Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Februar 2024, Teil 3
Redaktion
London (Weltexpresso) - Nachdem Glazer beschlossen hatte, THE ZONE OF INTEREST zu seinem neuen Projekt zu machen, vertiefte er sich in so viel Archivmaterial wie möglich: Drei Jahre lang durchforstete der Filmemacher mit seinem Team verschiedene Quellen im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. „Der Auftrag lautete, sämtliche ,schwarzen Bücher‘ mit ihren Tausenden und Abertausenden von Zeugenaussagen von Opfern und Überlebenden zu sichten“, erläutert Glazer. „Ich habe nach allem gesucht, was mit Rudolf Höß, seiner Frau oder seinen Kindern zu tun hatte.“
Von elementarer Bedeutung waren Fotos vom Anwesen der Familie Höß – darunter eine Aufnahme, auf der Hedwig zusammen mit ihren Kindern neben einer hölzernen Rutsche steht: Material von unschätzbarem Wert für den Szenenbildner Chris Oddy, dem die Aufgabe zukam, die Villa und den weitläufigen Garten nachzubauen. „Als es darum ging, die Finanzierung auf die Beine zu stellen“, erinnert sich Wilson, „haben wir unseren Partnern einfach dieses Bild gezeigt und gesagt: ,Das ist der Film!‘“
Ein weiterer entscheidender Fund war eine Zeugenaussage des ehemaligen Gärtners der Familie Höß, der sich daran erinnerte, miterlebt zu haben, wie Hedwig ihren Mann wegen dessen bevorstehender Versetzung zur Rede stellte. Sie war wütend darüber, dass sie das schöne Zuhause verlassen sollte, das sie aufgebaut hatte; offenbar warf sie ihm an den Kopf, dass man sie hinaustragen müsse, weil sie nicht dazu bereit sei, den Ort freiwillig zu verlassen. „Da wurde mir klar, wo ich mit meiner Geschichte beginnen wollte“, sagt Glazer. „Zum Zeitpunkt der drohenden Versetzung – als diese Frau Gefahr läuft, alles zu verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hat.“
Im Grunde genommen sei THE ZONE OF INTEREST ein klassisches Familiendrama, betont Glazer: „Es geht um einen Mann und seine Frau, die glücklich verheiratet sind und mit ihren fünf Kindern in einem schönen Haus leben, umgeben von Natur. Eines Tages erhält der Vater die Nachricht, dass seine Firma ihn in eine andere Stadt versetzen will; das führt zu einem Riss in der Ehe, doch die beiden geben nicht auf und geben ihr Bestes, bis es tatsächlich zu einem Happy End kommt: Der Mann kehrt zurück und setzt seine Arbeit fort, an der Seite seiner Familie. Und er ist der Kommandant eines NS-Vernichtungslagers. So beschleicht uns langsam die Ahnung, dass in der unmittelbaren Umgebung ein Völkermord begangen wird – und dass diese Geschichte tatsächlich in gewisser Weise von uns selbst handelt. Ich glaube, was uns am meisten Angst einflößt, ist die Vorstellung, dass wir ebenso gut die Protagonisten sein könnten. Sie waren menschliche Wesen wie wir.“
Rollenspiele
Die Entscheidung, THE ZONE OF INTEREST an Originalschauplätzen zu drehen, war nicht nur mit logistischen, sondern auch mit psychologischen Komplikationen verbunden. „Wir befanden uns auf dem Boden von Auschwitz“, sagt Glazer. „Unsere Hauptdarsteller kamen aus Deutschland hierher, um Menschen zu porträtieren, die ihre Großeltern hätten sein können.“ Für Christian Friedel und Sandra Hüller, zwei der renommiertesten Schauspieler ihrer Generation, stellte sich die schwierige Frage, wie sie die Menschlichkeit von Rudolf und Hedwig Höß verkörpern sollten – beziehungsweise das Fehlen derselben.
„Eigentlich hatte ich fest vor, niemals in meinem Leben eine Nazi-Rolle anzunehmen“, sagt Hüller. „Es hat mich einige Überwindung gekostet, dies nun doch zu tun. Wenn Leute versuchen, die NS-Epoche nachzustellen, dann wird meistens auch eine Form von Glamour wiederbelebt, den ich ekelhaft finde. Man evoziert ein bestimmtes Gefühl, ein Gefühl der Macht, und darum wollte ich das nicht machen.“ Sie erinnert sich, dass sie am selben Tag, an dem sie sich mit Glazer treffen sollte, um ihre Rolle zu besprechen, einen Audioguide für das Jüdische Museum in Berlin aufnahm. „Das hat mich schier in den Wahnsinn getrieben“. „Wegen COVID musste das Projekt verschoben werden, und es dauerte ein paar Monate, bis ich mich dazu entschloss, den Film zu machen. Es war ein langer Prozess, in dessen Verlauf zahlreiche Fragen auftauchten – und auch zahlreiche Zweifel.“
„Als ich Rudolf gespielt habe, hatte ich eine Menge Bilder im Kopf“, sagt Friedel, der ebenfalls erst nach einer längeren Bedenkzeit seine Mitwirkung an Glazers Projekt zusagte. „Denn Rudolf hat eigentlich enorme Einblicke: Er sieht jeden Tag den Tod, und er sieht seine eigene Schuld. Aber wir Menschen sind Meister des Selbstbetrugs. Also versucht er, sich einzureden, dass das, was er tut, einem höheren Zweck dient. Er tut es für seine Familie – oder für ein System, an das er glaubt.“ Friedel erzählt, dass Glazer ihm einen Schlüssel zur Darstellung seiner Filmfigur gab, indem er über Rudolfs Augen sprach: „Eine meiner Kernaufgaben war es, vor der Kamera mit leeren Augen zu agieren. Jonathan sagte mir, dass die Augen nicht lügen können, sogar dann, wenn man seinem Kind ein Lied vorsingt oder ,Ich liebe dich‘ sagt.“
Für Sandra Hüller war Kälte ein wichtiges Puzzlestück für die Gestaltung ihrer Rolle: Eine Figur verkörpern zu müssen, die an Gräueltaten beteiligt ist, mache es ihr unmöglich, auf die Art von Emotionen zurückzugreifen, die sie normalerweise für ihre Arbeit nutzen würde, erklärt die Schauspielerin. „Mir wurde bewusst, dass jemand wie Hedwig niemals ein glücklicher Mensch sein kann. Sie hat einen wundervollen Garten, aber sie kann dessen Schönheit nicht wirklich spüren – weder die blühenden Blumen noch die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. In ihr herrscht völlige Leere. Und so beschloss ich, mich ihr zu nähern: dass sie nie irgendwelche persönlichen Gefühle von mir bekommen würde.“
„Sandra kam zu mir, bevor wir die Szene am Flussufer drehten, in der das Ehepaar Höß über die gemeinsame Zukunft spricht“, erzählt Glazer. „Sie fragte mich, ob Hedwig in diesem Moment bewegt ist. Ich antwortete: Ja, selbstverständlich, sie ist ja ein menschliches Wesen. Die Frage ist nicht, ob sie bewegt ist, sondern wovon sie bewegt ist. Wenn du also in dieser Szene weinen willst, dann weine ausschließlich um dich selbst!“
Die Grenzen der Kontrolle
Abgesehen von den mit ihren Rollen verknüpften Herausforderungen sahen sich die Schauspieler in THE ZONE OF INTEREST mit der Komplexität von Glazers Regiemethode konfrontiert: Sie verlangte von ihnen, in langen, ununterbrochenen Aufnahmen vor fest installierten und teilweise versteckten Kameras zu agieren. Während der Dreharbeiten befanden sich Glazer und sein Kameramann Łukasz Żal
meistens in einem separaten Betonbunker – zusammen mit einem Team von Kameraassistenten, die mittels eines Systems aus ferngesteuerten Kabeln die Schärfe zogen. All das führte zu einer auf einzigartige Weise entkörperlichten Form der Inszenierung.
„Die Regiearbeit an diesem Film war eine seltsame Aufgabe, denn ich musste einerseits äußerst genau und diszipliniert festlegen, was die Kamera einfangen sollte, und zugleich innerhalb des jeweiligen Rahmens Raum für völlige Improvisation lassen“, sagt Glazer. „Für manche Szenen gab es ein detailliert ausgearbeitetes Drehbuch, andere hingegen waren komplett improvisiert. In beiden Fällen konnten wir zwar jederzeit einen weiteren Take drehen, aber ich konnte nicht einfach hingehen und einen Stuhl verschieben. Also verzichtet man auf die Continuity-Abteilung. Man verzichtet auf künstliche Beleuchtung. Im Prinzip lässt man all die langweiligen Aspekte des Filmemachens weg, weil man weiß, dass man nicht am Set auftauchen und Dinge verändern kann, wie man es normalerweise tun würde. In gewisser Weise musste ich mich vom Mikromanagement verabschieden.“
„Mir hat diese Art zu drehen gut gefallen, weil es mich sehr an die Arbeitsweise am Theater erinnert hat“, stellt Friedel fest. „Ich konnte Jonathan im Haus spüren. Für ihn war es eine Möglichkeit, bestimmte Dinge beeinflussen zu können, andere hingegen nicht. Wir Akteure mussten letzten Endes vergessen, dass wir gefilmt wurden, und wenn uns das gelang, konnten wir etwas Unerwartetes entdecken. Ich denke, der ganze Film war eine Erkundung.“
„Es war nicht nur eine ästhetische Entscheidung, sondern auch eine psychologische“, fügt Hüller an. „Wir hatten keinerlei Kontrolle. Wir wussten nicht, was sie in ihrem Bunker sehen konnten, doch natürlich konnten sie alles sehen: Wenn wir gelangweilt oder wütend oder verwirrt waren oder eine Pause machten, sahen und hörten sie stets zu. Es war wie eine totale Überwachung – und damit das funktionieren kann, ist eine Menge Vertrauen nötig.“
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Regie & Drehbuch Jonathan Glazer
Romanvorlage Martin Amis
Besetzung
Rudolf Höß Christian Friedel
Hedwig Höß. Sandra Hüller
Klaus Höß Johann Karthaus
Hans-Jürgen Höß Luis Noah Witte
Ingebrigitt Höß. Nele Ahrensmeier
Heidetraut Höß Lilli Falk
Annegret Höß Anastazja Drobniak