One Life1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. März 2024, Teil 5

Margarete Ohly-Wüst

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – 1988 wird der 79jährige Nicholas ″Nicky″ Winton
(Anthony Hopkins) von seiner Frau Grete (Lena Olin) gebeten, sein Arbeitszimmer doch mal etwas aufzuräumen. Dabei findet er in einer Schublade seines Schreibtischs eine alte Ledermappe. Darin befinden sich alte Unterlagen, die er aber erst einmal nicht entsorgen will.



Allerdings erinnert er sich an das Jahr 1938 als er als junger Londoner Börsenmakler (jetzt Johnny Flynn) einen Anruf aus Prag bekommen hat. Eigentlich wollte er zum Jahresende 1938 zum Skifahren in die Schweiz fahren, als ihm sein Freund Martin Blake (Ziggy Heath) vorschlug, er solle stattdessen nach Prag kommen. Blake selbst arbeitet mit, Erwachsene aus Prag ins Ausland zu bekommen. Er bittet ihn dabei zu helfen, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland außer Landes zu bringen, denn niemand glaubt daran, dass Deutschland nach dem Sudetenland nicht bald auch in die restliche Tschechoslowakei einmarschieren wird.

Nicky Wintons Familie stammt eigentlich aus Deutschland und hieß früher Wertheim, dadurch hat er jüdische Vorfahren, ist selbst aber anglikanisch getauft, außerdem hat er bereits in Wien gearbeitet. In Prag trifft er sich mit Doreen Warriner (Romola Garai), der Leiterin des Prager Büros des Britischen Komitees für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei (BCRC). Sie zeigt ihm die Zustände in den Flüchtlingslagern und bittet ihn etwas zu unternehmen. Er ist von den Zuständen in den Flüchtlingslagern entsetzt und beschließt, sich selbst für die Rettung zumindest der jüdischen Kinder einzusetzen.

Die Mitarbeiter des Büros bestechen die Gestapo und Eisenbahner in Prag und fälschten auch die Einreisepapiere. Winton selbst fotografiert viele der teilweise allein lebenden Kinder und fährt nach London zurück, wo er sich zusammen mit seiner Mutter Babette Winton (Helena Bonham Carter) dafür einsetzt, dass Großbritannien möglichst viele der jüdischen Kinder aufnimmt.

Beide versuchen den starren Apparat zu überwinden, damit Winton Visa bekommen kann, außerdem sammeln sie Spenden, da für jedes Kind 50 Pfund hinterlegt werden muss (um auch die Rückfahrt bezahlen zu können) und außerdem müssen auch Pflegefamilien für die nach England zu holenden Kinder vorgewiesen werden.

One Life2Während Babette Winton weiterhin in London mit der Bürokratie kämpft, fährt Nicky nach Prag zurück und fotografiert Kinder für die englischen Visa. Es ist ein großartiger Tag als die ersten Kinder mit einem Sonderzug in London ankommen. Doch es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, da unklar ist, wann Deutschland in die restliche Tschechoslowakei einmarschieren wird und wie lange die Grenzen danach noch
offen sind.

Letztendlich konnten von März bis August 1939 mehrere Züge mit etwas über 650 Kindern Prag Richtung England verlassen. Ein letzter Zug mit 250 Kindern wurde im September von der Gestapo gestoppt, die Kinder wurden in Gewahrsam genommen. Weder von den Familien der Geretteten noch von den Kindern des letzten Zuges sind Überlebende bekannt.

Beim Aufräumen 50 Jahre später kann Nicholas Winton sich nicht dazu durchringen, seine alten Unterlagen in der Mappe, die er vor 50 Jahren von Trevor Chadwick (Alex Sharp) einem anderen Mitarbeiter des Prager Büros, geschenkt bekommen
und in der er seine Arbeit für das BCRC festgehalten hat, mit Fotos und Listen der Kinder, zusammen mit seinen übrigen Papieren wegzuwerfen. Denn Nicholas macht sich auch 50 Jahre später immer noch Vorwürfe, weil er nicht mehr Menschen retten konnte.

Nachdem das örtliche Museum und auch die lokale Zeitung kein Interesse an den Unterlagen gezeigt hat, überlegt Winton bei einem Mittagessen zusammen mit seinem alten Freund Martin Blake (jetzt: Jonathan Pryce), was er mit den ganzen Unterlagen anfangen soll. Er möchte sie evtl. einem Holocaust-Museum überlassen, möchte aber gleichzeitig aber auch ein wenig Aufmerksamkeit auf die aktuelle Notlage von Flüchtlingen lenken.

Martin Blake hat eine andere Idee, und so landet die Mappe in den Händen des Produktionsteams der von der BBC produzierten TV-Show
That's Life! mit Moderatorin Esther Rantzen (Samantha Spiro), eine Sendung, die Winton allerdings noch nie gesehen hat. Nicholas Winton wird in die Sendung eingeladen und gebeten sich in die erste Reihe ins Publikum zu setzen. Dort wird er überrascht, denn neben ihm sitzen Erwachsene, an deren Rettung er 1938 beteiligt war…


Sir Nicholas George Winton MBE (19.05.1909 – 01.07.2015) war ein britischer Bankier, der zusammen mit anderen versucht hat, kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs möglichst viele meist jüdische Kinder aus Prag nach England zu bringen. Andere Mitarbeiter, die auch im Film genannt werden, waren der Lehrer Trevor Chadwick (22.04.1907 – 23.12.1979) und die Entwicklungsökonomin Doreen Warriner OBE (16.03.1904 – 17.12.1972). Warriner hat etwa 15000 Menschen geholfen, aus der Tschechoslowakei zu fliehen. Beide waren aber 1988 als die Aktionen näher bekannt wurden, schon gestorben.

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Insgesamt wurden durch die auch im Englischen unter dem Namen ″Kindertransport″ bekannten Aktionen über 10000 Kinder und Jugendliche aus der Tschechoslowakei heraus gebracht. Winton konnte durch seinen Einsatz genau 669 meist jüdische Kinder nach Großbritannien bringen.

Der Film ″One Life″, der die Rettung der Kinder 1938 und das Bekanntwerden 1988 behandelt, beruht auf
dem Sachbuch If it’s Not Impossible…: The Life of Sir Nicholas Winton (2014) von Barbara Winton, der Tochter Nicky Wintons. Das Drehbuch stammt von Lucinda Coxon und Nick Drake, die die Story in zwei wichtige Perioden in Wintons Leben teilten. Regie führte James Hawes. Der Film wurde ab September 2022 in London und danach in Prag gedreht. Barbara Winton starb leider im September 2022, bevor der Film in die Kinos kam, allerdings arbeitete sie bis zu ihrem Tod an der Produktion des Films mit. Sie bat auch darum, dass Anthony Hopkins ihren Vater spielen sollte.

Beide Hauptdarsteller spielen die verschiedenen Ebenen von Wintons Erwachsenenleben hervorragend. Johnny Flynns zeigt eine tolle Leistung als junger etwas naiver aber zupackender Menschenfreund, der voller Entschlossenheit einfach nur versucht, das Richtige zu tun. Anthony Hopkins Rolle erfordert dagegen eine schwer fassbare Körperlichkeit und Abgeklärtheit des Alters, aber auch eine große Traurigkeit. Diese Gefühle werden vor allen durch die Nahaufnahmen des Gesichts dargestellt. Aber gleichzeitig zeigt Hopkins auch den Stolz, den die späte Anerkennung von seinen Leistungen in ihm auslöst.

Außer mit Anthony Hopkins als Nicholas Winton und Johnny Flynn als der junge Nicky Winton ist der Film auch mit Helena Bonham Carter als Babette Winton, Romola Garai als Doreen Warriner, Alex Sharp als Trevor Chadwick und Jonathan Pryce als der ältere Martin Blake, sowie in kleineren Rollen der Schwedin Lena Olin als Wintons dänische Ehefrau Grete, der Schweizerin Marthe Keller als Betty Maxwell und dem bulgarisch-deutschen Schauspieler Samuel Finzi als Rabbi Hertz, dem Oberrabbiner von Großbritannien, hervorragend besetzt.

Daneben spielten einige der Nachfahren der damals geretteten Kinder als Komparsen in den Szenen während der TV-Show
That's Life! mit. Es wird vermutet, dass es heute mehr als 5000 Nachfahren der geretteten 669 Kinder gibt.

Regisseur James Hawes betritt mit dem Film kein Neuland, aber das Drama ist auf jeden Fall handwerklich gut und fesselnd gemacht. Es wird deutlich, wie schwierig es war, auch in England die Bürokratie zu überzeugen, dass den Flüchtlingen in Prag geholfen werden muss. Hier zeigt der Regisseur, dass es vor allem die von Helena Bonham Carter gespielte Babette Winton war, die in London unermüdlich und mit viel Überredungskunst dafür gesorgt hat, dass die Prager Gruppe Einreisevisa für die Kinder bekam, die dann mit Zügen über Polen und dem Baltikum und dann mit Schiffen nach England und dann mit dem Zug zum Liverpool Station gebracht wurden.

One Life4Der Titel des Films ″One Life″ bezieht sich übrigens auf einen bekannten Spruch aus dem Talmud:
Whoever saves a single life is considered by scripture to have saved the whole world. (Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt).

Insgesamt hat ″One Life″ ein brillant geschriebenes Drehbuch, das von Regisseur James Hawes mit Wärme und Unaufgeregtheit inszeniert wurde. Das macht den Film im Kino unbedingt sehenswert.


Zusatz: Bei der Werbung für ″One Life″ kam es in Großbritannien zu Kontroversen, weil nicht erwähnt wurde, dass die Mehrheit der geretteten Kinder Juden waren. Stattdessen wurden die Kinder einfach als ″Mitteleuropäer″ bezeichnet. Nach Gegenreaktionen in den sozialen Medien wurde es in ″überwiegend jüdisch″ geändert. Dabei ist es wichtig, dass so ein Film gerade jetzt in die Kinos kommt, denn es zeigt, dass auch Taten, die eigentlich nur wenigen – im Vergleich zu den vielen Toten – geholfen haben, etwas bewirken können. Das ist gerade jetzt wieder eine ganz wichtige Aussage, denn laut der United Nations Refugee Agency gibt es 2023 über 117 Millionen umgesiedelte oder staatenlose Menschen. Deshalb hoffen die Macher dieses Filmes, dass er die Zuschauer dazu bewegt zu helfen.

Foto 1: Der junge Nicky Winton (Johnny Flynn) fotografiert im Camp und verschafft den Kindern Papiere © SquareOne Entertainment
Foto 2: Nicholas Winton (Anthony Hopkins) mit seinem Freund Martin Blake (Jonathan Pryce), auf dessen Bitte hin ging Winton damals nach Prag © SquareOne Entertainment
Foto 3: Helfen den Kindern trotz Gefahr für das eigene Leben, Doreen Warriner (Romola Garai) und Trevor Chadwick (Alex Sharp) © SquareOne Entertainment
Foto 4: Babette Winton (Helena Bonham Carter) und ihr Sohn Nicky Winton (Johnny Flynn) lassen nicht locker bis sie Aufenthaltsgenehmigungen für die Kinder bekommen © SquareOne Entertainment

Info:
One Life (Großbritannien 2023)
Originaltitel: One Life
Genre: Drama, Biopic, Historie, Kindertransporte
Filmlänge: ca. 110 Min.
Regie: James Hawes
Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake nach dem Sachbuch von Barbara Winton:
If it’s Not Impossible…: The Life of Sir Nicholas Winton (2014)
Darsteller: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Adrian Rawlins, Romola Garai, Lena Olin, Jonathan Pryce, Ziggy Heath, Alex Sharp, Marthe Keller, Samantha Spiro, Samuel Finzi, Juliana Moska, Henrietta Garden, Frantiska Polakova u.a.
Verleih: SquareOne Entertainment
Vertrieb: Paramount
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 28.03.2024