Redaktion
Berlin (Weltexpresso) – Am Anfang von IM LETZTEN SOMMER stand der dänische Film KÖNIGIN. Wie kamen Sie auf die Idee, ein Remake zu drehen?
Das war eine Idee von Saïd Ben Saïd. Er schickte mir eine kurze Nachricht, in der er mich daran erinnerte, dass wir uns drei Jahre zuvor auf dem Filmfestival in Belfort getroffen hatten, und sagte mir, dass er gerade die Rechte für ein Remake eines dänischen Films gekauft hatte und der Meinung war, dass ich das Original übertreffen könnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich an einem Tiefpunkt meines Lebens angelangt. Ich hatte keine Lust mehr, Filme zu machen. Ich glaube, ich hatte auch eine latente Depression, denn ich befinde mich in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung. Ich leide an einer halbseitigen Lähmung, und dieser Zustand macht es einem nicht leicht. Jedenfalls schaute ich mir den Film an und war erstaunt über die Lüge, um die es darin geht. Eine so große Lüge zu erzählen und es zu schaffen, dass der andere sie glaubt, das geht nur, wenn man darin eine gewisse Wahrhaftigkeit erlangt. Ich fand diese Drehbuchidee absolut genial, würdig eines Shakespeare.
Abgesehen von dieser szenischen Idee unterscheidet sich IM LETZTEN SOMMER stark vom Original, in dem es ja um den Ehebruch einer Frau aus dem Bürgertum geht, die sich beinahe, wie ein Raubtier verhält. Sie hingegen inszenieren in Ihrem Film die Reinheit des Begehrens und der Gefühle.
Auf dem Papier handelt es sich tatsächlich um die Geschichte eines Ehebruchs mit einem viel zu jungen Stiefsohn. Aber das wollte ich nicht erzählen. Ich mag Realismus im Kino nicht, wenn er sich darauf beschränkt, konventionelle, engstirnige, moralistische Dinge zu erzählen. Moralistische Kunst macht die Menschen hässlich und lässt sie schrumpfen. Aber die Kunst an sich ist moralisch, weil sie die Menschen verschönert, sie aufblühen lässt und sie verklärt. Entgegen der landläufigen Meinung bin ich eine extreme Romantikerin. Ich bin von Reinheit geradezu besessen, weshalb ich den Ausdruck „schwül“ in Bezug auf meine Filme nicht ausstehen kann. Genauso wenig, wie wenn man behauptet, ich würde erotische Filme machen. Ich hasse Erotik! Erotik ist die Art und Weise, wie Männer Frauen zum Konsumobjekt herabwürdigen. In meinen Filmen gibt es keine Erotik. Es gibt zwar Härte und Sexualität, weil ich mich von Anfang an mit meiner sexuellen Identität auseinandergesetzt habe. Aber meine Filme sind in erster Linie poetisch. Was mich interessiert, ist das Begehren, die Liebe, der Liebestrieb, die Schuld – letztlich alles, was wir nicht benennen können, alles, was im Bereich des Unausgesprochenen liegt und was ich als unsere „Gemeinplätze“ bezeichne.
Zu Beginn der Geschichte haben Anne und Théo, der noch mit einem Fuß in der Kindheit steht, vor allem, wenn er mit seinen kleinen Schwestern spielt, kaum etwas gemeinsam...
Ja, Théo fühlt sich in der Erwachsenenwelt ausgesprochen unwohl – und in seinen Augen ist Anne anfangs genauso monströs wie die anderen Erwachsenen. Dann kommt die entscheidende Szene, in der sie ihm seinen Schlüsselanhänger zurückbringt. In diesem Moment deutet noch nichts daraufhin, dass in ihm ein potenzieller Liebhaber steckt. Er hat immer noch diese rundlichen Kinderbacken, sieht nicht wirklich gut aus und verhält sich wie ein arroganter kleiner Teenager. Trotzdem streckt sie ihm die Hand entgegen, womit er nicht rechnet, und in diesem Moment beginnt der Film so richtig: Er schaut zu ihr auf, sieht sie plötzlich mit anderen Augen, scheint sie regelrecht zu entdecken – und gewinnt dadurch eine andere Dimension. Mit dem Pakt, den Anne und Théo eingehen, besiegelt sie ihren „Untergang“, aber das weiß sie natürlich nicht. Irgendwie verleugnet sie sich selbst. Denn sie denkt, sie würde sich dem Jungen gegenüber einfach nur großzügig verhalten.
Diese Begegnung lässt die beiden über sich hinauswachsen. Der Film zeigt, dass Begehren und Liebe die Menschen verändern kann...
Ja, daran habe ich immer geglaubt. Selbst in meinen ersten Filmen, selbst in SCHMUTZIGER ENGEL und LOLITA 90, in denen die Männer tatsächlich schreckliche Machos sind, gibt es so etwas wie eine Erlösung, die die Liebe und das Verliebtsein möglich machen. Ich glaube an die Liebe, daran, dass sie uns verwandelt und verklärt. Das zeige ich in diesem Film, und zwar mit aller Macht. Von dem Moment an, als das Verlangen in Anne und Théo erwacht, wirkt sie jünger, leuchtender, anmutiger. Sie erlebt eine Jugend wieder, die sie nicht hatte, weil sie ihr, wie sich erahnen lässt, brutal genommen wurde. Es ist dieses Leuchten, das sie umgibt, das den Zuschauer begreifen lässt, dass die beiden sich ineinander verliebt haben.
Plötzlich spielt ihr Altersunterschied keine Rolle mehr...
Als wir die Tätowierungsszene drehten, in der Anne sich zurück in eine Jugendliche verwandelt, sagte ich zu Léa: „Stell dir keine Fragen, du bist jetzt einfach wieder fünfzehn Jahre alt. Etwa so wie im Film PAULINE AM STRAND‘. Du bist nicht mehr erwachsen, du bist Pauline. Was du jetzt sagst, spiegelt nur deine Verzauberung wider, dein Berauschtsein von Worten, die nichts bedeuten, deine Freude, deine Freiheit...‘. Für eine Schauspielerin gibt es nichts Schwierigeres zu spielen: dieses Leuchten in den Augen, das Lächeln im Blick, sich wie 15 zu fühlen. Irgendwann ist ihre Beziehung so offensichtlich, dass es nicht mehr um das Verhältnis eines sehr jungen Mannes mit einer reifen Frau geht, sondern einfach nur um die Beziehung zweier Menschen, was ja deutlich interessanter ist. Wenn ich zeige, wie sich Samuels Gesicht Léas Körper nähert, erotisiert er sie, verschönert und verjüngt er sie.
Wie gelingt das?
Durch das Wunder des Castings. Léa und Samuel haben mir absolut vertraut. Samuel vielleicht noch mehr als Léa, weil er nie zuvor gespielt hatte und sich in einem Zustand der Unschuld befand. Vormittags machte er Abitur und drehte nachmittags seine erste Liebesszene! Die Kamera war regelrecht in die beiden verliebt, und sie spielten ohne jede Distanz. Es ist diese Wehrlosigkeit und die unglaubliche Reinheit, die ihrer Beziehung Schönheit verleiht. Die Hingabe auf beiden Seiten war hundertprozentig, wir arbeiteten symbiotisch: Ich war sie, sie waren ich, und sie waren mein. Ich sage ja immer, dass meine Schauspieler meine Knetmasse sind.
Anne und Théo werden oft aus nächster Nähe gefilmt, wie in einer Blase, in der das gesellschaftliche Umfeld keine Rolle spielt...
Ja, weil wenn zwei Menschen sich mit den Augen verschlingen und die Worte des anderen förmlich aufsaugen, sind sie allein auf der Welt. Selbst ohrenbetäubenden Lärm hören sie dann nicht. Im Film wirkt es fast so, als würde Samuel schielen, weil ich ihn aufforderte, Léa häufig aus den Augenwinkeln zu beobachten. Mir ist inzwischen klar geworden, dass ich eine Filmemacherin der Emotionen bin. Und Emotionen zeigen sich in nackten Gesichtern, in flüchtigen, heimlichen Blicken... Ich liebe es, die menschliche Seele in ihren kleinsten Zuckungen zu zeigen, ihre Unbestimmtheit finde ich unglaublich schön.
Nie zuvor haben Sie Tränen so oft gefilmt.
Bei der Szene im Gras kam Léa an ihre Grenzen, weil ich sie um EINE Träne gebeten hatte, nicht um zwei. Und dass sie über eine bestimmte Wange laufen sollte und nicht über die andere, weil es sonst im Bild schrecklich aussah. Aber schließlich tat sie genau das, was ich wollte, und das Ergebnis ist sehr bewegend. Man spürt, dass Anne von einem Panzer umgeben ist, dass sie nicht einfach losheulen kann. Ihre Augen werden nur ein bisschen feucht, und dann fließt diese eine Träne. Als Théo sie nach „ihrem ersten Mal" fragt, denkt er, dass es sich um eine harmlose Frage handelt, zumal man das heute ja alles viel lockerer sieht... Doch da wird ihm klar, dass sie dieser Frau, die er zu kennen glaubte und die so viel älter ist als er, sehr zu schaffen macht. Plötzlich empfindet er eine große Zärtlichkeit für sie, als wäre er zwanzig Jahre älter als Anne, als wäre es seine Aufgabe, sie zu trösten und zu beschützen. In diesem Moment merkt man, dass er sie liebt. Als Théo Anne seinem Fragebogen unterzieht, zögerte ich lange, bevor ich sie bäuchlings ins Gras legte. Ich fürchtete, dass Anne mit ihren 50 Jahren lächerlich wirken würde, wenn sie so im Gras liegt mit einem ganz jungen Mann. Auf der anderen Seite wollte ich unbedingt, dass ihre Schultern sich berühren, dass es unschuldig wirkt, jung, sommerlich unbeschwert.
Die Szene im Auto, als sie von ihrem Ausflug ans Wasser zurückkehren, ist ein Moment der puren Freude...
Sie spiegelt meine Sixties-Seite wider, gerade auch das Cabrio! In dieser Szene findet Anne ihre Jugend wieder, aber sie merkt es nicht einmal. Als die beiden mit den Kindern auf dem Arm nach Hause kommen, ist aus den beiden endgültig ein Paar geworden.
In Ihrem Film existieren zwei Ebenen nebeneinander: die familiäre, soziale, eher naturalistische Ebene und dann jene Ebene, die die Momente der Zweisamkeit zeigt und wie aus der Zeit gefallen wirkt...
Ich liebe das naturalistische Kino, aber ich finde, man muss es mit Elementen des Expressionismus zerschlagen, denn wenn die Darsteller „realistisch spielen“, fehlt mir diese gewisse Spannung, auf die ich so viel Wert lege. Ich inszeniere Emotionen, nicht das Alltägliche. Das hängt mit Sicherheit auch mit dem Film zusammen, den ich sah, als ich zwölf war: Bergmans ABEND DER GAUKLER, bald darauf noch „Persona“. Und dann ist da natürlich noch Hitchcock, mit seinen rätselhaften Heldinnen, und selbstverständlich auch all die Maler. Ich platziere meine Schauspieler im vor der Kamera wie Maler ihre Figuren ins Gemälde, die ja übrigens endlose Studien anstellen, um einen Kopf, einen Arm oder einen Blick aus dem Augenwinkel perfekt, zugleich unglaublich artifiziell und doch naturalistisch zu platzieren. Man muss gegen den Naturalismus ankämpfen, um die Emotionen im Bild plausibel zu machen. Bei ROMANCE ließ ich mich von der Transparenz von Georges de La Tour. Bei BLAUBARTS LETZTE FRAU von Cranach. Und bei IM LETZTEN SOMMER von Caravaggio. Er kam mir enorm zu Hilfe, insbesondere bei der Liebesszene...
Warum Caravaggio?
Es fand eine Zäsur in der Kunstwelt statt, als Caravaggio seine Maria Magdalena in Ekstase malte. Denn er wagte es, Sinnlichkeit und Fleisch mit göttlicher Ekstase zu verknüpfen. Sex ist ein Machtinstrument, das von den Religionen bekämpft wird, weil es eben mit der Religion konkurriert. Allzu oft will man das Fleischliche auf ein schlüpfriges, ab und zu einigermaßen charmantes Vergnügen reduzieren, das aber letztlich immer trivial bleibt. Ich hingegen möchte diese göttliche Ekstase filmen, wenn die Körper quasi durchsichtig werden.
Sie inszenieren Ihre Liebesszenen sehr unterschiedlich...
Weil jede Liebesszene etwas anderes erzählt. Da geht es um mehr als nur: Sie haben Sex miteinander. In der ersten Liebesszene zwischen Théo und Anne etwa zeige ich keine Gegenaufnahme von Anne, weil es Théo ist, der sich seiner Partnerin hingibt. Während der Dreharbeiten schlief ich nicht nur in der Kulisse, sondern sogar im Bett des Films. Nachts stand ich manchmal auf und dachte an die Sequenzen, die wir noch zu drehen hatten. Das hat dazu beigetragen, dass meine Inszenierung präziser und ausgefeilter als sonst ausfiel. Vor allem bei der zweiten Liebesszene, die ich ebenfalls ohne Gegenschuss drehen wollte, weil eine Liebesszene für mich bis zum Ende klar und anmutig sein muss.
In dieser zweiten Liebesszene konzentrieren Sie sich nicht nur ganz auf Anne, es handelt sich auch um einen der Momente, in denen Sie sich am stärksten vom Naturalismus entfernen.
Bei dieser Szene wusste ich erst nicht, wie ich Léa filmen sollte. Da erwies sich Maria Magdalena in Ekstase als große Hilfe. Ich schaute mir das Gemälde noch einmal an und sah, dass Maria Magdalena – deren feine Nase obendrein Ähnlichkeit mit Léas Nase aufweist – eine sehr präzise Kopfbewegung macht. Ich bat Léa, sich davon inspirieren zu lassen. „So sieht ekstatische Liebe aus, man streckt und wölbt seinen Hals und wirft den Kopf zurück". Damit diese Szene schön wirkte, musste ich jede Trivialität vermeiden, die Gesten mussten vollständig choreografiert sein. In der Liebe gibt es nichts, was einem Pornofilm ähnelt. Es geht um transparente Körper, die verschmelzen, um Vergänglichkeit und Ekstase, quasi um das Verschwinden der Körper.
Die Szene endet auf Anne und ist in fahlen Farben gehalten, von denen man nicht genau weiß, ob sie den Tod oder die Ewigkeit evozieren sollen, zumal die Einstellung unnatürlich lange dauert...
Ja, ich wollte eine Euphorie zeigen, die überwältigt. Als wir drehten, fiel mir ein, dass man Maria Magdalena in Ekstase lange Zeit für Maria Magdalena am Grab gehalten hatte. Da zeigte ich mit dem Finger auf Léa und rief ihr zu: „Stirb, Léa – stirb sofort! Hör auf zu atmen!“ Und sie hörte auf zu atmen. Zu Samuel sagte ich: „Geh weg, komm nicht zurück ins Bild!" Léas Einsamkeit war in diesem Moment grenzenlos.
Ein Kuss wurde selten zuvor in einer so extremen Nahaufnahme gefilmt, wie Sie es tun. Sie sexualisieren ihn so sehr, dass er schon wieder abstrakt wirkt...
Auch hier kam mir die Idee nachts auf dem Set. Mit dem, was wir geplant hatten, war ich nicht zufrieden, und ich stand einige Male auf, um zu überlegen, wo ich die Kamera hinstellen könnte. Da fiel mir diese radikale Nahaufnahme ein, in der Léa und Samuel sich langsam einander zuwenden, wie magnetisch voneinander angezogen. Ich wollte, dass sich ihre Münder in einem echten Kuss vereinen, einem tiefen, nassen Kuss, mit dem sie sich buchstäblich verschlingen – nicht in einem herkömmlichen Filmkuss!
Sie klammern den Begriff des Missbrauchs aus Annes und Théos Beziehung aus, ohne freilich zu leugnen, dass es Missbrauch gibt – allein schon dadurch, dass Anne als Anwältin für Missbrauchsopfer arbeitet.
Das war bereits im dänischen Original so, aber ich habe es noch betont, indem ich den Film mit diesem vergewaltigten Mädchen beginne, das von einer außergewöhnlichen Schauspielerin dargestellt wird...
... auf der Ihre Kamera lange verweilt und deren intensiver, zugleich sturer und frecher, geradezu grimmiger Blick an die jungen Heldinnen Ihrer frühen Filme erinnert.
Ich hatte eine Anzeige im Internet geschaltet, und als dieses Mädchen antwortete, war ich sofort von ihrem undurchsichtigen Blick fasziniert und wie ihr die Haarsträhnen ins Gesicht fielen, sie erinnerte mich sehr an Marie Trintignant. Als wir ihre Szene drehten und ihr Kinn zu zittern anfing, war das absolut unglaublich!
In der Liebesszene mit ihrem Mann redet Anne die ganze Zeit, anders als bei Théo...
Ihre eheliche Liebe ist schon eine echte Liebe, aber sie ist trotz allem zur Routine geworden. Auch in dieser Szene reckt Anne den Kopf nach hinten, aber viel weniger als bei Théo, da habe ich mich von dem Bild der nackten Frau inspirieren lassen, das über ihrem Bett hängt.
Der Ehemann ist ebenfalls eine sehr schöne Figur.
Stimmt, ich finde Olivier Rabourdin sehr sexy. Wie bei Léa und Clotilde war es Saïd, der an Olivier dachte – Saïd ist sehr gut darin, Rollen zu besetzen! Als ich Olivier kennenlernte, war ich sofort verzaubert. Ich finde, er hat etwas von einem amerikanischen Schauspieler. Dieser schwere, wunderschöne Blick, dieser große, etwas schlaffe Körper, diese Statur. Ich war mir sicher, dass er großartig aussehen würde, wenn er sein Hemd auszieht. Ich wollte, dass Annes Mann von großer Schönheit und sehr sanft zu ihr ist, sehr menschlich.
Info:
Besetzung
Anne. Léa Drucker
Théo. Samuel Kircher
Pierre. Olivier Rabourdin
Mina. Clotilde Courau
Serena. Serena Hu
Angela. Angela Chen
Stab
Regie. Catherine Breillat
Drehbuch. Catherine Breillat unter Mithilfe von Pascal Bonitzer
Abdruck aus dem Presseheft