Hanswerner Kruse
Berlin / Alpschatten (Weltexpresso) - Auf der letzten Berlinale im Frühjahr hatte der Film „Cuckoo“ seine Weltpremiere in der Sektion Special Gala und wurde dort als eher düsterer Beziehungsfilm abgekündigt.
Die Geschichte der Protagonistin Gretchen beginnt im Ressort „Alpschatten“, jedoch im Schatten eines Alptraums wird „Cuckoo“ völlig unerwartet ein echter Horrorfilm. Zwar werden keine Bäuche mit herausquellenden Gedärmen aufgeschlitzt oder blutspritzend Arme durch Kettensägen abgetrennt. Doch mit Licht und Schatten, ja gelegentlich tiefer Schwärze, grellen Schreien, krassen Schnitten, manchmal einer erdbebenartigen Kamera, Loops der bizarren Handlung, in der sich zu schriller Neuer Musik Ereignisse rasch wiederholen, treibt uns der junge Regisseur Tilman Singer in einen tiefen Abgrund. Neben der oft Gänsehaut bereitenden Filmsprache, die man aushalten muss, werden wir Zuschauer auch noch einer abstrusen Handlung ausgesetzt.
Ungerne kommt die 17-jährige Gretchen (Hunter Schafer) aus den USA in die Bayrischen Alpen, um dort mit ihrem Vater, seiner neuen Frau und ihrer Halbschwester zu leben. Warum bleibt lange offen, denn sie ruft ihre Mutter immer wieder auf dem Anrufbeantworter an und fleht, nach Hause kommen zu dürfen. Erst spät erfährt man vom Tod der Mutter. Ihr Vater soll das Ressort umbauen, dessen etwas schmieriger Besitzer Herr König (Dan Stevens) bietet dem jungen Mädchen gegen den Willen des Vaters an, in der Rezeption zu arbeiten.
Bald versetzt uns der Streifen in eine bizarre Zwischenwelt von Realität und Alptraum: eine irre wirkenden blonde Frau erschreckt die Filmfiguren (und uns) mit grellen Schreien, dabei bebt die Erde. Doch die Schreckensgestalt verschwindet immer wieder schnell und lässt die Akteure (und uns) verwirrt zurück. Ein neuer weiblicher Gast versucht Gretchen mit heißen Küssen zu verführen. Als sie nach dem ersten Arbeitstag mit dem Fahrrad in der Dunkelheit in ihr neues Zuhause fahren will, wird sie von der blonden Frau attackiert. Man weiß nicht, neigt sie zum Wahnsinn oder wird sie wirklich verfolgt? Verletzt flüchtet sie in eine Klinik, in der auch bald ihr Vater mit Frau und Kind erscheint. Denn die gehörlose Halbschwester Bela (Mila Lieu) leidet an Krampfanfällen und muss hier zeitgleich behandelt werden.
Unfälle. Verfolgungen. Schusswechsel. Entführungen. Die Ereignisse überschlagen sich, was ist Filmrealität? Was ist Alptraum? Gretchen wird nach einem Unfall im Krankenhaus gefangen gehalten, ein ehemaliger Polizist versucht ihr zu helfen. Dann stellt sich heraus, ihre Halbschwester Bela ist ein Kuckuckskind, das der Mutter untergeschoben wurde. Denn die Klinik ist in Wirklichkeit eine Brutstätte des megalomanen Herrn König: Daher der Name des Films „Cuckoo“. Als selbst ernannter „Artenschützer“ versucht er durch manipulierte Leihmutterschaften und Brutparasiten die Menschheit zu verbessern: Nur die Guten und Besten, die „Kuckuckskinder“ sollen überleben! Ein perverser Dr. Frankenstein unserer Zeit...
Wer das Genrekino mag, dazu irritierende, wenig logische und immer wieder abreißende Handlungsketten aushalten kann, wird sein Vergnügen in dem Film haben. Zumal die Darstellerin Hunter Schafer wirklich genial als Gretchen agiert und überzeugt. Darüber hinaus fragt man sich sogar als anspruchsvoller Cineast, ist der Schrecken in der Wirklichkeit nicht auch ständig undurchschaubar? Wenn man ihm ausgesetzt ist, weiß man dann sogleich, was warum passiert?
Foto:
© Weltkino
Hunter Schafer als Protagonistin Gretchen
Info:
„Cuckoo“, D / USA 2024, 102 Minuten
Regie/Drehbuch Tilman Singer, mit Hunter Schafer, Dan Stevens, Jessica Henwick, Marton Csókás, Jan Bluthardt u.a.