Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main Weltexpresso) – Spannend, wie man während des Films seine Einschätzung zum Geschehen ändert. Und dann noch einmal. Und das nicht in Kleinigkeiten, sondern grundlegend in der Wahrnehmung der Personen. Das beginnt mit der Mutter, aus deren Perspektive wir die Handlung begleiten. Sie erkennt an ihrem Jungen durch seine Aussagen und Ängste, daß da in der Schule etwas war, er wird gemobbt und vom Lehrer sogar mißhandelt.
Sie, das ist SAKURA ANDO (SAORI MUGINO, bekannt aus SHOPLIFTERS, ebenfalls von Kore-eda)), die junge Witwe. Sehr viel später erfahren wir, daß ihr Mann mit seiner Geliebten einen tödlichen Unfall hatte. Der Sohn Minato entgleitet ihr, ist ihr Eindruck. Den Grund sieht sie im Verhalten des Lehrers Hori (Eita Nagayama ), wobei sie nicht genau weiß, was vorgefallen ist, weshalb sie in die Schule fährt und erst mit der Schulleiterin, dann mit einem Teil des Lehrerkollegiums sprechen und Auskunft haben will. Dabei ist ‚Sprechen‘ nicht der richtige Ausdruck, denn auf ihre Fragen und Vorhalten bekommt sie tiefes Verbeugen und wiederholt gemurmelte Entschuldigungen. Bizarr und auch mit den bekannten japanischen Höflichkeitszeremonien nicht im Einklang. Wir sind durch viele kleine Vorkommnisse völlig auf Seiten der Mutter, die ihrem Kind helfen will.
Das Kind macht derweil und heimlich etwas ganz anderes. Der Junge hat sich in der Nähe seines Zuhauses, wo eine grüne Hölle herrscht, eine eigene Welt geschaffen. Erst ist er alleine, aber bald unternimmt er mit dem Mitschüler Yori Expeditionen im Grünen. Yori ist der Junge in der Klasse, an dem die Bessergestellten all ihren Unmut auslassen, er ist nicht nur Außenseiter, sondern wird verhöhnt und vorgeführt. Früher hat Minato ihn links liegen lassen, aber – und jetzt sind wir in den dritten Teil des Film vorausgeeilt – jetzt werden die beiden in der grünen Hölle die besten Freunde.
Wenn die Handlung mit den Schulbesuchen der Mutter und die gemeinsame Verneigungsarie des Kollegiums einen gewissen Höhepunkt erreicht und Sakura Gerüchte über die Schulleiterin hört, daß deren Enkel von ihrem Wagen tödlich überrollt wurde, bemerken wir eine Zäsur, denn die erzählte Geschichte geht von vorne los. Diesmal allerdings sieht alles ganz anders aus. Denn wir sind nun dabei, wie der Lehrer die angeblichen Übergriffe gar nicht unternimmt, sich freundlich um den Jungen kümmert. Was ist hier los, was ist Wahrheit, was ist Interpretation. Der Film wird immer spannender, denn selten wird einem Filmzuschauer so eindrücklich dokumentiert, wie wir manipulierbar sind, durch die Art und Weise, wie Personen dargestellt sind, was Folgen für die Einschätzung des Geschehens hat.
Und als nach Zweidrittel des Films dasselbe noch einmal passiert, haben wir Sinn und Funktion dieses Perspektivwechsels verstanden und genießen die dritte Erzählung, die nicht alles an Unklarheiten auflöst, aber durch die Konzentration auf die beiden Jungen und was sie gemeinsam in der Grünen Hölle erleben, eine zusätzliche Dimension erhält. Nach diesem Film mißtraut man dem ersten Blick auf jeden Fall stärker als vorher.
Foto:
©Verleih
Info:
BESETZUNG
SAORI MUGINO. SAKURA ANDO
MICHITOSHI HORI. EITA NAGAYAMA
MINATO MUGINO. SOYA KUROKAWA
YORI HOSHIKAWA. HINATA HIIRAGI
MAKIKO FUSHIMI. YUKO TANAKA
Stab
REGIE. HIROKAZU KORE-EDA
DREHBUCH. YÛJI SAKAMOTO
ORIGINAL MUSIK RYUICHI SAKAMOTO