Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Sieben Jahre nach Ihrem Debüt in DIE TÄNZERIN arbeiten Sie wieder mit Stéphanie Di Giusto in einer überwältigen Rolle zusammen. Was war Ihre erste Reaktion, als Ihnen die Rolle der Rosalie angeboten wurde?
Ich habe das Drehbuch gelesen und mich sofort mit dieser Frau identifiziert, die bereit ist, sich so zu akzeptieren, wie sie ist, mit ihrer Andersartigkeit. Diese grenzenlose Liebesgeschichte, die sie mit ihrem Mann Abel (Benoît Magimel) erlebt, hat mich überwältigt. Ich habe nicht eine Sekunde lang an ihr körperliches Aussehen gedacht. Ich hatte blindes Vertrauen in Stéphanie. Ich wusste, dass sie etwas Schönes filmen würde. Ich hätte wahrscheinlich gezögert, wenn es sich um einen anderen Regisseur gehandelt hätte.
Stéphanie Di Giusto gab zu, dass sie sich von Clémentine Delait inspirieren ließ, einer bärtigen Frau aus den Vogesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts weltberühmt wurde, indem sie Fotos von sich machen ließ. Haben Sie sich im Vorfeld für sie interessiert?
Sehr wenig. Im Gegensatz zum Drehbuch, in dem es vorrangig um die Liebesgeschichte zwischen Abel und Rosalie geht, wird in den Büchern über Clémentine Delait selten ihr Ehemann thematisiert. Sie selbst erwähnt ihn in ihrer Autobiografie kaum. Was mich jedoch vor allem interessierte, war es, die Wünsche meiner Rolle zu berücksichtigen - sich zu verlieben und ihr Leben als Frau so zu führen, wie sie es möchte. Stattdessen habe ich mich sehr von einem Foto von ihr inspirieren lassen, das sehr aussagekräftig ist: Alles in ihrem Blick zeugt von Zutrauen und Mut. Man sieht, dass sie zu sich selbst steht. Dieser Blick hat mich geprägt.
Gibt es noch andere Dinge – Filme oder Bücher – die zu Ihrer Figur beigetragen haben?
Zwei Filme: ROSETTA von den Dardenne-Brüdern und RYANS TOCHTER von David Lean. Stéphanie hatte mir geraten, beide Filme zu sehen. Der erste war meine größte Inspiration.
Die Herausforderung, eine bärtige Frau zu spielen, war körperlich und ästhetisch enorm, wie bereiten Sie sich auf solch eine Rolle vor?
Es dauerte drei Monate, um Rosalies Aussehen zu festigen: ihr Bart, ihre Haare, ihre Frisur, ihre Kostüme. Stéphanie, das Team von Madeline Fontaine (Kostüme), Aude Thomas (Frisur), Mélanie Gerbeaux (Köperbehaarung) und ich selbst, haben viel versucht.
Wie viel Zeit verbrachten Sie am Set, um Rosalie zu werden?
Ungefähr vier Stunden – zwei für das Ankleben der Haare, eine für die Frisur, eine für das Make-up und weitere 40 Minuten für das Anlegen der Korsage. Es war wie eine Art Ritual, lang und mühsam, aber ich brauchte diese Zeit, um in die Rolle hineinzufinden. Rosalie konnte nicht existieren, bevor ich nicht vollständig bereit war.
Es war nicht einfach, ich war um vier Uhr morgens auf den Beinen, aber es war Teil des Lernprozesses. Ich musste mutig und kämpferisch sein, wie Rosalie: ich musste auch die Scham empfinden, die sie empfand. Das Befestigen der Haare, eine ganz besondere Methode, Haar an Haar, half mir dabei. Das wirkte sich auf mein Selbstbewusstsein aus: Ich musste nicht mehr spielen, sondern musste die gleiche Anstrengung wie sie unternehmen, um mich besser in meiner Haut zu fühlen. Ich wuchs mit ihr.
Hat es Ihnen geholfen, chronologisch zu drehen, wie Sie es bei diesem Film getan haben?
Es war eine wahnsinnige Chance und eine große Hilfe. Das hat mir erlaubt, nach und nach zu meinem Bart zu stehen, und vor allem hat es mir sehr mit der Beziehung geholfen, die meine Figur zu Abel hat, der von Benoît gespielt wird. Ich kannte Benoît vor dem Film nicht - Stéphanie hatte darauf bestanden, dass wir uns bis zu den Dreharbeiten nicht sehen. Anfangs, und weil er gerne in einer Form des „Actors Studio“ arbeitet, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lässt, erzeugten die Atmosphäre und die Situationen, die er kreierte, ein Geheimnis und eine gewisse Spannung zwischen unseren Charakteren.
Das vervielfachte die Anstrengungen, die ich zusammen mit Rosalie unternahm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, ihm zu gefallen. Obwohl ich mich während des ersten Teils des Films ein wenig zurückgewiesen fühlte, wurde mir später klar, dass er mir ein wunderbares Geschenk gemacht hatte. Wir lernten uns durch die Szenen kennen, die wir spielten. Es kam vor, dass Benoît mich auf Pfade führte, die mir so real erschienen, dass ich zeitweise gar nicht spielte. Ich arbeite noch nicht sehr lange, aber ich habe dennoch Erfahrung und rufe ich mir beim Spielen mir bekannte Emotionen in Erinnerung. Hier war das nicht nötig: die Emotion überkam mich von selbst.
Die Szene in der Hochzeitsnacht ist erschütternd.
Ich hatte Angst vor ihr. Bevor ich die Szene betrat, dachte ich: „Wir werden sehen...“. Der Blick, den er auf mich warf, reichte aus, um mich zu verändern und zu verunsichern. Auch wenn man nie wirklich vergisst, dass man spielt, sind das ganz besondere Momente, in denen man dieses Bewusstsein fast aus seinem Gedächtnis löschen würde. Nur sehr wenige Schauspieler sind dazu in der Lage wie er. Man kann sich vorstellen, dass Rosalie bereits sehr harte Dinge erlebt haben muss. Von dieser Hochzeit an, hat man das Gefühl, dass sie von einem wahren emotionalen Tsunami mitgerissen wird...
Es kommt für sie nicht in Frage, wieder bei ihrem Vater zu leben. Auch wenn sie sich der Größe der Herausforderung bewusst ist, darf sie nicht scheitern. Also nimmt sie es auf sich und kämpft. Ihr Kampfgeist berührt mich. Ihre Lebenskraft, ihr Mut, ihre Lebensfreude, die sie trotz des Leids, das sie erdulden muss, dazu bringt, sich selbst zu ermahnen nur die guten Seiten zu behalten. Sie gibt nie auf, diese Rosalie.
Sie verleihen Rosalie einen Schutz und eine Feinfühligkeit, die noch stärker werden, je mehr sie sich öffentlich zu ihrer Andersartigkeit bekennt.
Sie muss sich auf andere Art weiblich fühlen als auf die, die ihr Aussehen ihr verbietet. Sie findet für sich eine Form von Anmut.
Und es gelingt ihr, diese ungewöhnliche Liebe zu Abel aufzubauen...
Diese Liebe entsteht aus einem Verlangen, das ihnen entgleitet, und baut sich nach und nach auf, bis sie bedingungslos und absolut wird. Es ist eine verhängnisvolle Liebe, aber es ist eine wahre Liebe.
Erzählen Sie uns von der Szene am Ufer des Flusses, in der Rosalie ihr Verlangen entdeckt.
Sie ist sehr wichtig, diese Szene, denn sie zeigt deutlich, dass dieses weibliche Begehren auch mit dem Tragen des Bartes einhergeht. Rosalie entdeckt sich selbst, sie wacht auf.
Wie erklären Sie sich Rosalies plötzliche Leidenschaft, sich auf Fotos zu zeigen?
Bei ihr baut sich die Selbstakzeptanz über ihren Körper auf, also zeigt sie ihn auch, bis hin zum Flirten mit den Grenzen. Gleichzeitig meint sie es aber gut: Das Geld, das sie mit den Fotos verdient, nutzt sie, um ihrem Mann zu helfen. Irgendwann geht das zu weit: Sie wird von ihrer Andersartigkeit und der Gewalt, die diese bei den anderen hervorruft, eingeholt. Rosalie will nur geliebt werden und tut alles dafür. Für mich sind diese Figur und dieser Film eine Lektion in Sachen Toleranz.
Sie sagen, dass für Rosalie das Körperliche eine große Rolle spielt ... Hat es Ihnen geholfen, dass Sie Tänzerin waren?
Ja, ich konnte mich wieder mit einer Form von Anmut auseinandersetzen, die ich vom Tanzen kannte, zu einer bestimmten Kopfhaltung und gewissen Anspruchshaltung. Der Tanz ist eine anspruchsvolle und schmerzhafte Disziplin. Ich weiß, was es bedeutet, sich in seiner Haut unwohl zu fühlen oder sich zu schämen. Ich kenne die Anstrengung, das Durchhaltevermögen. Dennoch habe ich diese Vergangenheit nicht gebraucht, um Scham oder Verlegenheit zu empfinden, nachdem mir am ganzen Körper Haare angeklebt wurden.
Rosalie spielt im späten 19. Jahrhundert, in einem abgelegenen Dorf und spezifischen Kontext, aber der Film erzählt auch von der Gegenwart.
Ja, natürlich. Andersartigkeit ist nach wie vor ein Thema. Und obwohl Stéphanie den Film nicht aus diesem Grund gemacht hat, ist das Element „Haare“ zu einem echten Gesprächsthema geworden: Viele Frauen weigern sich mittlerweile, sich zu rasieren. Sie tun dies nicht aus Provokation, sondern einfach, weil sie keine Lust darauf haben. Sie wollen selbst über ihren Körper und ihre Lebensentscheidungen bestimmen. In diesem Sinne ist Rosalie, indem sie so zu sich selbst steht, wie sie es tut, eine sehr feministische Filmfigur.
Sie und Stéphanie Di Giusto haben während der Dreharbeiten am Set zusammengelebt. Wie war die gemeinsame Zusammenarbeit?
Ich hatte eine besondere Beziehung zu ihr. Wir erlebten alles zusammen. Stéphanie und ich haben eine echte Verbundenheit; eine Verbindung, die ich bereits am Set von DIE TÄNZERIN gespürt hatte. Während dieses Abenteuers hat sie alles mit mir zusammen gemacht. In gewisser Weise war sie auch ein bisschen Rosalie, auf eine verschmolzene Art und Weise. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich mir am Ende der Dreharbeiten, als meine Figur von einem Rudel Hunde verfolgt wurde, die Hände mit Futter einschmieren musste, damit sie mich einholen und anspringen wollten. Es waren etwa 50 Hunde, es war beängstigend. Ich tauchte meine Hände in eine nicht sehr appetitliche Pastete und musste meine Arme damit einschmieren. Als Stéphanie meinen angewiderten Gesichtsausdruck sah, tauchte sie ihre Hände ebenfalls hinein und schmierte sich die Mischung auf die Arme. Sie ließ mich nie im Stich. Sie weiß, wie sie sich auf die Schauspieler, die sie inszeniert, einstellen kann. Sie hatte verstanden, dass ich, um mich während der Aufnahmen so wohl und konzentriert wie möglich zu fühlen, vorher lachen und reden musste: Sie ermutigte meine Lacher. Sie wusste auch, dass es mir wichtig war, ihr alles erzählen zu können. Sie verstand meine Art zu arbeiten. Bei ihr ist alles im Reinen; sie ist eine große Künstlerin, die in ihrer Beziehung zu anderen unkompliziert bleibt.
Ein Wort zu Ihren KollegInnen: Anna Biolay, Juliette Armanet und Benjamin Biolay.
Ich kenne Benjamin, weil ich in zwei seiner Musikvideos mitgespielt habe und ich habe eine grenzenlose Bewunderung für Juliette. Stéphanie wusste das und wollte mich mit Personen umgeben, zu denen ich bereits eine emotionale Beziehung hatte. Rosalies Bewunderung für die Rolle von Juliette Armanet ist nicht gespielt. Es sind echte Momente aus dem Leben. Mit Anna ist es das Gleiche: Wir sind Freundinnen geworden.
In sieben Jahren haben Sie vierzehn Filme gedreht und bereits mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den César für die beste Nachwuchsdarstellerin in Valerie Bruni Teseshis FOREVER YOUNG und den Valois d’Or als beste Schauspielerin in ROSALIE. Eine fulminante Karriere.
Ich hatte großes Glück: Ich habe nicht nur viel an Filmen gearbeitet, die ich mag, sondern diese Filme haben mir auch die Möglichkeit gegeben, mich jedes Mal als Schauspielerin zu entwickeln. Das hat meine Lust am Schauspielen noch einmal verzehnfacht.
Foto:
©Verleih
Info:
REGIE. STÉPHANIE DI GIUSTO
DREHBUCH. STÉPHANIE DI GIUSTO, SANDRINE LE COUSTUMER
MIT
NADIA TERESZKIEWICZ, BENOÎT MAGIMEL
EINE PRODUKTION VON ALAIN ATTAL
Abdruck aus dem Presseheft