Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 4. Juli 2024, Teil 3
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) -Sie haben es gerade angesprochen. Benjamin Lavernhe liefert eine faszinierende Darstellung des Abbé Pierre. Was hat Sie dazu bewogen, ihn für diese Rolle zu engagieren, in der man ihn nicht spontan erwartet?
In erster Linie ist er jemand, den ich sehr mag. Ich hatte das Glück, mit ihm in SK1 (2014) zusammenzuarbeiten. Und obwohl ich für alle Schauspieler, mit denen ich zusammengearbeitet habe, ein freundschaftliches Gefühl empfinde, ist es bei ihm besonders ausgeprägt: Vielleicht ist es seine geheimnisvolle Art. Für mich gibt es eine unergründliche Seite an ihm. Für die Rolle des Abbé Pierre wollten wir auf jeden Fall einen Schauspieler seines Formats und seines darstellerischen Repertoires verantworten. Es war wichtig ein authentisches Abbild zu schaffen und die Komposition aufzubauen. Außerdem musste er in der Lage sein, viele lange Dialoge zu spielen, denn ich liebe es, die Schauspieler im Schwindel des Textes zu verlieren. Wir benötigten auch einen Hauptdarsteller, der alle Altersstufen abdecken kann, also eher einen jungen Menschen, den wir dann altern lassen würden. Auch wollten wir keinen Superstar, damit die Figur den Raum einnehmen kann.
Es gab mehrere Castings mit verschiedenen Schauspielern, darunter auch Benjamin. Wir ließen sie die Reden des Winters 1954 und die Szene im Kongresszentrum vorsprechen. Von Anfang an war ich beeindruckt von der Qualität und Genauigkeit, die Benjamin darbot. Ich konnte an seiner Energie erkennen, wie sehr ihn diese Rolle einnahm. Er verbarg es, aber ich sah auch ein wenig Lampenfieber. Für mich ist das ein Beweis von Respekt und Hingabe. Wir mussten ein wenig mit seinem Terminplan an der Comédie-Française jonglieren, aber ich bin sehr froh, dass wir es geschafft haben.
Wie haben Sie mit ihm gearbeitet?
Ich arbeite mit den Schauspielern immer auf die gleiche Weise. Ich mache so etwas wie gegenseitige Psychoanalyse-Sitzungen! (lacht) Für mich ist es wichtig, gegenseitig ein bisschen über das Leben des anderen zu erfahren, woher wir kommen usw. Für mich beginnt die Arbeit mit diesem persönlichen Austausch. Nach diesem Kennenlernen und diesen Gesprächen beginnen wir mit der Textarbeit. Wir entschlüsseln, analysieren und zerlegen die Dialoge. Ich versuche, den Subtext zu übersetzen, den ich unterbringen möchte. Das nimmt viel Zeit in Anspruch, da man seine Intentionen ausformuliert. Und, wenn dann alles klargestellt wurde, habe ich auch manchmal Lust alles ein bisschen zu sprengen – alles nochmal in Frage stellen, was man sich wochenlang gesagt hat, um aus der Bequemlichkeit zu gelangen. Um wieder zerbrechlich und sensibel zu sein. Um es kurz zu machen, ich wusste Benjamin ist der richtige Schauspieler, um dies zu tun. Wir sahen uns oft zwischen den beiden Drehphasen. Ich wollte ihn für den zweiten Dreh zu etwas Härterem heranführen, um zu erzählen, wie einsam der Abbé, der von so vielen Menschen umgeben war, im Grunde wahrscheinlich war. Ich wusste, dass Benjamin das in sich trug. Er spielte es auf beeindruckende Weise.
Der Film beleuchtet auch die Figur von Lucie Coutaz, die vom Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod die Sekretärin von Abbé Pierre war. Eine Rolle, die Sie Emmanuelle Bercot anvertraut haben, die Sie nach GOLIATH ein weiteres Mal besetzten. War das für Sie selbstverständlich?
Bevor ich mich in die Vorbereitung und das Schreiben dieses Films stürzte, kannte ich Lucie Coutaz nicht und noch weniger die Tatsache, dass der Abbé ohne sie niemals der Mann geworden wäre, der er war. Es war ein Zweiergespann, ohne dass sie sich jemals in den Vordergrund drängte. Sie lebten 40 Jahre lang zusammen und spürten eine platonische Bewunderung füreinander. Ihre emotionale Geschichte ist schließlich die zentrale Achse des Films. Die treibende Kraft der Erzählung. Um Lucie Coutaz darzustellen, war Emmanuelle für mich in der Tat eine Selbstverständlichkeit. Ich habe mit ihr noch vor dem Drehende von GOLIATH (2021) darüber gesprochen. Denn abgesehen davon, dass ich sie auch im Leben sehr schätze, ist sie eine immense Schauspielerin. Ich liebe das Wort „immens“. Ich sage es in seiner einfachen, reinen Form, ohne Schmeichelei. Ich finde sie wirklich immens. Sie ist grenzenlos. Sie kann alles spielen. Darüber hinaus ist sie sehr schön und einfühlsam. Ihr Schauspiel berührt mich sehr. Ich wusste, dass sie diese Rolle spielen kann und auch den ihr innewohnenden Alterungsprozess akzeptiert.
Und um sie herum haben Sie, mit Ausnahme von Michel Vuillermoz, auf bekannte Gesichter verzichtet...
Ich suchte vor allem nach Gesichtern und Charakteren, nach Lebensläufen, um die Wegbegleiter zu verkörpern. Zur Vorbereitung verbrachte ich viel Zeit in den „Emmaus“-Gemeinschaften, auch in den Plünderungs-Gruppen. Ich war von den Gesichtern geprägt, in denen sich die ganze Härte ihres Lebens widerspiegelte. Ihre tiefen Blicke. Ihre Falten. Bei den Schauspielern suchte ich nach dieser Authentizität, die ich zum Beispiel bei Xavier Mathieu, dem ehemaligen Gewerkschafter, der auch ein wunderbarer Schauspieler und Poet ist, fand. Und dann waren da noch all die anderen: Maxime Bailleul, Massimiliano, Michel, Amélie Benady... alle, wirklich alle.
Was fanden Sie an diesem Filmabenteuer am kompliziertesten?
Ich würde sagen, dass dieser Film in jeder Hinsicht kompliziert war. Nicht zu vergessen die Kälte, die ich die ganze Zeit mit uns präsent haben wollte, um im Kontext der damaligen Zeit und des großen Kampfes des Abbé zu sein! Für mich ist es immer herausfordernd, einen Film zu drehen.
Ich fühle mich immer, als hätte ich eine Mission zu erfüllen. Es ist jedes Mal wie bei PLATOON! (lacht) Was natürlich nicht bedeutet, dass es keine gnädigen Momente gibt. Was mir am Herzen liegt, ist die reizvolle Zusammenarbeit mit den Schauspielern, das gemeinsame Schaffen mit ihnen. Das Aufspüren von Gefühlen und menschlicher Komplexität, auch menschlicher Schönheit.
Wie erlebten Sie dann den Schnitt nach 13 Wochen Dreharbeiten?
Dies war bei weitem der komplizierteste Schnitt, den ich je machen musste. Ich hatte ein Casting für Cutter durchgeführt und Valérie Deseine hatte sich durchgesetzt. Wassim Béji hatte mir von ihr erzählt, weil er gerade mit ihr an Olivier Treiners JULIA(S) (2022) gearbeitet hatte. Ich verstand schnell, dass wir die gleiche Sprache sprachen. Ich hatte bei jedem meiner Filme immer einen anderen Cutter. Es ist also jedes Mal ein Sprung ins kalte Wasser, den ich, glaube ich, anstrebe, damit kein Automatismus entsteht. Valérie besitzt ihren eigenen Schnittstil mit genialen Geistesblitzen, hat ein sehr solides Team um sich herum – ein bisschen nach amerikanischem Vorbild. Und sie liebt Herausforderungen. In diesem Film gab es nur Herausforderungen, also kam sie auf ihre kosten. Beispielsweise wollte ich für die Sequenz der Konferenzen nach dem Appell im Winter 1954 Split-Screens1 im Stil von DIE THOMAS CROWN AFFÄRE, um den Schwindel des Moments, die Beschleunigung der Dinge und die Allgegenwärtigkeit, die der Abbé an den Tag legen musste, um überall gleichzeitig zu sein, zu beschreiben. Jedoch bedeuten fünf Bilder auf der Leinwand auch fünf Schnitte. Idealerweise hätten wir dafür 20 Tage in unserem Zeitplan einplanen sollen, aber wir hatten nur vier! Doch das versetzte Valerie nie in Panik, denn sie fand immer eine Lösung.
War es für Sie wichtig, in der Endphase des Films Aufnahmen von Obdachlosen auf den heutigen Straßen einzubauen?
Ja, denn das war in meinen Augen der einzig mögliche Twist in dieser Geschichte, die leider immer noch aktuell ist. Und es symbolisiert im Grunde das, was mich am meisten interessierte, als ich mich auf dieses Projekt einließ: Filme erzählen uns von der Welt. Filme versetzen uns in künstlerisches und emotionales Staunen und regen uns zum Nachdenken an, damit wir vielleicht unseren Blickwinkel ein wenig ändern. Ich wollte mit diesem Film auch über die Welt um uns herum sprechen, die Welt, in der wir leben. Die wir ein wenig verbessern können. Abgesehen davon, dass ich den Werdegang eines außergewöhnlichen Mannes erzähle, abgesehen davon, dass ich einen epischen, aufsehenerregenden und auch bewegenden Film vorlege, wollte ich daran erinnern, dass die Situation nach wie vor problematisch ist. Nicht um eine kalte oder polemische Feststellung zu treffen, sondern um im Gegenzug zu sagen, dass der Kampf weitergeht, der Kampf für die Liebe und die Achtung des anderen! Dass er nie ein Ende haben wird. Und dass wir, wenn wir ihn nicht führen, in gewisser Weise die Menschheit ein Stück weit verlassen. Für mich ist das tiefere Thema des Films die Frage nach dem Sinn des Lebens durch die Identitätssuche des Abbé und einen fast soziologischen Blick auf unsere heutige Zivilisation, ihren Ursprung, ihre Tumulte und ihre Perspektiven.
Schließlich haben Sie den Soundtrack Bryce Dessner, dem Gitarristen der Rockband „The National“, anvertraut. Warum diese Wahl?
Ich arbeite immer mit einer musikalischen Beraterin zusammen, die ich sehr schätze, Jeanne Trellu. Ich spreche schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit ihr über meine Vorstellungen. Ich habe bereits mit dem Komponisten Christophe La Pinta die Musik komponiert. Diesmal wollte ich aber etwas anderes. Also spielte ich Jeanne viele Referenzen vor und wir trafen uns mit einigen Musikern. Ich hatte etwas Einzigartiges im Sinn, wie z.B. Neil Youngs Arbeit für DEAD MAN (1995). Eines Tages spielte ich ihr etwas ziemlich Unwahrscheinliches vor, weil es sehr speziell ist: die zusätzliche Musik von Alejandro Iñárritus THE REVENANT (2015). Ich mag diese Musik, und ich erklärte ihr, dass mir dieser sonderbare Aspekt darin für den Film gefallen würde. Jeanne erklärte mir, dass der Autor Bryce Dessner sei. Sie würde ihn gut kennen. Wir vereinbarten ein gemeinsames Treffen und unterhielten uns. Ich spürte seine sofortige Begeisterung für dieses Projekt, obwohl er als Amerikaner Abbé Pierre überhaupt nicht kannte. Das Thema interessierte ihn sehr. Ich spielte ihm die Stücke von ihm vor, die ich passend fand. Rein zufällig arbeitete er gleichzeitig an dem Soundtrack für den neuen Film von Alejandro Iñárritu, dessen Komponist er wurde. Außerdem stellte er gerade das neue Album von „The National“ fertig...
Das Problem war also, dass ihm enorm viel Zeit fehlte. Das hielt ihn aber nicht davon ab mit uns zu arbeiten. Er schickte mir vor den Dreharbeiten erste Klavier- und Gitarrenstücke, die ich sofort liebte. Es war ein bisschen Westernstyle ... Aber sobald ich dann am Schneidetisch saß (das gehört ein bisschen zu meinem Charakter!), hatte ich Lust auf etwas anderes! Ich hatte Lust, zur anfänglichen Schrägheit zurückzukehren. Zu seiner sehr speziellen akustischen Arbeit, die mich ursprünglich begeisterte – sehr vibrierend. Er sollte nicht für mich komponieren, sondern für sich selbst. In Anbetracht seines und meines sehr engen Zeitplans führte das zu einigen kleinen Spannungen. Aber er hat sich dann völlig neu in Frage gestellt, einen Monat lang alles stehen und liegen lassen, um sich nur auf Abbé Pierre zu konzentrieren, mich mit Musik zu überschütten, darunter auch dem Hauptscore. Meine Aufgabe bestand dann darin, seine Kompositionen zu rezipieren, damit sie die Geschichte und die Emotionen begleiten, ohne zu auffällig zu sein. Die Arbeit mit Bryce war für mich ein sehr großer künstlerischer Moment.
1 Split Screen oder Bildschirmaufteilung (wörtlich „geteilter Bildschirm“) ist eine in visuellen Medien verwendete Technik, die das Bild auf dem Bildschirm in zwei (oder mehr) Bereiche aufteilt, um zwei oder mehr Geschehnisse oder Bilder gleichzeitig zu zeigen.
Foto:
©Verleih
Info:
Ein Film von Frédéric Tellier
Biopic,
Frankreich 2023,
138 Minuten
Besetzung
Abbé Pierre. Benjamin Lavernhe
Lucie Coutaz. Emmanuelle Bercot
Georges Legay Michel Vuillermoz
François. Antoine Laurent
Père supérieur Alain Sachs
Veröffentlichung aus dem Presseheft