Bildschirmfoto 2024 01 12 um 23.37.00Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. Januar 2024, Teil 10

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Catherine Breillat?


Die Idee hatte Saïd BenSaïd, der Produzent des Films. Soweit ich weiß, war Catherine mit meiner Arbeit nicht vertraut. Ich selbst war mir nicht sicher, ob ich in ihre Welt passen würde, und dachte, dass alles von unserer Begegnung abhängen würde, die zunächst am Telefon stattfand. Dann trafen wir uns auch wirklich, und ich konnte sehen, wie sie mich beobachtete, während ich ihr gestand, wie sehr mir das Drehbuch gefiel. Ich habe nicht viel gesagt, sondern ließ sie erzählen: wie sie bestimmte Szenen filmen wollte, über das Kino im Allgemeinen, wie sehr sie Caravaggio und die Gemälde des 17. Jahrhunderts mochte.

Kannten Sie ihre Filme?

Ich erinnere mich, dass ich 36 FILLETTE gesehen hatte, als der Film in die Kinos kam, und auch EINE PERFEKTE LIEBE, MEINE SCHWESTER, MISSBRAUCH – Filme, die ich sehr mochte, weil sie mich umhauten. Die Vorstellung, diesen Film zu machen und in Catherines Welt einzutauchen, hat mich darum echt begeistert. Natürlich hatte ich auch Angst, aber genau deshalb übe ich diesen Beruf ja auch aus. Man kann nicht alles beherrschen, im Gegenteil, man muss sich auf das Unbekannte einlassen. Catherine hat sehr genaue Vorstellungen und Ansichten, eine Vision, von der ich nicht weiß, ob man sie als radikal bezeichnen kann, die aber auf jeden Fall absolut stimmig ist. Es ist toll, mit ehrgeizigen Regisseuren zu arbeiten, deren Geist und ästhetisches Universum so stark ausgeprägt sind.

Wie haben Sie sich bei der Drehbuchlektüre die Beziehung zwischen Théo und Anne erklärt?

Sie sind wie zwei Gefangene, die sich dadurch in gewisser Weise befreien. Er will sich seine Jugend beweisen, sie langweilt sich in ihrem bürgerlichen Leben und möchte ausbrechen. Wie im wirklichen Leben drückt das Drehbuch vor allem die Komplexität und das Geheimnis bestimmter chaotischer Beziehungen aus, von denen man ahnt, dass sie in einer Katastrophe enden könnten. Die Geschichte umgab etwas Tragisches, Gefährliches und Schwindelerregendes. Ich konnte mir nicht alles erklären, aber genau diese Vagheit fand ich sehr interessant. Liebe lässt sich nicht immer deuten, davon bin ich überzeugt, und auch, dass sie manchmal etwas Destruktives hat. Jedenfalls sprach mich das Drehbuch an – gerade, weil es sich manchmal vom Realismus abwendet und man ab und zu das Gefühl hat, dass man sich nur im Kopf dieser Frau befindet... Ein Eindruck, den Catherine beim Dreh, beim Schnitt und bei der Tonmischung übrigens noch verstärkt hat.

Die Intimität zwischen Anne und Théo fußt auf einer Art Lüge: Sie verheimlicht dem Vater, dass Théo gestohlen hat.

Damit wird gewissermaßen ein Pakt geschlossen, auch wenn Anne sich dessen nicht bewusst ist. Was sie ihm damit im Wesentlichen sagt, ist: „Du hörst jetzt auf, dich wie ein gequälter, rebellischer Teenager zu benehmen, der alle nervt. Ich biete dir eine andere Rolle an!“ In ihrem Berufsleben hat Anne den ganzen Tag mit missbrauchten jungen Mädchen zu tun. Sie kann sich also mühelos in Jugendliche hineinversetzen. Trotz ihres Altersunterschieds infantilisiert Anne Théo nicht, und Théo sucht keine Mutter, sie stehen in einer gleichberechtigten Beziehung zueinander. Manchmal ist er sogar erwachsener als sie! Die traumatische Erfahrung, die Anne in ihrer Jugend gemacht hat, drückt sich vermutlich in ihrer Affäre mit Théo und dem Höhenflug mit diesem jungen Mann aus, ohne dass sie uns im Detail erzählt wird. Es ist ein Neuanfang für sie und die Gelegenheit, das, was in ihrer Jugend schiefgelaufen ist, noch einmal zu erleben. Auf jeden Fall fühlte ich mich bei den Dreharbeiten an viele Reaktionen und Haltungen aus meiner eigenen Jugendzeit erinnert. Ich war wieder wie eine Fünfzehnjährige, als ich mit Samuel auf dem Roller fuhr! Ich habe mich von der Situation mitreißen lassen, von diesem Hauch von Jugend.

Zu keinem Zeitpunkt entsteht der Eindruck, dass Anne Théo missbraucht.

Auf dem Papier könnte dieser Eindruck für manche sicher entstehen, aber meiner Meinung nach erzählt der Film keinen Fall von Missbrauch. Wenn Anne sexuell übergriffig wäre, würden die Dinge in eine Schublade passen, aber hier ist es viel komplexer: Es gibt schließlich Gefühle auf beiden Seiten. Was also tun, wenn es passiert? Mit Moral kommt man dieser Art von „Liebesgeschichten“ nicht bei. Ich benutze bewusst Anführungszeichen, weil es schwierig ist, diese Geschichte zu definieren. Manche würden vielleicht sagen, dass es sich nicht um Liebe, sondern um Inzest handelt, da es sich ja innerhalb einer Familie zuträgt. Diese Affäre könnte Annes Berufsleben zerstören, ihr Familienleben und die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Ich wollte diesen Film auch machen, um mit gängigen Vorstellungen aufzuräumen, und zwar so intelligent oder zumindest so sensibel wie möglich. Die vorherrschende Ideologie hat nicht auf alles eine Antwort, wir sind schließlich in erster Linie menschliche Wesen mit kompliziertem Innenleben. Ich finde, dass der Film dieses undurchsichtige Innenleben sehr gut darstellt, ohne uns Antworten zu geben, ohne uns vermeintliche Wahrheiten aufzudrängen. Mir gefällt auch, dass Catherine ihren Film mit dem Lied 20 ans von Léo Ferré beendet – was die Komplexität der Situation aber keineswegs ausblendet und deshalb umso verstörender ist.

Anne und Théo werden die meiste Zeit wie in einer Blase gefilmt, in der sie die Welt um sich herum vergessen...

Mir war natürlich bewusst, dass die Kamera die ganze Zeit auf uns gerichtet war, sehr nah an dem, was im Inneren unserer Figuren vor sich ging. Das bedeutete, dass wir immer sehr konzentriert und intim spielen mussten. Selbst in den scheinbar harmloseren Szenen war nichts harmlos. Anne und Théo sind immer miteinander verbunden, lassen sich nicht aus den Augen. Das zu spielen, ist schon schwindelerregend.

Catherine Breillat konzentriert sich mit ihrer Kamera oft auf eine Person, anstatt laufend von einer zur anderen zu wechseln.

Ich war von dem Drehbuch überrascht, ich war vom Dreh überrascht – und erst recht, als ich den fertigen Film gesehen habe, dem der Schnitt eine weitere Dimension verliehen hat. Das gelingt auch, weil Catherine weitgehend auf eine Schuss-Gegenschuss-Inszenierung verzichtete. Man spürt dadurch, wie schwer der Blick desjenigen, der nicht im Bild ist, wiegt. Ich finde das großartig, weil es wirklich erzählt, was zwischen Anne und Théo geschieht, wie sehr der Blick des einen auf den anderen beeinflusst, wer sie sind. Es betrifft natürlich auch meine Arbeit als Schauspielerin, die sich nicht auf die Vorbereitung und die Konstruktion einer Figur beschränkt. Spielen bedeutet auch, sich von seinem Gegenüber beeinflussen zu lassen und das zu akzeptieren (was auch umgekehrt gilt), und zwar nicht auf rationale oder intellektuelle, sondern auf irrationale Weise.

In der zweiten Liebesszene zwischen Anne und Théo wird die Zeit auf traumhafte Weise angehalten, der Tod und die Ewigkeit spielen da plötzlich hinein...

Vor dieser Szene zeigte Catherine mir ein Gemälde von Caravaggio, „Maria Magdalena in Ekstase“, und sagte: „Schau, das ist es, was ich gern von dir möchte." Also sah ich mir das Bild genau an und versuchte, emotional darauf zu reagieren, genau wie auf Catherines Bitte, mit der sie sehr viel von mir verlangte. Und als sie die Aufnahme ins Endlose dehnte, fragte ich mich nicht, wie das Ergebnis aussehen würde, sondern ließ mich von dem Bild tragen, das sie mir gezeigt hatte. Es ist toll, Regieanweisungen anhand eines Gemäldes von Caravaggio zu erhalten.

Wie würden Sie Catherine Breillats Schauspielführung beschreiben?

Ich verstand nicht unbedingt, wohin sie mich mitnehmen wollte, aber ich versuchte, in ihrer Welt aufzugehen. Catherine führt viel mit Worten, sie spricht unablässig und besitzt ein faszinierendes Vokabular – auch privat ist ihre Art zu sprechen einzigartig. Catherine sagt manchmal heftige und radikale Dinge, sie scheint besessen zu sein, wenn sie filmt, aber das geschieht nur, um dich in eine fast mystische, unwirkliche Richtung zu treiben, bis du irgendwann förmlich neben dir stehst.

Wie haben Sie sich mit Samuel Kircher verstanden?

Vor den Dreharbeiten haben wir uns nicht getroffen, das war Catherine sehr wichtig. Samuel ist ein erstaunlicher Junge. Extrem feinfühlig, sensibel, großzügig, aufrecht. Da ich viel älter bin als er, habe ich darauf geachtet, ihn nicht mit Ratschlägen und Erklärungen zu überfordern. Er wusste, dass die Tür offen stand, wenn er Fragen hatte oder mit mir reden wollte, aber ich sah sofort, dass er ein Schauspieler mit einem wahnsinnigen Instinkt ist und dass er genau verstand, was wir da erzählten. Und er brachte sich tüchtig ein. Samuel war mit Freude bei der Sache, sehr sogar. Er liebte Catherine über alles. Bei unseren gemeinsamen schwierigen Szenen vertrauten wir ihr vollständig und uns auch gegenseitig. Vor allem, weil es keine künstlerischen Unschärfen gab. Catherine war sehr methodisch, sie ging die Szenen wie Stunts an, sehr technisch und präzise, was die Einstellungen und Kamerabewegungen betraf, und es beruhigte mich sehr, wenn ich möglichst viel darüber wusste, wie sie eine Szene drehen wollte, was sie von uns erwartete und was nicht. Catherine machte von Anfang an klar: „Ich interessiere mich nicht für nackte Haut. Was mich interessiert, sind Gesichter.“ Ich dachte, das würde das Ganze einfacher machen. Aber dann musste ich feststellen, dass es hundertmal schwieriger ist, als wenn man mit Abstand gefilmt wird. Gesichter sind so intim.

 

Trotz dieser Fokussierung auf die Gesichter lässt sich nicht leugnen, dass Sie auch körperlich so präsent sind wie in kaum einem Ihrer früheren Filme.

Ja, das war neu für mich. Es begann schon bei der Kostümprobe. Als ich dieses weiße, enganliegende Kleid und die hohen Absätze sah, fragte ich mich, ob ich mich in diesen Kleidern wirklich frei bewegen könnte. Letztendlich hat mir meine Garderobe geholfen, mich in die Figur der Anne hineinzuversetzen. Die Tatsache, dass ich immer gut frisiert war, dass ich eine begehrte, begehrenswerte Frau war, hat mich davon abgehalten, mich zu verstecken, hat mich gezwungen, mich in den intimen Szenen auf eine bestimmte Art und Weise zu bewegen und zu akzeptieren, dass ich eine sexuelle Figur bin, eine Frau mit einem Körper, eine, die dazu steht. Catherine hat mich in einen speziellen Zustand versetzt und mich zu etwas geführt, das ich zuvor noch nicht getan hatte, außer vielleicht ein bisschen am Theater. Bei Catherine merkt man, dass man nicht auf herkömmliche Weise angeschaut wird, sie macht das mit all ihren Schauspielern. Sie hat uns alle idealisiert und schön gemacht. Ich weiß noch, dass sie unbedingt wollte, dass Olivier Rabourdin wie ein amerikanischer Schauspieler aussieht.

Die Großaufnahme von Annes Gesicht, als sie beschließt, ihren Mann zu belügen, wirkt so absonderlich, dass sie auch aus einem Horrorfilm stammen könnte.

Anne verwandelt sich plötzlich in einer Figur aus einem Film Noir der 1950er-Jahre. Vor dem Dreh dieser Sequenz habe ich mich ein wenig davor gefürchtet, dass meine schauspielerischen Mittel nicht ausreichen, um Annes Psychologie gerecht zu werden. Ich bin eine lebhafte, eher ausdrucksstarke Schauspielerin, hänge mich gern immer voll rein und kehre mein Innerstes nach außen. Aber Catherine sagte: „Bloß nicht, sei ganz reduziert". Auch hier war sie sehr präzise und setzte voll auf Innerlichkeit. Es war fast wie beim No-Theater, zumindest ist das meine Vorstellung davon. So unbewegt habe ich selten gespielt, aber es bewirkte einen monströsen Umschwung dieser Figur, gab ihr etwas Besessenes. Anne glaubt ja am Ende fast selbst an ihre Lüge, erleidet eine Art Realitätsverlust nahe am Wahnsinn.

Realitätsverlust?

Anne spürt genau, dass ihr eine gesellschaftliche Bestrafung droht, dass ihr Leben zerstört werden könnte, vor allem ihr Familienleben, das sie um jeden Preis bewahren will.

Man ist es von Catherine Breillat nicht gewohnt, dass sie die Tränen ihrer Figuren filmt...

Auch wenn es zurückhaltend geschieht, tut sie es hier, das stimmt. Ich mag es, wie sie Emotionen inszeniert und wie sie den Film geschnitten hat. Jede Figur zeichnet sich durch ein gefühlvolles Innenleben aus. Der Film ist weder zynisch noch böse, er ist einfach hoffnungslos menschlich, mit all der Komplexität, die das mit sich bringt.


Die letzte Liebesszene ist zwar in den Verlauf der Geschichte eingebettet, aber man könnte auch annehmen, dass Anne sie bloß geträumt hat. Da ist schließlich dieser rätselhafte Schlüssel in ihrer Hand...
Catherine wollte mir nie erklären, was es mit diesem Schlüssel auf sich hat. Also habe ich ein paar Erklärungsversuche zurechtgelegt: Ist es womöglich der Schlüssel zu einem Märchen? Der Schlüssel zu einer Lüge? Der Schlüssel, um eine Gefängnistür zu öffnen? Anne ist glücklich mit ihrem Mann, sie hat sich für ein Leben mit ihm entschieden. Aber mit Théo bricht sie aus diesem Käfig aus und folgt ihren Sehnsüchten...

Man spürt eine Übereinstimmung zwischen Ihnen und Catherine Breillat, vor allem in der Intensität des Blicks.

Ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich offenbar einige Dinge von Catherine übernommen. Erst als ich mir den Film noch einmal ansah, wurde mir klar, dass sich ihre Hartnäckigkeit und Intensität ein Stück weit auf mich übertragen hatten. Das ist schon seltsam. Catherine ist ein lustiger Mensch. Sie sagte zu mir: „Du bist wie ich, nämlich verrückt nach dem Kino, und nur deshalb konntest du mich ertragen!“


Foto:
©Verleih

Info:

Besetzung

Anne.  Léa Drucker 
Théo.  Samuel Kircher
Pierre. Olivier Rabourdin
Mina.   Clotilde Courau 
Serena. Serena Hu 
Angela. Angela Chen

Stab

Regie.  Catherine Breillat
Drehbuch. Catherine Breillat unter Mithilfe von Pascal Bonitzer

Abdruck aus dem Presseheft