ndrSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 25. Januar 2024, Teil 4

Redaktion 

Berlin (Weltexpresso) -  Warum wollten Sie als deutscher Regisseur, aus Deutschland heraus die Geschichte einer jüdischen Greiferin in der NS-Zeit erzählen?


Es ist für mich ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Sie ist im Land meiner Vorfahren passiert. Das Schicksal der Juden in Deutschland ist Teil meiner Geschichte, für die ich eine Verantwortung spüre. Eine Verantwortung, die wächst, je älter ich werde. 

 

Wie sind Sie auf die Geschichte von Stella Goldschlag gestoßen? Wie kam es zu der Idee, daraus einen Film zu machen?

Vor über 20 Jahren sah ich ein Foto von ihr in der Zeitung. Das Foto einer lächelnden jungen Frau auf dem Kudamm. Ein überraschend heutiges Bild. Es war Teil eines Artikels mit dem Titel „Das blonde Gespenst“. Die Geschichte von Stella Goldschlag, die auf dem Kudamm umherstreifte und jüdische Mitmenschen verriet. Freunde. Bekannte.

Der Fall schockte und beeindruckte mich in seiner Ambivalenz: Auf der einen Seite die Anzahl ihrer Opfer, der horrende Verrat von Freunden, Bekannten und Unbekannten. Auf der anderen Seite das Leid, das Stella und ihre Familie durchleben mussten, nur weil sie Juden sind: Ausgrenzung, Zwangsarbeit, Leben im Untergrund, Verhaftung, Folter und Deportation bis hin zur Ermordung der Eltern. 

Es war schwer, innerlich ein Urteil zu fällen. Und natürlich drängt Stella Goldschlags Geschichte die Frage auf: Was hätte ich getan an ihrer Stelle? Wäre ich zu diesem Verrat fähig gewesen? Wie weit gehe ich, um zu überleben? Hätte ich wirklich Nein gesagt? 

 

Wie haben Sie sich dem Thema genähert? 

Recherche ist für meine Co-Autoren Marc Blöbaum, Jan Braren und mich gerade in einem Fall wie diesem unumgänglich und der entscheidende Weg für unsere Autorisierung. Diese Geschichte – das war uns von Beginn an klar – musste mit größtmöglicher historischer Genauigkeit erzählt werden. Was Sie in diesem Film sehen, ist also in hohem Maß historisch belegt. 

Wir haben sämtliche Prozessakten von 1957 studiert mit dutzenden Zeugenaussagen. Die Verhörprotokolle der russischen Kommandantur von 1946, die Bücher von Peter Wyden und Doris Tausendfreund gelesen. Uns intensiv mit unseren Beratern ausgetauscht, insbesondere mit Professor Andreas Nachama, mit Barbara Schiep und Martina Voigt von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, und mit Akim Jah, der in seinem Werk „Die Deportation der Juden aus Berlin“ detailliert auf das Sammellager Große Hamburger Straße eingeht.

Besonders wertvoll waren unsere Interviews mit Zeitzeugen wie Margot Friedländer und Walter Frankenstein, beide ehemals untergetauchte Berliner Juden. Walter Frankenstein rief uns zu: „Sie (also wir) sind die Gegenwart. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Demokratie eine Demokratie bleibt. Und dass die Demokratie eine Zukunft hat. Das ist meine ganze Hoffnung. Würde das nicht so sein, dann habe ich umsonst gelebt.“

 

Wer war Stella Goldschlag? Was für eine Frau war sie? Wie entwickelt sich Stella Goldschlag in Ihrem Film? Welche Wandlung erzählen Sie?

1940, zu Beginn der Geschichte, ist Stella eine junge begabte Frau, die von einer Karriere als Jazz-Sängerin am Broadway träumt. Ein junger Mensch voller Lebenshunger, voller Sehnsucht nach Teilhabe am Leben. Die Stigmatisierung als Jüdin durch die Nazis ist für sie eine tiefe Kränkungserfahrung. Sie fühlt sich ausgegrenzt vom Leben, zur Bürgerin zweiter Klasse degradiert. Anstatt sich in das zunehmend schreckliche Schicksal ihrer Leidensgenossinnen zu fügen, verschafft sich Stella eine neue „arische“ Identität, die ihr innerhalb der NS-Diktatur zum Überleben verhilft, schließlich aber in massenhaftem Verrat mündet.

Stella Goldschlag war eine deutsche Jüdin. Eine „deutsche Staatsbürgerin jüdischen Glaubens“, wie viele Berliner Juden sich selbst bezeichneten. Sie hat sich aber (genau wie ihre Eltern) als Deutsche verstanden und nicht als Jüdin. Sie hat sich nicht mit dem Judentum identifiziert, wurde aber von den Nazis als Jüdin definiert. In diesem Spannungsfeld bewegt sich ihre Geschichte. 

Die Geschichte von Stella ist die Geschichte einer Pervertierung. Wir erzählen die Geschichte einer jungen Frau, die von einem verbrecherischen System zur Handlangerin und in diesem Sinne zur Täterin gemacht wird.

Hatten Sie Zweifel auf dem Weg zum fertigen Film? Gab es Kollegen, Freunde oder Bekannte, die Ihnen von dem Film abgeraten haben?

Ja, die gab es. Meist von Menschen, die den Inhalt unseres Films gar nicht im Detail kannten, sondern vielmehr generell Bedenken hatten, eine ambivalente Geschichte über jüdisches Schicksal im Dritten Reich zu erzählen. Wir haben uns davon nicht beirren lassen, wohl aber hat es bei uns allen die Sinne geschärft, uns der Herausforderung und unserer Verantwortung noch bewusster zu werden. Und uns immer wieder klarzumachen: Es war das NS-System der Deutschen, das Stella in den Verrat zwang. Hier liegt die Ursache des Verbrechens. 

Im Winter 2019 merkten wir nach zweieinhalb Jahren Buchentwicklung, dass wir in eine Sackgasse geraten waren. Wir hatten die Geschichte von Stella aus der Sicht eines fiktiven besten Freundes entwickelt. Aber sie fühlte sich nicht echt an. Wir merkten, dass wir unbewusst dem Ungeheuerlichen, der schrecklichen Nähe dieser Figur zu uns ausgewichen waren. In dem Moment, als wir uns entschlossen, Stella als Haupt- und damit Identifikationsfigur zuzulassen, ihre Geschichte in all ihrer fremd- und selbstverschuldeten Grausamkeit an uns heranzulassen, ihren Verrat also emotional zuzulassen – in diesem Moment wurde dieser Film für uns zu einer außergewöhnlichen Begegnung, zu einer immer wiederkehrenden Konfrontation mit einer hochkontroversen Figur. 

Haben Sie sich vorab mit der jüdischen Gemeinde in Verbindung gesetzt oder haben diese den Film bereits gesehen? 

Meinem Produzenten Michael Lehmann und mir lag es sehr am Herzen, bei diesem Projekt von Anfang an mit der Jüdischen Gemeinde in Deutschland im Austausch zu sein. Nicht nur mit Professor Andreas Nachama, der uns beraten hat. Auch mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland oder mit Rabbinerinnen wie Frau Elisa Klapheck. Sie waren auch die ersten, denen wir den Film gezeigt haben. 

Die Diskussion innerhalb der jüdischen Community war lebendig und divers, gerade was die Bewertung der Person Stella Goldschlags betraf. Während sie manche für eine bloße Verbrecherin hielten, konzedierten andere ihr Dilemma zumindest teilweise. Natürlich gab es auch Bedenken über die Berechtigung eines solchen Films im derzeitigen Kontext in Deutschland. Gleichzeitig wurde eingewendet, es sei besser, einen ambivalenten Film wie unseren zu drehen als einen, der schwarz/weiß malt, oder gar die Zeit in Vergessenheit geraten zu lassen. Kurz: Die Reaktionen waren so, wie wir sie erwartet haben. Denn unsere Geschichte stellt Fragen, die jede und jeder für sich selbst beantworten muss. Das ist für unsere heutige Sehgewohnheit ungewohnt und herausfordernd, aber ich finde es wichtig für diese Geschichte, genau dies zuzulassen … und auch auszuhalten.

Warum finden Sie, dass dieser Film gerade jetzt veröffentlicht werden sollte? Im Hinblick auf die aktuelle politische Situation: Was macht diesen Film aktuell?

Unsere Geschichte erzählt von der Pervertierung eines (zugegebenermaßen ethisch instabilen) jungen Menschen durch das verbrecherische NS-System. Die Gräuel der Nazis in all ihren Facetten dürfen nie vergessen werden. Wenn heute Stimmen laut werden, solche Geschichten endlich ad acta zu legen und damit die Erinnerung an sie, dann finde ich das erschreckend und falsch. 

In welchen Zeiten leben wir? Wir leben in Zeiten, in denen Antisemitismus, Totalitarismus, antidemokratisches Denken, Unmenschlichkeit Raum gewinnt. Autoritäre Systeme erstarken in Osteuropa, nicht nur in Russland, das Anwachsen rechtsradikaler Strömungen in den USA, das in der Stürmung des Kapitols ihren vorläufigen Höhepunkt fand, ist zutiefst beunruhigend. Vor allem aber gilt der Blick unserem eigenen Land: Rechtsradikale, antisemitische, demokratiefeindliche Kräfte sind wieder hoffähig in einer faschistischen Partei, die laut Umfragen 20 % (!) der Stimmen erhalten würde. Kräfte, die gut vernetzt sind. Deutschland ist laut Terrorexperten das zweitgefährdetste Land in Europa hinsichtlich eines Umsturzes. Wir erleben eine massive Attacke auf die Demokratie weltweit und in diesem Land. 

Wir sollten uns dessen sehr bewusst sein. Schneller als wir denken, finden wir uns in der Lage wieder, in der sich Stella Goldschlag befand. Wer nachdenkt, wenn er bereits unter Druck ist, läuft Gefahr, sich moralisch zu vergehen. Es geht darum, sich seines eigenen ethischen Kompasses beizeiten bewusst zu werden, ihn genau zu durchdenken und zu stärken.

Worum geht es in STELLA. EIN LEBEN? Was ist für Sie die Message des Films? Was wollen Sie mit diesem Film bewirken?

Filme haben für mich keine Message, sie sollen eine Erfahrung sein, Fragen stellen. 

Bei diesem Film: Was hätte ich getan? Wie weit dürfen wir gehen, um zu überleben? Dürfen wir um jeden Preis überleben? Bin ich in der Lage, auf meine innere Stimme zu hören, um NEIN zu sagen, wenn es darauf ankommt? Wir begegnen in diesem Film also auch immer uns selbst.

Im Kern geht es um Schuld. Was ist ein Leben, was ist ein Überleben wert, wenn es auf Schuld aufbaut? Es gilt, sich mit diesen Fragen wirklich zu konfrontieren, sie nicht aus der historischen Distanz innerlich abzuheften.

Im Talmud heißt es: „Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Und was ist mit demjenigen, der nur ein einziges Leben verrät? 

Sie fungieren auch hier wieder als Co-Autor des Drehbuchs. Was war für Sie die größte Herausforderung beim Schreiben des Drehbuchs?

Dies ist die Dramatisierung einer realen Geschichte, die größtmöglicher Authentizität bedarf. Natürlich können wir nicht alles erzählen, müssen verdichten. Was können wir auslassen, ohne Stella Goldschlags Geschichte und damit die Beurteilung ihres Charakters zu verfälschen? Wir wollten ein einfaches Urteil in die eine oder andere Richtung vermeiden. Ist Stella Täterin oder Opfer? Wir finden für beide Seiten triftige Argumente. Der Zuschauer soll sich maximal mit ihrer Lage konfrontieren und mit der Frage: Was hätte ich getan? 

Hatten Sie beim Schreiben schon Paula Beer in der Rolle von Stella Goldschlag vor Augen? Wie ist sie zu diesem Projekt dazu gestoßen?

Ein Charakter entwickelt sich beim Schreiben. Und erst wenn ich den Charakter im Kern begriffen habe, kann ich Witterung für eine mögliche Besetzung aufnehmen. Paula war die erste und einzige Idee zu Stella Goldschlag. Sie war für mich alternativlos. Sie ist nicht nur eine außergewöhnliche Schauspielerin, sie verfügt über eine hohe künstlerische Selbstständigkeit, sie taucht über eine akribische Vorbereitung tief in ihre Rolle ein und macht sie sich zu eigen, verteidigt sie im Kern. Und sie besitzt eine Aura, die schwer zu erklären ist, für diese Rolle aber unabdingbar war. 

Paula hat bislang eher in warmen Charakteren brilliert. Mit der Rolle von Stella Goldschlag hat sie sich in meinen Augen noch einmal neu erfunden. Die Ambivalenz dieser Figur, das Betörende, das nur einen Millimeter neben dem Entsetzlichen liegt – diese Ambivalenz zuzulassen, auszuhalten, auszuleben, zum Leben zu erwecken, ist Paulas große Leistung in unserem Film. 

Wie können Sie die Zusammenarbeit mit Paula Beer beschreiben?

Grundlage unserer Zusammenarbeit war das exakte Durchsprechen des Buches. Paula ist, wie ich selbst auch, eine sehr akribische Vorbereiterin. Es ging darum, in jeder Szene den Angelhaken zu finden, um Paula den emotionalen Weg zu Stella zu ermöglichen.

Die Songs im Film hat sie mit einer Gesangslehrerin und unserem Komponisten Peter Hinderthür über Monate hinweg vorbereitet.

In den Proben ging es vor allem darum, Paula und die anderen zu einer Band, zu einem Freundeskreis zusammenzuschweißen, ihnen untereinander Geschichten zu geben, die Beziehungen von jeder zu jedem zu etablieren, so dass wir, wenn der Film beginnt, mitten hinein springen ins Leben der Figuren. 

Wir haben zusammen außerdem am Dialogtempo gefeilt. Mir war wichtig, dass alle Schauspieler:innen schnell sprechen, plappern, sich ins Wort fallen, so wie wir das heute auch machen. Ich wollte nicht den historisierenden Sprachduktus, den wir aus vielen Filme und Serien gerade über die Nazizeit kennen. Die Dialoge sollten sich modern anhören. Warum in der Sprache bedeutungsschwer werden, nur weil die Zeit voller Bedeutung war? Die Menschen hatten dafür noch kein Bewusstsein, sie lebten wie wir in einem (wenn auch weitaus dramatischeren) Alltag. 

Am Drehtag geht es vor allem um Timing. Wo setzt man Pausen, wo redet und läuft man schneller oder langsamer. Paula macht es einem als Regisseur sehr einfach. Vieles, was sie spielt, ist vom ersten Augenblick an Gold. Es gibt eigentlich nie Momente, die sich künstlich oder falsch anfühlen. Das ist in dieser Qualitätsdichte schon enorm und ein großer Schatz.

Ich erinnere mich an die Szene, in der Stella von ihren Eltern am Bahnhof Abschied nehmen muss. Paula sollte sich vom entschwindenden Zug zu uns umdrehen und den Bahnsteig entlang zum Ausgang gehen. Ein wichtiger großer Moment. Stella richtet hier innerlich Wut und Verzweiflung gegen die Welt. Erster Take, Paula dreht sich also um, geht den Bahnsteig entlang und alles, wirklich alles an Emotionen ist da, erlebbar, zum Greifen nah. Nicht wenigen im Team kamen die Tränen.

 

Wie kam es zur Besetzung der weiteren Rollen?

Jede großartige Schauspielerin lebt von ihren Mitspieler:innen. Meiner Casting-Direktorin Nina Haun und mir war klar, dass wir ein hochklassiges Ensemble um Paula versammeln mussten. Jannis hat neben seiner großen schauspielerischen Klasse einen ganz natürlichen Starappeal, den er für den schillernden Charakter von Rolf einsetzen konnte. Katja Riemann zählt seit Jahrzehnten zu den herausragenden schauspielerischen Persönlichkeiten des Landes, ihre Verwandlung in Toni Goldschlag ist völlig überraschend, so bitter, so stolz, wie sie das spielt, und immer in hohem Maße dem Charakter verpflichtet. Lukas Miko verkörpert mit großer Sensibilität Stellas Vater Gerd. Ihm gelingt es, Gerds stures wie fatales Festhalten am vertrauten deutschen Dasein erlebbar zu machen, ohne je die Figur zu verraten. Damian Hardung und Joel Basman zählen zu einer Riege sehr begabter, lebendiger junger Schauspieler, deren Spielfreude für die Authentizität der Jazz-Band entscheidend waren. Ich bin froh und stolz, dass sie alle bereit waren, diesem Film ihr Können zu schenken.

Welche Rolle spielen die einzelnen Departments der Filmproduktion – also Kostümbild, Bildgestaltung, Set-Design, Musik etc – für Sie bei der Umsetzung der Geschichte von Stella Goldschlag?

Stellas Goldschlags Geschichte erzählt von Schuld, aber es ist eine blühende Schuld. Denn Stella geht es um mehr als das Überleben, sie wehrt sich gegen die stigmatisierende Ausgrenzung, sehnt sich immer auch nach Teilhabe am Leben. Die „arische“ Welt ist für sie in unserem Film also fatalerweise eher Sehnsuchtsort, ein place to be, als eine düstere Drohkulisse. 

Um den Zuschauer in Stellas Subjektive zu bringen, haben wir bei den Kostümen beispielsweise auf das Nazi-Braun in den Uniformen verzichtet und uns auf die Varianten in Grau und Blau konzentriert. Der Effekt ist verblüffend. Die nationalsozialistische Welt des Ku’damms erscheint plötzlich viel moderner. 

Auch im Szenenbild gingen wir gegen die Erwartung, suchten nach anziehenden, lichtdurchfluteten, spektakulären Cafés und Wohnungen. Das setzt sich in der Lichtgestaltung fort. Berlin erscheint in toskanischem, warmem Licht.

Bildgestaltung und Schnitt erzählen „unzuverlässig“, versetzen uns ständig in Unruhe. Ein Leben voller Tempo und Adrenalin, mit ständigen Wechseln. Ein Leben, das keine Zeit zur Besinnung lässt. Nichts ist sicher. Jederzeit kann sich das Geschehen unerwartet wenden. Das Sounddesign lässt uns Berlin als moderne, satte Metropole erfahren. Der Score nimmt die Idee der blühenden Schuld in seiner verführerischen, schicksalhaften wie grauenhaften Eleganz auf.

Uns ist es damit gelungen, die historische Distanz zum Geschehen aufzuheben, die Comfort Zone, die es uns erlaubt, über Stella Goldschlag und die Zeit zu urteilen und sie innerlich abzuheften, statt sich ihr wirklich auszusetzen. Als Zuschauer haben wir uns durch die große Zahl von fiktionalen Filmen einen gewissen Erfahrungsraum zugelegt, wie die NS-Zeit wohl gewesen sein mag. Unabhängig von seiner historischen Wahrhaftigkeit ermöglicht uns dieser Raum auch eine verdauliche Rezeption dieser Zeit. Um unseren Film zu einer radikalen, gegenwärtigen Parterre-Erfahrung werden zu lassen, mussten wir diese „gelernten“ Codes aufbrechen, Auslassungen vornehmen. 

Wo lagen Ihrer Meinung nach Herausforderungen bei der Umsetzung der Geschichte? War bei diesem Film etwas anders als bei ihren bisherigen Filmarbeiten? Wenn ja, was? 

Die besondere Herausforderung lag in der Ambivalenz der Hauptfigur. Im Ausbalancieren von Sympathie und Schrecken, den Stella Goldschlag offenbar verbreitete. In der schrecklichen Nähe also, die es auszuhalten galt. Die Geschichte von Stella Goldschlag ist hochkontaminiert. Da das Drehen eines Filmes immer die Verkörperlichung emotionaler und psychischer Prozesse darstellt, nimmt man diese Kontamination in sein eigenes Erleben auf. Das ist äußerst fordernd für alle Beteiligten. 

Welche Szenen waren für Sie am schwierigsten zu realisieren?

Es gab eine Szene im Sammellager, in der die jüdischen Gefangenen im Sammellager Große Hamburger Straße zum Abtransport nach Auschwitz aufgerufen werden. Da verlassen diese armen Menschen mit den O-Pappen (für „Ost“) um den Hals das Strohlager, unter ihnen Familien mit Kindern. Was für ein unglaublich bitteres Schicksal. Das erfährt man ganz gegenständlich und körperlich beim Drehen. In diesen Momenten fand ich es schwer, die Verbindung zum Drehalltag wieder zu finden. 

Sie widmen sich immer wieder zeithistorischen Themen. Warum? Was ist der besondere Reiz, sich mit solchen Themen zu beschäftigen? Was muss ein Thema mitbringen, damit Sie daraus einen Film machen wollen?

In eine andere Welt zu reisen, war für mich einer der Grundimpulse, Filme zu drehen. Zeitgeschichte zu verfilmen ist immer eine Zeitreise. Ich tauche in einen Kosmos ein. Ich sauge während der Recherche jedes Detail auf, um schließlich in dieser Welt zu leben zu beginnen. Diese Erfahrung ist faszinierend und tatsächlich eine große Sehnsucht in mir.

Dann: Es ist tatsächlich so passiert! Schwerverbrecher in einer Fußgängerzone. Ein Spitzenpolitiker tot in einer Badewanne. Eine junge Frau, die über den Ku’damm spaziert und Menschen verrät. Geschichte ist immer Geschichten von Menschen, außergewöhnliche, verstörende, berührende. Wie können Menschen so etwas tun? Das zu decodieren, die Wahrheit unter der jeweiligen Begebenheit herauszuarbeiten, etwas über den Menschen an sich, über seine Condicio zu ergründen, das ist ein großer Antrieb für mich. 

Und: In Zeitgeschichte sind unsere kollektiven Mythen verwoben. Gladbeck und Barschel sind Herzstücke der 80er, erzählen von einem Land, einer Nation, die sich ihrer eigenen Verfassung wenig bis gar nicht bewusst war, das untergründige Grauen in vordergründige Beschaulichkeit zu verpacken versuchte. Die Geschichte von MEINEN HASS BEKOMMT IHR NICHT entfaltet sich inmitten eines nationalen französischen Traumas. In STELLA. EIN LEBEN. ist es die überdimensional große Schuld, die die Geschichte des Dritten Reichs beherrscht. Wurde je mehr Schuld angehäuft als in diesen 12 Jahren?

Gibt es schon ein nächstes Projekt, an dem Sie arbeiten? Können Sie hierzu schon mehr erzählen?

Wir entwickeln drei neue Projekte und Überraschung: Keines davon ist zeitgeschichtlich!

 
Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung

Stella Goldschlag       Paula Beer
Rolf Isaakson             Jannis Niewöhner
Toni Goldschlag         Katja Riemann
Gerd Goldschlag        Lukas Miko 
Peter                          Joel Basman
Manfred Kübler          Damian Hartung
Aaron Salomon          Bekim Latifi
Dobberke                   Gerdy Zint


Stab

Regie               Kilian Riedhof
Drehbuch        Marc Blöbaum, Jan Braren & Kilian Riedhof

Abdruck aus dem Presseheft