Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Februar 2024, Teil 2
Redaktion
London (Weltexpresso) - Ein erschreckender Euphemismus, ersonnen in mörderischer Absicht: „Interessengebiet“ ist die von der nationalsozialistischen SS benutzte Bezeichnung für ein 40 Quadratkilometer großes Areal im unmittelbaren Umkreis des Konzentrationslagers am Rande der polnischen Ortschaft Oświęcim (deutsch: Auschwitz). Der Ausdruck „Interessengebiet“ mag zwar weniger berüchtigt sein als der Begriff „Endlösung“, aber er zeugt von demselben präzisen und beängstigenden Sinn für Verschleierung. Der im Mai 2023 verstorbene britische Schriftsteller Martin Amis verwendete die englische Übersetzung dieses Ausdrucks im Jahr 2014 als Titel für einen grimmigen Schelmenroman, der im Lager und um das Lager herum angesiedelt ist. In seiner über Jahre hinweg entwickelten und bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Kinoadaption kartografiert Drehbuchautor und Regisseur Jonathan Glazer das geografische und
psychische Terrain der Zone und ihrer Bewohner mit eisiger Präzision.
„Es ging darum, eine Arena zu erschaffen“, sagt Glazer über seinen vierten Spielfilm. Integrale Bestandteile seines aufwändigen und intensiven Produktionsprozesses waren die Dreharbeiten vor Ort in Polen, der originalgetreue Nachbau der Lagerkommandanten-Villa sowie der Einsatz eines ganzen Netzwerks von Überwachungskameras, um mehrere Sequenzen erfassen zu können, die gleichzeitig
in verschiedenen Räumen desselben Gebäudes stattfanden. „Das Schlagwort, das ich zur Veranschaulichung immer wieder herangezogen habe, war ,Big Brother in der Nazi-Villa‘“, erzählt der 58-jährige Filmemacher. „Das kam natürlich nicht infrage, aber ich wollte vor allem das Gefühl vermitteln: ,Lasst uns Leute in ihrem Alltagsleben beobachten!‘ Mein Ziel war es, den Kontrast einzufangen zwischen jemandem, der sich in seiner Küche eine Tasse Kaffee einschenkt, und jemandem, der auf der anderen Seite der Mauer ermordet wird – die Koexistenz dieser beiden Extreme.“
Das Überschreiten der Schwelle
Der höchst unorthodoxe Stil, in dem THE ZONE OF INTEREST gedreht wurde, war eine Folge des Respekts des Regisseurs vor der Arbeit an einem so brisanten Thema. „Ich wollte nicht das Gefühl haben, einen Historienfilm über eine längst vergangene Zeit zu machen, der dann in ein Museum gesteckt wird“, sagt Glazer. „Es geht hier um einen der wohl schlimmsten Zeitabschnitte der Menschheitsgeschichte, aber wir können nicht sagen: ,Das war vor 80 Jahren, das geht uns nichts an, wir sind auf der sicheren Seite, lasst uns das beiseiteschieben!‘ Es wäre falsch, zu glauben, dass uns
dieses Thema nicht mehr betrifft. Das tut es eindeutig, und – so beunruhigend das auch sein mag – es wird uns vielleicht immer betreffen. Deshalb wollte ich es aus einem modernen Blickwinkel betrachten.“
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©Verleih
Info:
Stab
Regie & Drehbuch Jonathan Glazer
Romanvorlage Martin Amis
Besetzung
Rudolf Höß Christian Friedel
Hedwig Höß. Sandra Hüller
Klaus Höß Johann Karthaus
Hans-Jürgen Höß Luis Noah Witte
Ingebrigitt Höß. Nele Ahrensmeier
Heidetraut Höß Lilli Falk
Annegret Höß Anastazja Drobniak
Dieser Blick – fokussiert und unbarmherzig – ist die Frucht eines fast zehn Jahre währenden Reifungsprozesses in den Köpfen von Glazer und seines Produzenten James Wilson, der zuvor schon mit ihm an UNDER THE SKIN – TÖDLICHE VERFÜHRUNG gearbeitet hatte. „Ich drehe nicht sehr viele Filme“, sagt Glazer. „Wenn ich mich einmal für ein Projekt entschieden habe, neige ich dazu, mich ausschließlich
diesem zu widmen, bis es abgeschlossen ist. Für mich gibt es nie irgendwelche Überschneidungen. Als ich meinen letzten Film fertiggestellt hatte, kam dieses Thema zur Sprache. Ich nehme an, dass ich mich ohnehin irgendwann in meinem Leben damit auseinandergesetzt hätte. Aber ich hatte noch nie über die Herangehensweise nachgedacht, bis ich den Roman von Martin Amis gelesen hatte – besser gesagt, eine Vorankündigung des Buches. Die Beschreibung der im Roman eingenommenen Perspektive sprach mich an, und ich rief Jim [Wilson] an und ermutigte ihn, das Buch zu lesen, was ich selbst dann ebenfalls tat.“
„Die filmische Adaption war ein langer Weg“, sagt Wilson. „Und ähnlich wie bei UNDER THE SKIN – TÖDLICHE VERFÜHRUNG lag der Schwerpunkt auf der Erzählperspektive.“ Die Schwierigkeit bestand darin, herauszufinden, wie man Amis' komplexe, um ein Trio von Protagonisten kreisende Geschichte entschlacken und eine Filmsprache entwickeln kann, die den erörterten beängstigenden Themen gerecht wird – insbesondere der unangenehmen Mischung aus Schuld, Komplizenschaft und Verleugnung, die von den auf der deutschen Seite der furchterregenden Trennmauern von Auschwitz stationierten Tätern empfunden wurde, sowohl von den Militärs als auch von der Zivilbevölkerung. „Wozu uns das Buch tatsächlich inspiriert hat, war die Fokussierung auf die Täterperspektive“, sagt Wilson. „Wir fanden es wichtig, dass der Film nicht auf Mystifizierung oder Dämonisierung abzielt, sondern auf Identifikation. Das öffnet die Tür zu interessanten, unbequemen Fragen.“
Jenseits der Mauer
Zu Beginn von THE ZONE OF INTEREST empfängt Hedwig Höß (Sandra Hüller) ihre Mutter zu ihrem ersten Besuch in der gepflegten, zweistöckigen, mit Stuck verzierten Villa, die Hedwig mit ihrem Mann Rudolf und ihren Kindern bewohnt. Auf die Frage ihrer Mutter, ob die Dienstmädchen im Haus Juden seien, deutet Hedwig auf die mit Efeu bewachsene Mauer, die ihren blühenden Garten von einem benachbarten gigantischen Gebäudekomplex trennt. „Die Juden sind auf der anderen Seite der Mauer“, sagt sie fröhlich. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dieses gruselige Gefühl der Abschottung bot Glazer einen präzisen Ansatzpunkt für seine Bearbeitung. Im Roman hatte Amis die Bösewicht-Figur des Paul Doll – ein KZ-Kommandant, der in einer fiktiven Version von Auschwitz stationiert ist – nach dem Vorbild von Rudolf Höß gestaltet. Der SS-Obersturmbannführer, jahrelang Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, gilt als einer der Architekten der Massenvernichtung und als Pionier des systematischen Einsatzes von Zyklon B. Glazer beschloss, biografische Fakten in sein Drehbuch zu integrieren: „Ich begann, alles über Rudolf Höß und seine Frau zu lesen – speziell darüber, wie sie in Auschwitz gelebt hatten, sozusagen in einer Ecke des KZ-Grundstücks“, sagt er. „In gewisser Weise ging es für mich tatsächlich um die Mauer: um den Horror, der darin besteht, dass das Ehepaar Höß in unmittelbarer Nähe des grässlichen Geschehens residierte und dazu fähig war, verschiedene Lebensbereiche strikt voneinander zu trennen.“
Die Abschottung ist in THE ZONE OF INTEREST allgegenwärtig. In einer Szene kurz nach Filmbeginn, in der Rudolf sich an seinem Geburtstag von seiner Familie feiern lässt, bevor er seinen Dienst im Lager antritt, wird er mit einer Augenbinde die Treppe hinuntergeführt – eine geradezu pervers verspielte Umkehrung seiner täglichen Arbeit. Später, als der Patriarch systematisch die zahlreichen Türen seines Domizils schließt und verriegelt, bevor er ins Bett geht (ein Vorgang, der akribisch mit schnellen, messerscharfen Schnitten dargestellt wird), mischen sich behagliche Häuslichkeit und grundlose Paranoia. „Es ist wie ein kleiner Film im Film“, sagt Glazer. „Man fängt an, darüber nachzudenken, was ihm wichtig ist, wer uns wichtig ist – und wer nicht.“ Im weiteren Verlauf von THE ZONE OF INTEREST tauchen immer mehr subtile, fast rein atmosphärische visuelle und akustische Anzeichen für einen permanenten, mechanisierten Völkermord auf, der sich offenbar jenseits der Mauer abspielt: Die
verschwenderisch ausgestattete Residenz der Familie Höß stellt eine idyllische Arier-Fantasie der albtraumhaften Realität gegenüber, auf der sie (im wahrsten Sinne des Wortes) errichtet wurde. In diesem Fake-Eden ist das signifikante Fehlen eines gut gelebten Lebens ein Moloch, der ununterbrochen Todeswolken ausstößt, was der Schriftsteller Elie Wiesel einst mit den Worten „Rauchfahnen unter einem stillen blauen Himmel“ beschrieb.
„Es gab eine brillante Philosophin namens Gillian Rose, die über Auschwitz geschrieben hat“, sagt Glazer. „Sie stellte die Überlegung an, dass ein Film uns zutiefst verunsichern könnte, indem er zeigt, dass wir der Täterkultur emotional und politisch näherstehen, als wir glauben wollen. Ein Film, der uns, wie sie es formulierte, mit den ,trockenen Augen einer tiefen Trauer‘ zurücklassen könnte. Und das möchte ich auch mit diesem Film erreichen: trockene Augen – im Gegensatz zu sentimentalen Tränen.“
„Roses Texte waren fundamental“, fügt Wilson hinzu, „zusammen mit den Arbeiten des Architekturhistorikers Robert Jan van Pelt, der sie inspirierte. Er fand heraus, dass es ursprünglich geplant war, Auschwitz zu einer Modellstadt im Osten auszubauen, in der sich deutsche Unternehmen und Siedler mit Pioniergeist niederlassen sollten. Der Massenmord war demnach ,Teil eines größeren Plans, der den Hunger nach Land, Arbeit und Kapital repräsentiert‘. Gillian Rose sagte, das sei ,etwas, das wir alle nachvollziehen können und an dem sich jeder von uns möglicherweise auch beteiligen würde‘. Es bringe sozusagen ,eine Stimme der Erklärung in das Schweigen und den Horror‘. Das Wort ,jeder‘ liefert hierbei den Schlüssel zum Verständnis.“
Angesichts der Tatsache, dass Glazers Filme nicht zuletzt für ihre krassen, schockierenden Bilder berühmt sind, könnte man annehmen, seine Version von THE ZONE OF INTEREST wäre unerträglich bedrückend. Das ist sie tatsächlich – aber nicht auf die Art und Weise, die man vermutlich erwarten würde. Die filmische Darstellung historischer Gräueltaten ist ein kompliziertes Unterfangen, mit dem sich
Regisseure von Resnais über Spielberg bis hin zu Tarantino befasst haben. Glazer hat sich dabei für eine gewagte Form der Umkehrung entschieden: Die Schrecken im Film bleiben ephemer, ohne dass dadurch deren Härte verharmlost oder deren verstörende Wirkung abgeschwächt würde. „Ich habe über Horrordarstellungen und diverse Filmgenres nachgedacht – und über all die furchtbaren Dinge, die aus diesem Film werden könnten, wenn ich mich aus meinem Engagement zurückziehen würde“, erklärt Glazer. „Damit wollte ich nichts zu tun haben. Ein Film wie Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM wäre ein gutes Beispiel hierfür: Einen solchen Film könnte ich nicht machen. Ich habe keinen Appetit darauf, so einen Film zu drehen. Also sind wir auf der einen Seite der Mauer geblieben.“