Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 25. April 2024, Teil 7
Lisandro Alonso
Buenos Aires (Weltexpresso) – Würden Sie sagen, dass dies Ihr komplexester Film ist?
Ja, wahrscheinlich. Es ist schwer, ihn zu erklären oder in Worte zu fassen, denn das wäre so, als würde man versuchen, ein Gemälde zu erklären. Und ich sage das nicht, weil ich mich für einen Maler halte, sondern weil er extrem komplex ist. Aber wir können es versuchen...
Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Film gekommen?
In JAUJA beschloss ich, mehrere verschiedene indigene Charaktere zu porträtieren. Als ich den Film fertig hatte, wurde mir klar, dass ich mehr in diese imaginäre Welt eintauchen wollte. Ich fühlte mich instinktiv zu Western und zu einem Roman von Cormac McCarthy, „Blood Meridian“ (deutsch: „Die Abendröte im Westen“), hingezogen, in dem die Gewalt der Expansion des Westens und das Leben an der Grenze beschrieben wird, die Massaker, die stattfanden, und das völlige Fehlen von Gesetzen zum Schutz der Menschen. Im Grunde genommen unterscheidet sich die heutige Gesellschaft gar nicht so sehr von der um 1800, sie drückt sich nur mit anderen Mitteln aus. Die Toleranz gegenüber diesen Kulturen ist heute nicht viel größer als damals. Wir setzen keine Waffen mehr ein, um sie auszurotten, sondern wir verwenden subtilere Mechanismen. Die Gewalt, die Korruption, die Ignoranz und die Gesetzlosigkeit sind heute ähnlich wie im Wilden Westen.
Der Film stellt die Situation der First Nations in den USA derjenigen von Indigenen in Südamerika gegenüber. Was war Ihre Absicht?
Der Film will die Lebensweise der Indigenen in den Wäldern, wo sie sich noch in die weite Natur zurückziehen und jagen und fischen können, mit der Situation der nordamerikanischen Ureinwohner*innen vergleichen, die auf einem Stück Land leben, das ihnen von der US-Regierung zugewiesen wurde. Sie sind von ihren Traditionen und ihrer Lebensweise abgeschnitten, sie haben nicht die gleichen Rechte wie andere US-Bürger*innen. Ich wollte diese Frage aufwerfen: Wenn die amerikanischen Ureinwohner*innen wie die Eingeborenen im Dschungel leben könnten, würden sie es vorziehen? Wären sie glücklicher, wenn sie weniger durch das Modell der westlichen Zivilisation kontaminiert wären?
Glauben Sie, dass die Ureinwohner*innen Südamerikas mehr Glück hatten als die in Nordamerika?
Das ist eine der Hauptfragen, die der Film aufwirft. Beide Gruppen haben eine blutige Geschichte hinter sich, aber in Südamerika haben sie Zuflucht an Orten wie den Amazonaswäldern gefunden, wo sie sich vor dem Rest der Welt verstecken können. Im Norden hingegen haben sie ihre Persönlichkeit verloren, und einige von ihnen wissen nicht mehr, wer sie sind. Es ist sehr schwer, ohne Identitätsmarker zu leben. Und noch schwieriger ist es, sich mit Kulturen zu vermischen, die nach der eigenen gekommen sind und die ihre Existenz weiterhin leugnen oder ignorieren. Wenn ich Indigener wäre, wäre ich lieber in der Nähe des Amazonas als in den Vereinigten Staaten geboren worden.
Der Zeitraum, in dem der Film spielt, scheint absichtlich mehrdeutig zu sein. Ist das eine Art, über die Kreisförmigkeit der Zeit nachzudenken, an die diese indigenen Kulturen glauben?
Ja, der Film wechselt zwischen verschiedenen Zeitabschnitten, was sich in der Fotografie, der Garderobe, der Art, wie die Menschen sprechen, und der Beleuchtung widerspiegelt. Der Film beginnt in der Vergangenheit mit dem Western, aber es ist keine naturalistische Vergangenheit, sondern er greift auf die Kulissen des klassischen Westerns zurück. Dann geht es in die Gegenwart, in das Reservat, und schließlich reist er in eine nähere Vergangenheit, in den Dschungel der 1970er Jahre. Ich glaube nicht, dass dies für das Publikum ein Problem darstellen wird, denn die Zuschauer*innen sind heute durchaus daran gewöhnt, durch Zeit und Raum zu springen. Wenn wir im Internet nach Informationen suchen, springen wir von der Gegenwart in ein anderes Jahrhundert, ohne dass uns das im Geringsten beunruhigt.
Sie sagen oft, dass Ihre Geschichten aus Orten erwachsen, dass Sie sich von der Natur inspirieren lassen. Welche Orte haben Sie zu diesem Film inspiriert?
Wir haben den ersten Teil in Pine Ridge, South Dakota, gedreht, einem sehr trockenen Ort. Dort leben zwischen 50.000 und 70.000 Menschen, aber es gibt nur etwa zwanzig Polizist*innen, obwohl es große Probleme mit Waffenbesitz und Drogenkonsum gibt. Ich entdeckte diesen Ort 2016 dank Viggo Mortensen, der schon mehrmals dort gewesen war. Ich flog in die USA, mietete ein Auto und fuhr hin. Ich bin noch drei weitere Male zurückgekehrt.
Alle Ihre Filme spielen in abgelegenen Gebieten, die von der Welt abgeschnitten sind: Misiones in Los Muertos, Ushuaia in Liverpool, die Pampa in Jauja... Was interessiert Sie an diesen Orten?
Die Menschen dort leben mit weniger und haben doch mehr. Sie sind von der Gesellschaft an den Rand gedrängt worden oder haben selbst die Isolation gesucht. Einige von ihnen hatten keine Wahl, aber andere haben sich bewusst dafür entschieden, weit weg von dem Ort zu leben, an dem ich lebe: einer großen, kosmopolitischen Stadt. Sie haben einen anderen Lebensstil, mit anderen Werten. In beiden Fällen denke ich, dass es sehr viel Mut erfordert, so zu leben. Warum haben sie sich entschieden, sich von der Welt zu entfernen? Warum wollen sie ohne Ampeln, Handys, Kreditkarten, ohne Chefs und 8-Stunden-Arbeitstage leben? In der heutigen Welt ähnelt sich alles so sehr, dass ich neugierig werde, wenn ich Menschen treffe, die anders leben. Vielleicht können mich diese Menschen mehr über mich selbst lehren als mein Nachbar im 7. Stock. Eine der größten Motivationen, diesen Film zu machen, ist, dass ich Zeit mit ihnen verbringen möchte. Ich langweile mich in Buenos Aires. Ich möchte aus dem Haus gehen und neue Leute kennen lernen. Manche Filmemacher*innen schließen sich gerne in ein Set ein und machen Science-Fiction-Filme. Ich ziehe es vor, auf Entdeckungsreise zu gehen und so zu tun, als wäre ich ein Erforscher der Welt wie Matthew Henson.
Alle Ihre Filme können als Western gesehen werden, aber dieser hier ist ein Western im wahrsten Sinne des Wortes...
Ich neige dazu, Männer zu porträtieren, die hart und mürrisch sind, die Identitätsprobleme haben und unkommunikativ sind. Männer, die sich rächen wollen. Das ist in vielen meiner Filme der Fall: La libertad, Liverpool, Jauja... Diesmal habe ich einen Western durch und durch gemacht, auch wenn er am Ende wahrscheinlich weniger wie ein Film von John Ford als von Glauber Rocha aussehen wird.
Halten Sie den Western für das wichtigste Genre in der Geschichte des Kinos?
Ich bin auf dem Lande aufgewachsen, in Kontakt mit der Natur und mit Pferden. Ich habe in der Stadt studiert, aber meine lebhaftesten Erinnerungen sind anderswo, ich habe mit Schweinen gespielt und die Geburt von Fohlen beobachtet. Meine Kindheitserinnerungen sind eher ländlich als städtisch. Als ich später an der Filmschule nach meinem Lieblingsfilm gefragt wurde, wählte ich ERBARMUNGSLOS von Clint Eastwood. Tief in mir drin habe ich immer gespürt, dass man als Filmemacher Western macht, das US-Genre schlechthin. Wenn ich Western mache, kann ich so tun, als wäre ich John Ford oder Clint Eastwood. Die Indigenen waren für mich sehr wichtig, als ich Film studierte. Heute sind sie völlig von der Leinwand verschwunden. Es ist sehr selten, dass sie in Filmen zu sehen sind. Mit diesem Film möchte ich also unter anderem untersuchen, wie die Filmkultur uns ein bestimmtes Bild von den Menschen vermittelt hat, die von den First Nations abstammen, und sie dann völlig übersehen hat.
Es wird oft gesagt, dass Sie eine Abneigung gegen Drehbücher haben und sich beim Drehen nicht auf sie verlassen. Würden Sie sagen, dass das stimmt?
Ich bin nicht an der Art und Weise interessiert, wie Geschichten im Fernsehen oder in bestimmten narrativen Formen des Kinos erzählt werden. Ich versuche zu vermeiden, eine Geschichte mit Worten zu erzählen. Ich ziehe es vor, andere Mittel zu benutzen. Man erfährt mehr über die Figuren in meinen Filmen, wenn man ihre Umgebung beobachtet, als wenn sie jedes Detail über sich selbst erklären würden. Ich studiere Situationen und versuche, alltägliche Gesten durch die Art und Weise, wie ich sie darstelle, in etwas Ungewöhnliches zu verwandeln. Ich möchte, dass die Zuschauer*innen den Film im eigenen Kopf beenden, indem sie auf eigene Erfahrungen zurückgreifen und eigene Verbindungen herstellen. Ich lasse das Publikum arbeiten, aber es ist die Art von Arbeit, die in den meisten Fällen keine Worte erfordert.
In diesem neuen Film scheint der Aspekt des Geschichtenerzählens präsenter zu sein als sonst...
Ja, das stimmt. Denn die Geschichte ist so seltsam, dass sie einige zusätzliche Informationen erfordert. Das ist etwas, das Hand in Hand geht: Je ausgefallener und komplexer die Struktur ist, desto mehr Dialoge werden benötigt. Sonst wäre das Ergebnis zu experimentell, und das ist nicht der Weg, den ich gehen will.
Was ist die politische Dimension des Films?
Ich denke, dass der Film je nach Hintergrund des Publikums sehr unterschiedliche Interpretationen zulassen wird. Ein amerikanischer Ureinwohner wird den Film nicht auf die gleiche Weise erleben wie ein Weißer, genauso wie eine Europäerin nicht die gleiche Erfahrung machen wird wie jemand aus den USA oder Argentinien. Der Film konzentriert sich mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit. Es geht mir nicht um die Rückkehr zu einem bestimmten Zustand, sondern um die Frage, wohin wir uns bewegen. Wohin führt uns der Fortschritt? Was hat der Begriff des Fortschritts den amerikanischen Ureinwohner*innen gebracht? Ist es besser, in Südamerika arm zu sein oder etwas besser dran, aber völlig isoliert und ohne Zukunftsaussichten zu sein? Ist es besser, unter einem Baum zu leben und zuzusehen, wie sich das Licht im Laufe des Tages verändert, oder ein Rädchen im Getriebe der westlichen Zivilisation zu sein? Klar ist, dass dieser Film unsere Vorstellungen von Fortschritt in Frage stellt. Deshalb verwende ich ein Genre mit guten und bösen Jungs, Weißen und Indigenen. Weil es uns in eine Zeit zurückversetzt, in der es keine Gesetze oder Autoritätspersonen gab. Der Boss war derjenige mit dem schnellsten Schuss. Und daran hat sich nicht viel geändert: Diejenigen, die heute das Sagen haben, die Regeln aufstellen und heimlich nebulöse Verträge abschließen, sind diejenigen, die am schnellsten ziehen.
Foto:
©Verleih
Info:
EUREKA
LISANDRO ALONSO
Argentinien, Deutschland, Frankreich, Mexiko, Portugal 2023
Filmstart: 25. April 2024
Spielfilm, 146 Min., DCP-2K, FSK ab 12, OmU-Fassung
(chatino/englisch/lakota/portugiesisch)
Besetzung (in alphabetischer Reihenfolge):
Viilbjørk Malling Agger: Molly
Alaina Clifford Alaina: Adanilo Costa: Indigener der verschwindet
Luisa Cruz: Ordensschwester
Santiago Fumagalli: Hotelbesitzer
Stanley Good Voice Elk: Großvater
Sadie Lapointe: Sadie
Ta-Yamni Long Black Cat: Delsin
Marcio Marante: El Coronel (Episode 3)
Chiara Mastroianni: Maya / El Coronel (Episode 1)
Viggo Mortensen: Murphy
Rafi: Pitts Randall
Natalia Ruiz: Prostituierte
José María Yazpik: Cowboy
Stab
Regie: Lisandro Alonso
Drehbuch: Lisandro Alonso, Fabián Casas, Martín Camaño
Abdruck aus dem Presseheft