Alice Rohrwacher
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dort, wo ich aufgewachsen bin, hörte man häufig Geschichten von geheimen Funden, heimlichen Ausgrabungen und mysteriösen Abenteuern. Man musste abends nur lange genug in der Bar bleiben oder in einer ländlichen Trattoria einkehren, um zu erfahren, dass dieser oder jener mit seinem Traktor ein etruskisches Grab freigelegt oder ein anderer eines Nachts in den Nekropolen eine Goldkette ausgegraben hatte, die so lang war, dass sie um ein gan- zes Haus reichte. Wieder ein anderer war in der Schweiz zu Reichtum gekommen, mit dem Verkauf einer etruskischen Vase, die er in seinem Garten gefunden hatte.
••• GERIPPE UND GESPENSTER, FLUCHTEN UND DUNKELHEIT
Das Leben um mich herum war aus verschiedenen Teilen gemacht: Der eine war voller Tageslicht, gegenwärtig und betriebsam, der andere nächtlich, mysteriös und geheim. Es gab viele Schichten, und wir alle machten unsere Er-ahrungen damit: Man brauchte nur ein paar Zentimeter Erde umzugraben, und das Fragment eines von fremden Händen geschaffenen Artefakts tauchte zwischen den Kieselsteinen auf. Aus welcher Epoche schaute es mich an? Man brauchte nur in die Scheunen und Weinkeller der Gegend zu gehen, um zu erkennen, dass diese einst etwas anderes waren, etruskische Gräber vielleicht, Unterstände aus vergangenen Zeiten, heilige Stätten.
••• ARME TOMBAROLI
Die Nähe von Heiligem und Profanem, von Tod und Leben, die die Jahre meines Heranwachsens kennzeichnete, hat mich immer fasziniert und meine Sichtweise geprägt. Das ist der Grund, warum ich schließlich einen Film machen wollte, der diese vielschichtige Geschichte, diese Beziehung zweier Welten erzählt, den letzten Teil eines Triptychons über eine Region, deren Aufmerksamkeit sich auf eine zentrale Frage richtet: Wie soll sie mit ihrer Vergangenheit umgehen? Wie einige Grabräuber sagen: Bei uns sind es die Toten, die Leben geben.
La Chimera ist die Geschichte des Aufs und Abs einer Bande von Grabräubern, die etruskische Gräber entweihen und mit den Antiquitäten bei den lokalen Hehlern hausieren gehen. Die Geschichte spielt in den 1980er Jahren, als jeder, der beschloss, ein „Tombarolo“ zu werden – und damit die unausgesprochene Grenze zwischen dem Heiligen und der Entweihung zu überschreiten –, das machte, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um etwas Neues, etwas anderes zu werden. Die Tombaroli waren, ganz ohne Zweifel, voller Kraft und Jugend - und verdammt.
Sie gehörten nicht der Vergangenheit an und sie waren nicht die Söhne ihrer Väter – dieser Männer, die neben den uralten Gräbern aufgewachsen waren, ohne sich jemals an ihnen zu vergehen. Sie waren die Söhne von sich selbst. Die Welt gehörte ihnen: Sie konnten diese Orte betreten, die als tabu galten, Vasen zerschlagen, Votivgaben stehlen und sie verkaufen. Für sie waren das nichts als Museumsstücke, alter Plunder. Keine heiligen Gegenstände mehr. Die Naivität der Leute, die diese Sachen damals in die Gräber gelegt hatten, brachte sie zum Lachen. Sie fragten sich nämlich, wie es möglich war, dass ein Volk all diesen Reichtum in der Erde vergraben konnte, für die Seelen... Vergesst die Seelen – sie wollten das Gold selbst genießen, und wie! Die Etrusker hatten ihre Kunst, ihr Handwerk und ihre Schätze dem Unsichtbaren verschrieben. Für die Grabräuber existierte das Unsichtbare nicht.
••• KUNSTHÄNDLER ODER KLEINE RÄDCHEN IM GETRIEBE?
Der Cantastorie, der Balladensänger, dem wir im Film begegnen, singt: „Der Tombarolo ist ein Tropfen im Ozean“. Wie sich herausstellt, stimmt das. „La Chimera“ behandelt eine der größten Fragen, vor der Italien und viele andere Länder, die Wiegen antiker Zivilisationen sind, seit dem 20. Jahrhundert und vor allem seit dem Krieg stehen: Der Markt für antike Kunst und besonders der illegale Handel mit archäologischen Schätzen.
Dieses Geschäft wurde in Etrurien besonders populär, es schlug Wurzeln unter den Vertretern einer jungen Generation, die vom Wunsch angetrieben war, sich für eine Reihe von sozialen Missständen zu rächen. Sie wollten auf andere Weise Geld verdienen, sie wollten nicht für die Chefs arbeiten. Sie waren der Meinung, dass ihnen die Funde geradezu zustanden, einfach weil sie zu ihrer Region gehörten. Es scheint, als würde dieses ungeschriebene Recht – abgeleitet aus der Erinnerung an große, privat finanzierte archäologische Ausgrabungen wie die von Lucien Bonaparte und dem schwedischen König – seine Spuren unter den Bewohnern Etruriens hinterlassen haben.
Die örtlichen Grabräuber waren fast stolz darauf, auf ihren Streifzügen alte archäologische Stätten und Gräber zu zerstören. Aber tatsächlich waren sie nur kleine Rädchen im Getriebe, Spielfiguren und Opfer eines Systems, das viel größer war als sie. Sie dachten, sie hätten die Macht zu entscheiden, aber in Wirklichkeit handelten sie im Interesse eines Kunstmarktes, der mindestens in den 1980er und 1990er Jahren völlig von der eigenen Region getrennt war. Es war ein Sektor, dessen Umsatz höher als der des italienischen Drogenmarktes war, und über Jahrzehnte stellte er mit seinen viel geringeren Risiken ein noch besseres Geschäft dar. Gerichtsverfahren, wenn es sie gab, wurden oberflächlich geführt, die Prozesse verliefenäußerst schleppend. Kurzum, diejenigen, die sich für die Raubtiere hielten, waren in Wirklichkeit die Beute des viel größeren Kunstmarktes, der sie verschlang. Spartaco, der zweideutige Drahtzieher mit dem sanft auf dem See treibenden goldgelben Boot, ist eines seiner Symbole.
••• ARTHUR, DER AUSLÄNDER
Die Hauptfigur in „La Chimera“ ist Arthur, der Ausländer. Er lebt nicht innerhalb oder außerhalb der Stadtmauern, sondern genau an ihnen. Er kommt aus einem Land, das nicht genau bestimmt wird: Es könnte England sein, es könnte Irland sein ... Aber vielleicht ist das nicht so wichtig, vielleicht ist es Arthur selbst, der es nicht verraten will. So sehr die Bande der Tombaroli ihn aus ihrem täglichen Treiben heraushalten mag, ist es dennoch er, den sie zu ihrem Anführer auserkoren haben. Arthur ist jemand, über den viel gesprochen wird.
Arthur ist anders als die anderen, weil er weder zum ört- lichen Umfeld noch zur Gang gehört. Was er sucht, ist nicht Profit und Geld und Abenteuer, sondern etwas ande- res, etwas, an dem er andere nur schwer teilhaben lassen kann. Aber er mag es, mit der Bande herumzuhängen, er ist fasziniert von der Stadt, mit ihren Festen, Lichtern und Feuerwerken. Vor allem erlebt er ein Gemeinschaftsgefühl, das er bisher nicht kannte. Seine Faszination ist eine, die eine lange Geschichte hat, die bis in die Zeiten der „Grand Tour“ zurückreicht, als Italien viele junge Nordeuropäer in seinen Bann schlug. Aber all das ist ihm nicht genug.
So wie Orpheus sich auf die Suche nach Eurydike begibt, hat Arthur das Gefühl, dass er, wenn er gräbt, etwas finden kann, das er verloren hat – als könne er durch das viel gerühmte „Tor zum Jenseits“ gehen. Im Jenseits ist Beniamina, die Frau, die er vor Jahren verloren hat, seine „Wurzel“. Auf seiner Reise wird Arthur von zwei Frauen begleitet: Beniamina auf der einen Seite, die nicht mehr bei ihm ist, ihn aber magnetisch anzieht, und Italia, fröhlich und lebendig, abergläubisch und komisch, eine Frau, die Arthur lieben könnte... wenn er nur die Vergangenheit loslassen würde. Verdammnis oder Erlösung? Ekstase oder Lüge?
Foto:
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Info:
Besetzung
Josh O‘Connor ... Arthur
Carol Duarte ... Italia
Vincenzo Nemolato ... Pirro
Isabella Rossellini ... Flora
Alba Rohrwacher ... Spartaco
Yile Yara Vianello ... Beniamina
Lou Roy-Lecollinet ... Melodie
Giuliano Mantovani ... Jerry
Gian Piero Capretto ... Mario
Melchiorre Pala ... Melchiore
Ramona Fiorini ... Fabiana
Luciano Vergaro ... Katir
Luca Garciullo ... Il Portuale
Carlo Tarmati ... Carabiniere
Valentino Santagati ... Cantastorie
Piero Crucitti ... Cantastorie
Stab
Buch und Regie ... Alice Rohrwacher