ich bin ihm sehr dankbar.
15 JAHRE hat enorme Schauwerte, gerade auch durch die beeindruckende Kameraarbeit von Daniela Knapp. In der Montage fällt jedoch auf, dass die Bilder nicht im Vordergrund stehen und niemals Selbstzweck werden.
Es ist meist eine sehr subjektive Kamera. Die Editorin Uta Schmidt hat darauf geachtet, dass der Zuschauer stets auf Augenhöhe von Jenny bleibt, so nah wie möglich an einer Introspektion. Ganz zu Anfang des Filmes ist Hannah Herzsprung in einem Monolog zwei Minuten lang in einer einzigen Großaufnahme zu sehen. Einen solchen Effekt gibt es nie wieder im Film, aber an der Stelle müssen wir zeigen, dass es in 15 JAHRE um nichts anderes als um das Leben von Jenny geht. Also um ein einziges Leben. Nicht mehr, nicht weniger.
Vielleicht folgt man gerade deshalb Jenny in jeden kleinen Abgrund hinein, auch wenn ihre Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar oder logisch erscheinen.
Ja, und das ist an dem Prinzip Vergebung auch das Interessanteste: Vergebung nämlich folgt auch keiner Logik. Es ist ja völlig paradox, jemandem, der dir ins Gesicht schlägt, einfach zu sagen: Mach ́s nochmal. Das große Bedürfnis nach Recht und Gerechtigkeit steht dem Prinzip der Vergebung entgegen. Und dennoch macht uns kaum etwas anderes so menschlich. Es hat dermaßen viel mit Liebe zu tun, die natürlich auch unlogisch ist.
DEIN HAUS
Wenn dein Haus nicht mehr steht, was machst du dann?
Wo kriechst du hin,
was fängst du an?
Vielleicht brichst du zusammen, fragst dich warum,
aber der Dreck
in dir bleibt stumm.
Und du winselst und schreist, gibst keine Ruh,
ein Dornbusch brennt, und ruft dir zu:
Refrain:
So ist die Welt gemacht, was gut ist, wird vergehn, und jeder Tag wird Nacht! Die Stille um dich rum ist bloß die Stille vor der Schlacht.
So ist die Welt gemacht, es gibt kein Happy End,
es gibt nur den Moment.
Er leuchtet dir den Weg
für die Sekunde, die er brennt.
Wenn dein Haus nicht mehr steht, dann wirst du wach,
dein Kopf blüht auf
und will kein Dach.
Und du ziehst in die Welt und Du siehst ein:
du warst der Klotz
an deinem Bein.
Denn du warst dir so fremd, du warst nicht Du,
ein Dornbusch brennt, und ruft dir zu:
Refrain: (siehe oben) (Text und Musik: Max Prosa)
Foto:
©Verleih
Info:
15 Jahre - Film von Chris Kraus
Ab 11.1. 2024 im Kino
Genre: Drama
Länge: 144 Minuten
Stab
Buch und Regie: Chris Kraus
Besetzung
Jenny von Loeben. Hannah Herzsprung.
Omar Annan. Hassan Akkouch
Gimmiemore Albrecht Schuch
Harry Mangold Christian Friedel
Frau Markowski Adela Neuhauser
Wolke. Stefanie Reinsperger
Abdruck aus dem Presseheft