Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Woher kam die ursprüngliche Idee für diesen Film? War die Figur der Nadine ein Ausgangspunkt oder wolltest du „nur“ eine Liebesgeschichte schreiben, eine Geschichte darüber, wie kompliziert Beziehungen sind?
Ich konnte die Idee zum ersten Mal ‚greifen‘, als ich gemerkt habe, dass der Kern der Geschichte für mich nicht in den unterschiedlichen Gestal- ten Pauls, sondern in Nadine liegt, die ihn auf diese Weise sieht und liebt. Was erzählt uns ihr Blick über ihre Sehnsüchte, Ängste, über all jenes, was sie in der Liebe sucht? In wen verlieben wir uns eigentlich? Und wie würde in diesem Sinne der Mensch aussehen, den sie nicht mehr liebt? Da mich diese Fragen irgendwann nicht mehr loslassen wollten, wusste ich, dass diese Idee nicht nur ein Film, sondern auch eine Reise zum Kern meines eigenen Liebesverständ nisses sein würde. - Und ironischerweise war es genau ab diesem Punkt ein Film für mich.
Die Arbeit spielt in diesem Film eine zentrale Rolle - welche Rolle spielt das Setting der Fabrikkulisse in diesem Film? Warum hast Du diese gewählt?
Mich hat ein Umfeld interessiert, das Nadines tiefste Gefühlsentwicklungen atmosphärisch spiegeln kann, aber gleichzeitig auch eingreift in ihre Realität und ihre Geschichte. An ihrem Arbeitsplatz wird alles in Frage gestellt und diese Ungewissheit greift schließlich auch ihr Selbstverständnis als Liebende an.
Wir haben Fabriklandschaften gesucht, die so wie Paul, viele verschiedene Gestalten in sich tragen. Es liegt etwas Brachiales in ihnen, gleichzeitig sind sie Sinnbild der Vergänglichkeit und wenn man lange genug hinschaut, kann man selbst in ihnen etwas überraschend Sanftes finden. Es ist letztendlich Nadines Blick, der im Film darüber entscheidet.
In deinen bisherigen (Kurz-)Filmen, z.B. GABI, SALIDAS, scheinen die Schauplät- ze ein Eigenleben zu führen, sie sind fast selbst Protagonist:innenen und bestimmen die Umstände. Sie transportieren nicht nur eine Atmosphäre, sondern fordern auch die Schauspieler:/Darsteller:innen auf, sich auf bestimmte Weise mit diesen Schauplätzen auseinanderzusetzen. Kannst du etwas dazu erzählen?
Motivtouren sind für mich und mein Team (ins- besondere meine Produzentin Virginia Martin, meinen Szenenbildner Jonathan Saal und meinen Kameramann Jan Mayntz) entscheidende Momente, um das Drehbuch zum ersten Mal auf einen konkreten Prüfstand zu stellen. Meistens ‘spielen’ wir dann bereits erste Szenen nach, die natürlich nichts mit dem zu tun haben, was unsere SchauspielerInnen am Ende tun, die aber immens dazu verhelfen, die Räume im Kopf schon frühzeitig zum Leben zu erwecken. Und gleichzeitig beglücken diese Touren auch meine dokumentarische Lust auf unerwartete Begegnungen, die ich dann wiederum versuche mit in die Filme einzubauen. Wahrscheinlich fühle ich mich daher diesen Orten sehr verbunden. Sie sind eine meiner frühesten Vertrauten und in diesem Sinne auch Protagonisten.
Die Kommunikation zwischen den Figuren Nadine, Paul und den anderen findet auf so vielen Ebenen statt, durch Dialoge, Dialekt, Körpersprache, Gesten, Blicke - kannst du darüber berichten, was Sprache und Kommunikation für dich bedeutet?
Es gibt dieses Credo, dass Figuren im Film nicht alles aussprechen sollen, was sie denken. Mich interessiert genau das Gegenteil. Was, wenn wir alles aussprechen können, sogar eine ge- meinsame Sprache finden, und wir uns trotzdem so fern voneinander fühlen und einsam sind? Darin liegt in meinen Augen die größte Machtlosigkeit. Ich kann “Alle, die du bist” benennen und dich trotzdem nicht ‘erkennen’. Dieser Widerspruch macht mich einerseits sehr traurig, auf der anderen Seite entfacht es meine erzählerische Lust.
Wie kam es zu der Besetzung von ALLE DIE DU BIST - konkret zu der Zusammenarbeit mit Aenne Schwarz und Carlo Ljubek?
Es gibt in diesem Film zwei Seelen: eine, deren Zweifel an der Liebe drohen sie innerlich aufzufressen und eine, deren Glaube an die Liebe unverrückbar ist. Sich als SpielerIn darauf mit ganzem Herzen einzulassen verlangt eine riesige, spielerische Kraft, denn die SpielerInnen können sich nicht hinter Uneindeutigkeiten verstecken und müssen trotzdem einen höchst ambivalenten Gefühlszustand beschreiben. So liegt in Nadines Figur ja der größte Widerspruch, schließlich will sie ihren Mann ja unbedingt lieben. Wie Aenne Schwarz diesen tiefen Wunsch bei gleichzeitiger Entfremdung spielt, ist für mich ein kleines Wunder. Als wir (mein Caster Karl Schirnhofer, meine Produzentin Virginia Martin und ich) Aenne und Carlo zum ersten Mal zusammenspielen sahen, war es für uns ein nahezu magisches Erlebnis. Bei einem Take ‘gewann’ Pauls unverrückbarer Glauben, beim nächsten Mal siegten Nadines tiefste Zweifel. Jedes Mal gaben beide alles und landeten doch jedes Mal woanders. Diese spielerische Flexibilität zu erleben, wäre Grund allein, um einen Film zu machen.
Du bist in Köln aufgewachsen, hast in Spanien gelebt - deine Filme scheinen auch die Qualität eines magischen Realismus zu haben, der dennoch im Alltag verwurzelt ist - fast in der Tradition des lateinamerikani- schen/spanischsprachigen Kinos - bist du in irgendeiner Weise beeinflusst davon?
Ich frage mich das sehr oft und jedes Jahr finde ich eine neue Antwort. Die Zeit in Spanien hat wahrscheinlich über Umwege meine Filmsprache geprägt. Auf Grund der Umzüge in jungem Alter habe ich meine eigenen Rollen immer wieder neu definiert. Und dafür habe ich selbst erst mal meine Umgebung beobachtet, ‘studiert’ und imitiert. Dabei habe ich Deutschland und Spanien immer miteinander verglichen und sicher auch oft vermischt. Die eine Welt, war immer die, die fehlte und die andere, die zwar vor mir lag, doch der ich mich trotzdem nicht zugehörig fühlte. Vielleicht landet man, wenn man dieses Prinzip weiterlebt, irgendwann zwangsläufig bei einer Art magischem Realismus.
Letztendlich ist die Filmsprache in ALLE DIE DU BIST aber natürlich das Resultat der Zusammenarbeit mit einem wundervollen Team. Auch sie haben ihre Sensibilität, ihre Melancholie, ihre Faszination und ihre Liebe diesem Film geborgt. Ohne sie gäbe es weder die Illusion von Rea- lismus, noch den Realismus in den filmischen Illusionen.
BIOGRAFIE REGIE
Michael Fetter Nathansky
Michael Fetter Nathansky wurde 1993 geboren und wuchs in Köln und Madrid auf. Von 2013 bis 2021 studierte er Filmregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Sein Kurzfilm GABI (BA-Abschlussfilm) feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale 2017 in der Sektion Perspektive Deutsches Kino und gewann den Deutschen Kurzfilmpreis. Mit seinem MA-Abschlussfilm SAG DU ES MIR (2019) gewann er den Hauptpreis auf dem Filmfestival in Ludwigshafen und war für den First Steps Award und den Preis der deutschen Filmkritik (u.a. Drehbuch) nominiert. Er ist Co-Autor von Sophie
Linnenbaums THE ORDINARIES, der 2022 seine internationale Premiere in Karlovy Vary feierte und zahlreiche Preise gewann, u.a. den Förderpreis Neues Deutsches Kino auf dem Filmfest München. Sein Kurzfilm SALIDAS wurde international gezeigt und ausgezeichnet, unter anderem in Ann Ar- bour, Leeds und Espinho, und war für den Deutschen Kurzfilmpreis 2021 nominiert. Sein Debütfilm ALLE DIE DU BIST wurde bereits mit zwei Preisen beim WIP Europa des San Sebastián Festivals 2023 ausgezeichnet und wird auf der Berlinale 2024 in der Panorama Sektion Weltpremiere feiern.
Michael wurde 2017 mit dem Nachwuchsförderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet und ist Berlinale Talents Alumnus (2020). 2018 gründete er zusammen mit der Produzentin Virginia Martin die Berliner Produktionsfirma Contando Films. Seit 2020 wird er von der Agentur Henschel Schauspiel Theaterverlag Berlin vertreten.
FILMOGRAFIE
2024 ALLE DIE DU BIST | Debütspielfilm | 108’ Drehbuch & Regie
2022 THE ORDINARIES | Spielfilm, MA Abschlussfilm | 120‘ Drehbuch zusammen with Sophie Linnenbaum
2021 SALIDAS | Kurzspielfilm, Tanzfilm | 10‘ Drehbuch & Regie
2019 SAG DU ES MIR | Spielfilm, MA-Abschlussfilm | 104‘ Drehbuch & Regie
2019 UND WEINEN KÖNNEN | Kurzfilm | 12‘ Drehbuch & Regie
2019 UN CUENTO SIN TI | Mittellanger Dokumentarfilm | 29‘ Idee, Montage & Regie
2017 GABI | Mittellanger Spielfilm, BA-Abschlussfilm | 30‘ Drehbuch & Regie: Michael Fetter Nathansky
Foto:
©Verleih
Info:
STAB
Buch & Regie
Michael Fetter Nathansky
BESETZUNG
NADINE - Aenne Schwarz
PAUL - Carlo Ljubek
PAUL JUNG - Youness Aabbaz
AJDA - Sara Fazilat
PAUL FRAU - Jule Nebel-Linnenbaum
PAUL KIND - Sammy Schrein