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Berlin (Weltexpresso) – Hannah Herzsprung hatte 2007 ihre erste große Hauptrolle als die junge Pianistin Jenny von Loeben in VIER MINUTEN. Dieser vielfach ausgezeichnete Vorgängerfilm von 15 JAHRE bedeutete nicht nur Hannah Herzsprungs Durchbruch als Schauspielerin, sondern war auch der Beginn Ihrer Regiekarriere. Hat Sie beide das in besonderer Weise miteinander verbunden?
Ja, es war gewissermaßen eine Doppelhochzeit mit unseren jeweiligen Berufen. Wichtiger als das Erfolgserlebnis, das wir teilten, war aber das gegenseitige Vertrauen, das Hannah und ich in der sehr intensiven Zusammenarbeit zueinander gefasst hatten. Die hatte damals ja mehr als zwei Jahre gedauert.
Zwei Jahre gemeinsame Arbeit an einem einzigen Film?
Ein Jahr Vorbereitung, ein Jahr Auswertung. Dazwischen der Dreh selbst. Jetzt bei 15 JAHRE war es noch viel länger.
Das ist erstaunlich. Man stellt sich immer so naiv vor, dass die Hauptdarstellerin oder der Hauptdarsteller nur ein paar Wochen vor der Kamera am Set stehen, und dann kommt das nächste Projekt.
Ja, aber wie soll sich Robert de Niro für RAGING BULL drei Monate lang einen Wanst für eine einzige Szene anfressen, wenn keine Zeit dafür ist? Bei VIER MINUTEN war Hannah noch sehr jung und musste erst einmal gefunden werden. Wir casteten für die Rolle der Jenny über 2.000 Jugendliche, was unglaubliche Zeitressourcen verbrannte - auch für die Darstellerinnen, die von Runde zu Runde weiterzogen, und sich immer wieder neu vorbereiteten. In einer Probeszene mussten die Kandidatinnen so tun, als würden sie aus Wut ein Papier hinunterwürgen. Hannah war die Einzige, die tatsächlich das Papier vor der Kamera aufaß.
Sie meinen damit, dass sie es hinunterschluckte?
Ja. Keine andere wollte so sehr wie sie diese Rolle. Und kaum jemand anderes geht so dermaßen ins Extrem, um darstellerisch glaubwürdig zu sein.
Ein aufwendiges Casting war diesmal immerhin nicht notwendig.
Nicht für diese Rolle, das stimmt. Aber das gesamte Projekt stand und fiel mit der Kontinuität der Darstellerin. Ohne Hannah hätte man die Geschichte der Jenny nicht weitererzählen können. Während sonst bei Filmprojekten die Besetzung am Ende des Entwicklungsprozesses entschieden wird, stand sie hier vor dem ersten Spatenstich des Drehbuchs unumstößlich fest. Also seit 2018.
Was bedeutete das konkret für das Development der Geschichte?
Auf der Habenseite ganz bestimmt, dass Hannah ein enormer Motor war. Sie ist nicht umsonst auch Koproduzentin dieses Films, hat Klinken geputzt bei Finanziers und ist sich sowieso für keinen Quatsch zu schade. Und sie hat in all den Jahren, die der Film immer wieder verschoben werden musste, viele andere Projekte absagen müssen und einen enormen Preis für das Wort bezahlt, das sie mir gegeben hat. Wir haben auch immer mal wieder zusammengesessen und gearbeitet, auch schon im Jahr 2020, mitten in der Coronakrise, kleine Improvisationen vorgedreht.
DRAMA, RACHE, JENNY-BONES
Wie war das für Sie, diese Darstellerin, die Sie ja entdeckt hatten, nach so vielen Jahren in der Rolle der Jenny wieder zu erleben?
Zunächst enorm vertraut. Hannah hat immer noch diese Jenny-bones und konnte sich in Sekundenschnelle verwandeln, so dass einem angst und bange wurde. Zum anderen war ich auch verblüfft, dass die Psyche Jennys gleichzeitig mit ihrer Darstellerin mitgealtert schien. Jennys Wut und Verletzung wirkten fast noch tiefer und reifer als vorher. Hier musste nichts mehr besprochen werden. Hannah hat diese Fortentwicklung ihrer Figur ganz alleine gemeistert. Das war ein Geschenk. Und ich wusste an diesem Tag: Wir gehen zwar ein Risiko ein, uns beide an einer Art Jugenderfolg messen lassen zu müssen – aber mit einem solchen Potential haben wir eine Chance.
In VIER MINUTEN ging es um die schwierige Beziehung zwischen einer alten Klavierlehrerin, gespielt von der leider bereits 2009 verstorbenen Monica Bleibtreu, und ihrer Schülerin Jenny, einer Strafgefangenen im Zuchthaus. 15 JAHRE hingegen ist vom Genre her ein Drama, das um Rache und Vergebung kreist. Wie kam es zu der Idee?
Da gibt es viele Mütter und Väter. Was mich persönlich betrifft, so hat mich das Leben Ende des letzten Jahrzehnts vor einige Herausforderungen gestellt, und ich musste meine eigenen Emotionen, meinen eigenen Zorn bändigen oder besser gesagt, kanalisieren. Es ist für einen Autor immer gut, vor allem aber für seinen Stoff, wenn er eigene Erfahrungen verarbeitet. Zum anderen war es aber auch klar, dass Jenny als Rachegöttin aus dem Gefängnis kommen würde. Schon in VIER MINUTEN ist ja angedeutet worden, dass sie unschuldig im Knast saß und von ihrem Geliebten verraten worden ist.
Ist also der Verrat und der Umgang der Betroffenen damit der eigentliche Topos des Films?
Verrat ist eine besonders schwere Form des Vertrauensbruchs. Verrat richtet ungeheure zwischenmenschliche Schäden an. Ich persönlich kann bis heute nicht gut damit umgehen und reagiere extrem, wenn man mich hintergeht. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen habe ich die Hauptfigur Jenny für diese Geschichte vor die Wahl gestellt: Entweder angesichts des ungeheuerlichen Schmerzes den Weg der Aktivität oder der Passivität zu beschreiten.
Was meinen Sie damit?
Rache ist eine Form der Selbstermächtigung. Das interessiert mich. Jemand, der Vergeltung übt, verwandelt das, was ihm angetan wurde, in totale Aktivität. Er behauptet sich. Alleine der Wille zur Vergeltung gibt einem Opfer enorme Energie zurück. Gibt einem also Leben zurück, oder sagen wir: Lebendigkeit.
Diese Einschätzung teilt vielleicht nicht unbedingt jeder.
Natürlich nicht. Aber die Studien, die ich dazu las, betonen den Brennwert, der im Konzept der Rache steckt, die ja ein Aufbegehren gegen das Schicksal bedeutet. Also Trotz. Andererseits kann man Leid natürlich auch einfach nur erdulden. Manche Religionen fordern dazu auf, der Buddhismus zum Beispiel, aber auch das Christentum.
Nach dem Motto „Wer dir auf die linke Wange haut, dem halte auch die rechte hin“?
Zum Beispiel. Und der Kontrapunkt ist „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Diese beiden Prinzipien des Umgangs mit erlittenem Unrecht bilden die elektrische Grundspannung unseres Films.
DER FAKTOR ZEIT UND DIE VERGEBUNGSKOMPETENZ
Der Filmtitel betont das Vergehen von Zeit.
Weil das sinnlose Vergehen von Zeit immer auch Leiden bedeutet. Die griechischen Götter haben ihre schlimmsten Strafen an den Faktor Zeit gebunden, an die Endlosigkeit. Bei Sisyphos zum Beispiel. Oder bei Prometheus. Unser Film heißt 15 JAHRE, weil schon dieser Zeitumfang das Leid betont, das unsere Hauptfigur prägt. VIER MINUTEN hingegen gibt durch den Zeitbegriff des Titels eine Tat vor. Eine kurze Aktivität, also das Leben schlechthin in seinem dramatischen ideellen Wesen.
Deutet das auch schon die enormen Unterschiede zwischen beiden Filmen an?
Ich denke schon. VIER MINUTEN lief auf eine Art dramaturgischen und musikalischen Orgasmus zu, auf das alles entscheidende finale Klavierstück, das dem Zuschauer gewissermaßen von Anfang an versprochen wurde. 15 JAHRE hingegen widmet sich viel stärker dem Innenleben der Figur, ihrem Psychogramm. Hier geht es um Implosion, nicht um Explosion. Es wird erzählt, wie Jenny den Konflikt bewältigt, ihrem Wunsch nach Vergeltung entweder nachzugeben – oder Vergebung zu lernen.
Spielt deshalb der Film zu Anfang in einer kirchlichen Einrichtung, in der Jenny als Reinigungskraft soziale Arbeit verrichtet?
Ja natürlich. Ich hatte recherchiert, wie lebenslänglich Verurteilte in unserer Gesellschaft nach der Freilassung wieder in die Außenwelt zurückkommen. Der Buchautor Steffen Schröder, der auch Schauspieler ist, hat selbst Erfahrungen als Resozialisierungshelfer von Mördern der JVA Tegel gemacht. Durch ihn habe ich dann den Hinweis bekommen, dass kapitale Straftäter oft keinerlei Vergünstigungen im Vollzug haben, kein Radio hören dürfen, kein Fernsehen, kein Internet, null. Und erst ein Jahr vor ihrer Entlassung ist es zum Beispiel kirchlichen und sozialen Einrichtungen erlaubt, ihre Leute zu Besuchen von Delinquenten in die Gefängnisse zu schicken, um den Straftätern, die das wollen, eine Übergangslösung in die Freiheit anzubieten. Und dann müssen sich beispielwiese im Frauenvollzug sowohl die Insassinnen wie auch die Sozialarbeiterinnen jeweils füreinander entscheiden.
Hat aus dem Grund die wichtigste Bezugsperson der Protagonistin, die von Adele Neuhauser gespielte Frau Markowski, eine offenbar ganz ähnliche psychologische Struktur wie Jenny?
Das war notwendig. Es musste eine Ursache dafür geben, wieso sich Jenny, die ja Institutionen hasst, nach ihrem Gefängnisaufenthalt für eine Unterbringung in so einem kirchlichen Wohnheim entscheidet. Der Grund ist, dass die scheinbar so selbstkontrollierte Frau Markowski eigentlich genauso affektgetrieben wie sie ist, und Jenny erkennt diese Selbstähnlichkeit und fasst ein wenig Vertrauen. Die Szenographinnen Silke Buhr und Iris Schilhab haben Frau Markowski deshalb u.a. einen kleinen Boxsack ins Büro geschummelt. Winzige Details wie diese bemerken die Zuschauer kaum, sind aber wichtig, um die Charaktere in ihr Umfeld zu stellen. Aber Frau Markowski hat ihren Zorn durch ihre Begegnung mit Gott bewältigen können.
Wieso gelingt das Jenny nicht, wenn sie so ähnlich strukturiert ist?
Weil wir ja keine berechenbaren Maschinen sind. Wir wachsen alle unter den unterschiedlichsten Bedingungen auf. Jede unglückliche Familie ist auf ihre ganz eigene Weise unglücklich. Dieser Satz von Tolstoi hat mich immer beeindruckt. Das Konzept Vergebung ist in der Kirche eine Doktrin. Die greift nicht bei jedem, bei Jenny zum Beispiel gar nicht, obwohl sie es so gerne möchte. Mich fasziniert besonders die freiwillige Vergebung und wie es überhaupt dazu kommen kann.
Was bedeutet „freiwillige Vergebung“ in diesem Zusammenhang?
Sie entsteht zum einen aus Selbsterkenntnis. Das belegen viele psycho-soziale Studien: Nur wer sich selbst erkannt hat, in allen Abgründen und Schwächen, kann auch anderen vergeben. Wer hingegen den Zugang zu sich selbst verweigert, so wie das in unserem Film selbst vergeben. Das ist das Allerschwerste. Gerade für einen Charakter wie Jenny, die ja kaum zu sich vordringt und selbst von Schuld beladen ist.
Foto:
©Verleih
Info:
15 Jahre - Film von Chris Kraus
Ab 11.1. 2024 im Kino
Genre: Drama
Länge: 144 Minuten
Stab
Buch und Regie: Chris Kraus
Besetzung
Jenny von Loeben. Hannah Herzsprung.
Omar Annan. Hassan Akkouch
Gimmiemore Albrecht Schuch
Harry Mangold Christian Friedel
Frau Markowski Adela Neuhauser
Wolke. Stefanie Reinsperger
Abdruck aus dem Presseheft