Bildschirmfoto 2024 04 21 um 00.23.45Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. April 2024, Teil 17

Redaktion

Tokio (Weltexpresso) - Wie ist die Idee zum Film entstanden?


Nele Dehnenkamp: Im Rahmen meines Soziologie-Studiums habe ich einen längeren Auslandsaufenthalt in den USA absolviert. Die Thematik der „Masseninhaftierung“ (Englisch: „mass incarceration“) war damals sehr präsent in der öffentlichen Debatte.

Man beschäftigte sich damit, wie durch Strafen und Gefängnisse die Ungleichheit
in der Gesellschaft aufrecht erhalten wird. Doch diese Diskussion hatte vor allem eine männliche Perspektive. Mich interessierte: Was macht es mit den zurückgebliebenen Frauen? Wie erleben Frauen und Kinder die Haftstrafe ihres Partners und Vaters? Als ich dann als Gaststudentin ein Uni-Seminar zum Dokumentarfilm besuchte, war die Idee für den Film geboren.

Michelle, warum hast du dich dazu entschieden, deine Geschichte zu erzählen?

Michelle Bastien-Archer: Ich wollte auf das Schicksal von Frauen wie mir aufmerksam machen. Mir ist es wichtig zu zeigen, wie eine Haftstrafe das Leben der betroffnen Familien beeinflusst. Einen inhaftierten Partner zu haben, ist eine große Belastung. Und die wenigsten Menschen wissen das. Im Gegenteil: Sie haben Vorurteile gegenüber Frauen, die mit einem Mann im Gefängnis zusammen sind. Sie halten die Frauen für schwach. Mit diesem Vorurteil wollte ich aufräumen. Dazu kommt: Ich bin ein großer Fan von Dokumentarfilmen. Deshalb war es für mich ein besonderes Erlebnis, selbst Teil eines solchen Projekts zu sein.

Wie habt ihr euch kennengelernt und zusammengearbeitet?

Nele Dehnenkamp: Ich habe verschiedene Organisationen kontaktiert, die mit Angehörigen von Inhaftierten arbeiten und ehemalige Insassen unterstützen. Dabei lernte ich einen Freund von Michelles Ehemann Jermaine kennen, der Michelle und mich zusammenbrachte. Michelle war schnell überzeugt. Ich glaube, für sie gab es bis dahin wenig Raum, über ihre Erfahrung als „Gefängnisfrau“ zu sprechen. In der Zeit, als ich noch in New York lebte, habe ich sie häufig am Wochenende besucht. Wir haben über ihren Lebensweg und den Film gesprochen, gedreht, aber vor allem viel Zeit miteinander verbracht. „For the Time Being“ war von Beginn an ein Gemeinschaftsprojekt.

Michelle, wie hast du die Dreharbeiten und später den fertigen Film erlebt?

Michelle Bastien-Archer: Am Anfang war es sehr gewöhnungsbedürftig. Ich bin tatsächlich eher kamerascheu und musste erst lernen, mich vor der Kamera zu öffnen. Aber dann konnte ich offen über meine Erlebnisse reflektieren – das war ein wichtiger Prozess für mich. Trotzdem war ich sehr aufgeregt, als wir “For the Time Being” das erste Mal vor Publikum präsentiert haben. Wenn ich im Film sehe, was ich alles geleistet habe, bin ich sehr stolz. Es war eine empowernde Erfahrung, bis an diesen Punkt zu gelangen.

Nele, was sind die gestalterischen Überlegungen hinter „For the Time Being“?

Nele Dehnenkamp: Der Film erzählt die Erfahrung, im eigenen Leben gefangen zu sein. Diese Statik wollte ich auch in die Bilder übertragen. In vielen Einstellungen ruht die Kamera auf Michelle, man ist ihr ganz nah und wir hören ihre Geschichte ausschließlich in ihren Worten. Mir war wichtig, dass Michelle für sich selbst spricht und wir die Welt aus ihrer Warte heraus erleben. Erzählungen über Gewalt, Haft und Strafen aus der Perspektive von Männern gibt es viele; „For the Time Being“ will ist eine feministische Sicht darauf entwerfen. Jermaine ist dabei weitestgehend abwesend – wie in Michelles Alltag auch, erleben wir ihn nur durch Telefonate und sehen ihn auf Fotos.

Woher kommt der Titel des Films?

Nele Dehnenkamp: Der Titel „For the Time Being“ (deutsch: „vorerst“, „für den Moment“) wurde für Michelle und mich während des Entstehungsprozesses des Films zu einer Art Lebensmotto. Michelle hat sehr lange dafür gekämpft, dass Jermaine freigelassen wird – bis sie auf dem Weg dorthin die schönen Seiten ihres Beziehungsalltags erkennt, der fast komplett durch das Gefängnis reguliert ist. Auch für mich war es schwierig, dass der Film nicht fertig wurde, bis ich gelernt habe, diese Zwischenzeit als Erfahrungsraum zu sehen. „For the Time Being“ ist ein Lehrstück über Ausdauer. Der Film zeigt, dass auch das „Dazwischen“ oder das „Noch nicht“ perfekt sein können. Ich glaube, gerade für Frauen, die häufig an sich zweifeln, kann das eine befreiende Erkenntnis sein.

Wie geht es Jermaine und der Familie heute?

Michelle Bastien-Archer: Uns geht es gut. Vieles in unserer Beziehung ist einfacher geworden seitdem Jermaine zu Hause ist, aber trotzdem müssen wir weiter an uns arbeiten. Die Haft hat Spuren an Jermaines Psyche hinterlassen. Er hat eine posttraumatische Belastungsstörung. Eine große Erleichterung ist dabei, dass Jermaine mittlerweile nicht mehr auf Bewährung ist. Das hat uns anfangs sehr belastet – besonders, dass er sich nur eingeschränkt bewegen konnte. Für längere Reisen brauchte er eine Genehmigung. Nun planen wir unsere erste gemeinsame Fernreise. Außerdem verbringen wir viel Zeit mit den Kindern. Kaylea lebt in New York und arbeitet im Kommunikationsbereich. Paul ist verheiratet und hat eine Familie gegründet. Wir sind mittlerweile Großeltern.

Gibt es Neuigkeiten in Bezug auf die Arbeit an Jermaines Fall?

Michelle Bastien-Archer: Wir arbeiten noch immer daran, Jermaines Unschuld zu beweisen. Es ist wichtig, dass er nicht mehr ein vorbestrafter Mörder ist. Außerdem hat Jermaine einen Job gefunden. Er arbeitet für eine philanthropische Organisation und setzt sich auch beruflich für eine Reform des Justizsystems ein. Wir haben also nicht aufgehört zu kämpfen.

 

Foto:
©Verleih

Info:

Ein Film von Nele Dehnenkamp & Michelle Bastien-Archer
mit Michelle Bastien-Archer, Jermaine Archer, Paul & Kaylea Scott

Deutschland, 2023
Länge: 90 Minuten
Vorführfomat: DCP, Farbe, 25 fps
Seitenverhältnis: 4:3
Auflösung: 2880 x 2160 px 
Ton: 5.1.; Stereo
Originalsprache: Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
FSK: 0 Jahre
Ab 18. April im Kino

Weltpremiere DOK Leipzig 2023
Gewinner „Gedankenaufschluss-Preis“

Abdruck aus dem Presseheft