Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 29. August 2024, Teil 4
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Jahr 1800 in der Nähe von Venedig: Im Kollegium San Ignazio, einer alten Musikschule für mittellose Mädchen, regiert mit strenger Hand der Kapellmeister Padre Perlina (Paolo Rossi), der auch der Priester des Ortes und des Klosters ist. Perlina hat das Orchester und den Chor der in der Schule lebenden Mädchen unter sich. Er ist eigentlich auch als Komponist berühmt, doch inzwischen fällt ihm nichts Neues mehr ein und deshalb begnügt er sich damit, Messe für Messe mit dem Chor und dem Orchester des Mädchenwaisenhauses dieselben Musikstücke recht halbherzig zu dirigieren und herunter zu spielen.
In dem Waisenhaus lebt auch die angeblich stumme Teresa (Galatéa Bellugi), die dort niedere Arbeiten verrichtet, von der kaum jemand den Namen weiß und die von allen nur ″die Stumme″ genannt wird. Allerdings bemerkt niemand, dass sie das außergewöhnliche Talent besitzt, in ihren Gedanken visionäre Klanglandschaften entstehen zu lassen. Das befähigt sie dazu, ihre Umgebung als Rhythmus zu erleben, ihre Schönheit wahrzunehmen und sie in ihrem Kopf durch Musik zu verändern, indem sie aus den alltäglichen Verrichtungen der Köchinnen, Mägde und Haushälterinnen – dem Polieren der Krüge, dem Schöpfen des Wassers, dem Fegen des Fußbodens – Rhythmen und beinahe Melodien entstehen lässt, die weit lebendiger klingen als das was zu dieser Zeit und an diesem Ort als Musik gilt.
Dann wird dem Konvent mitgeteilt, dass der gerade in Venedig gewählte neue Papst Pius VII der Stadt Venedig und auch dem Waisenhaus einen Besuch abstatten will. Perlina wird deshalb vom Gouverneur (Natalino Balasso) aufgefordert, ein neues Konzert zu komponieren. Doch der hat seit Jahren nichts mehr zu Papier gebracht und auch jetzt hat er keine Inspiration. Die Violinistin Lucia (Carlotta Gamba) könnte ihm beim Komponieren helfen, aber der zänkische Maestro zieht es vor, sich auf anderen – weniger legalen - Wegen - helfen zu lassen. Dazu kommt auch, dass er Geldsorgen hat, denn er muss die Schulden seines ehemaligen Liebhabers begleichen.
Da wird eines Tages ein Pianoforte - ein bis dahin komplett neues Instrument - als Geschenk einer deutschen Adligen angeliefert, aber weder der Kapellmeister noch die Oberin des Klosters haben daran Interesse. So wird das etwas sperrige Instrument in den Keller gestellt und vergessen.
Als Teresa gezwungen wird, im Keller nach Mäusen und Ratten zu fanden, entdeckt sie das brandneue, aber auch etwas unheimliche Instrument in einer der Abstellkammern. Sie beginnt auf ihm zunächst noch spielerisch, dann immer entschlossener herumzuklimpern. Dabei wird sie während ihrer heimlichen Besuche immer besser und entwickelt eine ganz andere und eigenständige Art von Musik – auch wenn sie nicht – wie die Frauen des Orchesters- in der Lage ist, die Musik auf einem Notenblatt festzuhalten.
Eines Nachts hört eine der Musikerinnen die nächtlichen Töne und entdeckt Teresa. Sie erzählt den anderen Streicherinnen davon und so kommen Lucia (Carlotta Gamba), Bettina (Veronica Lucchesi), Marietta (Maria Vittoria Dallasta) und Prudenza (Sara Mafodda) zu Teresa in den Keller. Lucia ist eine begabte Komponistin, die ihre Werke regelmäßig dem Kapellmeister anbietet, doch er weißt sie schroff zurück.
Nach einigen Eifersüchteleien – vor allem zwischen Teresa und Lucia - kommen sich die fünf Frauen näher und musizieren heimlich. Sie entwickeln dabei eine ganz neue und zu dieser Zeit noch nicht bekannte Art von Musik, inspiriert von ihrer Lebenswelt, ihren Gefühlen und dem Rhythmus ihres Daseins.
Doch dann kommt der Tag des Papstbesuchs und da Perlina immer noch trotz aller Bemühungen kein neues Musikstück geschrieben hat, entscheiden die jungen Frauen, dem Papst bei seinem Besuch etwas ganz Besonders zu bieten: einen ganz neuen revolutionären Sound, passend zu den politischen Veränderungen durch die Französische Revolution…
Der geschichtliche Hintergrund des Films ist, dass Papst Pius VII. wirklich in der Konklave in der Abtei San Giorgio Maggiore in Venedig unter österreichischem Schutz gewählt wurde, da große Teile Italiens unter Napoleonischer Besetzung standen. Nach drei Monaten wurde schließlich Kardinal Barnaba Chiaramonti als neutraler Kandidat vorgeschlagen und am 14. März 1800 zum neuen Pontifex gewählt und am 21. März 1800 zu Papst Pius VII. gekrönt.
Ein weiterer historischer Hintergrund des Filmes ist, dass es die musikalischen Waisenhäuser wirklich gegeben hat, in denen über Jahrhunderte verwaiste Mädchen in vier Häuser in Venedig musikalisch ausgebildet wurden, um sie als ″Figlie di coro″ - Chormädchen - in Gottesdiensten einzusetzen, in Wirklichkeit auf Balkonen in halber Kirchenhöhe, hinter Gittern, die mit Samttüchern verhängt waren, ohne dass die Kirchenbesucher sie sehen konnten.
Regisseurin des Films ist Margherita Vicario. Sie ist eine bekannte italienische Schauspielerin und Elektropopmusikerin. ″Gloria!″ ist ihr erster Langfilm als Drehbuchautorin (zusammen mit Anita Rivaroli) und Regisseurin, für den sie eine Einladung in den Hauptwettbewerb der 74.Berlinale 2024 erhalten hat.
Die Regisseurin setzt in ″Gloria!″ den vielen vergessenen Komponistinnen ein Denkmal, deren Arbeiten im Laufe der Geschichte regelmäßig totgeschwiegen wurden. Dabei sucht Margherita Vicario keinen konkreten Bezug zu tatsächlich gelebten Frauen, sondern sie erzählt ihre Geschichte anhand einiger fiktiven Personen und Ereignissen. Dies zeigt sich auch darin, dass ″Gloria!″ weniger von den Bildern von Kameramann Gianluca Rocco Palma, sondern mehr von der Musik von Davide Pavanello und der Regisseurin selbst aus gedacht ist, denn die Bilder folgen häufig der Musik und unterwerfen sich dadurch dem Rhythmus. Allerdings wurde die Person der Lucia von Maddalena Laura Sirmen (1745 – 1818) beeinflusst und Lucia spielt auch eines ihrer Werke im Film.
Margherita Vicario hat in ihrer Komödie eine feministische Utopie zwischen Märchen und Musical geschaffen, die deutlich moderner ist, als es in der hier dargestellten späten Rokoko-Epoche üblich war. Das gilt natürlich vor allem für die von den Musikerinnen komponierten Stücken. Dabei sind die musikalischen Ideen von Teresa deutlich wilder und moderner als die Stücke von Lucia, die doch noch stärker in der Tradition des Barock verhaftet ist.
Ganz eindeutig geht es der Regisseurin darum zu zeigen, welche Verluste für die Musikwelt es gebracht hat, dass es begabten Musikerinnen verboten war, eigenständige Musikstücke zu komponieren und zu veröffentlichen. ″Gloria!″ erzählt ganz allgemein von der Unterdrückung begabter Frauen mit dem Ziel, künstlerischen Genius weiterhin nur als männlich zu definieren, aber auch wie weibliche Solidarität das Patriarchat zumindest angreifen kann. Dabei wird aber nie behauptet, dass in dem Film eine historische Geschichte erzählt wird. Dazu ist nicht nur die Musik zu modern, denn sie ist bluesig, jazzig, poppig und mit Referenzen an die traditionelle italienische Popularmusik, sondern auch einige Figuren sind zu komödiantisch angelegt.
Ein unbedingtes Plus des Films ist, dass die Probleme der Protagonistinnen als Sprungbrett letztendlich für ihre Befreiung genutzt werden. Durch seinen lebensbejahenden und optimistischen Tonfall hebt sich ″Gloria!″ von anderen, thematisch ähnlich gelagerten Filmen ab.
Mit ihrem berührenden wie mitreißenden Regiedebüt setzt Margherita Vicario nicht nur den vielen verhinderten Musikerinnen ein sehenswertes Denkmal, sondern der charmante Musikfilm erzählt auch von der Geburt der Popmusik, denn die von den Frauen komponierten und gespielten Musikstücke sind ein Aufbruch aus der institutionellen (hier besonders kirchlichen) heraus und hinein in die individuelle Musik.
Auch wenn Regisseurin Margherita Vicario in einigen Szenen doch bekannte Klischees zeigt, ist ″Gloria!″ ganz sicher ein sehenswerter Film über weiblicher Kreativität und die Entstehung der modernen romantischen Popmusik. Daneben setzt die Regisseurin auch all den vielen vergessenen Komponistinnen ein sehenswertes Denkmal. Es lohnt, sich den Film im Kino anzusehen.
Foto 1: Zwischen der schweigenden Magd Teresa (Galatéa Bellugi) und Donna Lidia (Anita Kravos), der Frau des Gouverneurs, entsteht weibliche Solidarität © Neue Visionen Filmverleih
Foto 2: Virtuos entfacht Teresa (Galatéa Bellugi) mit dem Pianoforte ein musikalisches Klangfeuerwerk © Neue Visionen Filmverleih
Foto 3: Vergeblich versucht die begabte Musikschülerin Lucia (Carlotta Gamba) dem repressiven Kapellmeister ihre Kompositionen vorzulegen © Neue Visionen Filmverleih
Foto 4: Ganz neue (feminine) Töne: In einer alten Musikschule vereint sich um die musikalisch virtuose Dienstmagd Teresa (Galatéa Bellugi) ein außergewöhnliches Quartett junger begabter Frauen: Lucia (Carlotta Gamba), Bettina (Veronica Lucchesi), Marietta (Maria Vittoria Dallasta) und Prudenza (Sara Mafodda) © Neue Visionen Filmverleih
Info:
Gloria! (Italien, Schweiz 2024)
Originaltitel: Gloria!
Genre: Musik, Historienfilm, Feminismus
Filmlänge: ca. 106 Min.
Regie: Margherita Vicario
Drehbuch: Margherita Vicario, Anita Rivaroli
Darsteller: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Maria Vittoria Dallasta, Sara Mafodda, Paolo Rossi, Elio, Vincenzo Crea, Natalino Balasso, Anita Kravos, Jasmin Mattei u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 29.08.2024