Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2024, Teil 16
Stéfanie di Giusto
Berlin (Weltexpresso) - Nach meinem ersten Film wollte ich mir etwas Zeit zum Schreiben nehmen. Schreiben ist der kreative Moment, der für mich am wertvollsten ist, ein Moment, in dem alles noch möglich ist, in dem man sich frei fühlt. Nach dem Tod meines Vaters fühlte ich eine große Leere und ein bestimmtes Thema ergriff mich.
Nach Loïe Fuller stieß ich auf eine weitere außergewöhnliche Frau, Clémentine Delait: eine bärtige Dame, die im frühen 20. Jahrhundert berühmt war. Das bärtige Gesicht dieser Frau faszinierte mich. Ich sah ihre Fotos, ihren Blick, ein Geheimnis, das es zu erforschen galt. Ich las einen Text zu diesem Thema, das sich gut für ein Biopic machen könnte, aber ich wollte tiefer graben, um herauszufinden, was beim Betrachten dieser Fotos so tief in mir nachhallte. Ich wusste, dass sie sich geweigert hatte, eine gewöhnliche Zirkusattraktion zu werden. Im Gegenteil, sie wollte "ihr Leben leben". Das Leben einer Frau. Ich begann mich für andere Frauen zu interessieren, die an Hirsutismus litten, so der wissenschaftliche Begriff für diese Besonderheit. Die meisten von ihnen starben allein, auf Jahrmärkten, reduziert auf vulgäre Phänomene: „Freaks“. Nach vielen Recherchen wollte ich vom Leben dieser Frauen nur das festhalten, was mich berührt hat. Ich wollte kein Biopic mehr machen. Das hatte mich nicht interessiert.
Ich begann, mir das Leben einer dieser Frauen auszumalen, bereits als eine Filmfigur, mit einer faszinierenden körperlichen Präsenz, aber auch mit einer geheimnisvollen Anmut... und dem romantischen Schicksal, die Welt und sich selbst zu erobern. So wurde Rosalie geboren.
Rosalie ist emanzipiert, muss sich aber gegen andere behaupten und ihre ungewöhnliche Weiblichkeit gegen die Vorurteile einer Epoche durchsetzen. Sollte sie sich beugen? Sollte sie sich rasieren, um "normal" auszusehen? Oder im Gegenteil, versuchen, sich so zu zeigen, wie sie ist? Was bedeutet Begehren für eine Frau wie Rosalie? Und noch faszinierender: Kann eine Frau wie sie begehrenswert sein? Ich habe es geliebt, ihr weibliches Gesicht und ihren Körper zu filmen, diese Erotik zwischen Anmut und Animalität. Für mich beginnt Kino dort, wo wir von einer poetischen Präsenz fasziniert sind, wenn die Uhr stillsteht, unberührt von der Zeit. Wenn ein Bild zu Poesie wird... oder Kino...
Jeder Film ist eine Reaktion auf die Zeit, in der wir heute leben. Eine Möglichkeit zu überleben in der Welt, die uns umgibt. Ich denke, dass die Liebe heute zu einem Kampf in einem zunehmend entmenschlichten Lebensstil geworden ist. Das ist Rosalies Kampf. Jemand anderen zu lieben, sich selbst zu lieben. Ich wollte eine Geschichte über absolute, bedingungslose Liebe schreiben.
Schon nach kurzer Zeit konnte ich ihren Herzschlag spüren. Rosalie wurde zu einer jungen Frau, die sich verloren fühlte und nach sich selbst suchte... die sich auch selbst in den Augen des Mannes suchte, den sie liebt. Rosalie und Abel werden sich im Laufe der Zeit gegenseitig zähmen. Es gibt Grausamkeiten im Liebesleben eines so außergewöhnlichen Wesens, eine bestimmte Art der Gefühle, mitunter zurückhaltend und gewalttätig. Rosalie wird auf die gleichen Wahrheiten stoßen wie alle anderen einfühlsamen Menschen: die Angst, verlassen zu werden... der Wunsch, trotz der Grausamkeit zu lieben und geliebt zu werden... die Ablehnung der Opferrolle... Aufruhr... die bestialische und zarte Natur der Gefühle... das Problem damit, wie andere einen sehen.
Haare sind eine bedeutende gesellschaftliche Ausdrucksform, der man sich unterwerfen oder von der man sich emanzipieren kann. Haare werden als etwas Tierisches und Primitives gesehen. Sie sind mit privaten, geheimen Körperstellen verbunden. Das Biest. Sexualität. Das Monster, gezähmt von unseren sogenannten "zivilisierten" Gesellschaften, die kontinuierlich ihre eigene Monstrosität mit Kriegen (hier im Jahr 1870) oder mit sozialen und sexistischen Demütigungen enthüllen...
Ich stimme zu und bestätige: Rosalie ist eine verliebte Frau, aber banale Romantik ist nicht ihr Ding. Sie will sie nicht, sie hat kein Recht darauf. Wenn man wie sie jemand "Besonderes" ist - den manche für ein Monster halten, obwohl sie dennoch so weiblich und zart ist - wird Liebe etwas viel Größeres.
Abel fällt es schwer, seine Gewalt zu lenken. Der Krieg hat ihm zugesetzt und irreparable Spuren hinterlassen. Er ist nicht mehr in der Lage zu lieben. Er glaubt an nichts mehr. Rosalie wird ihn auf die Probe stellen. Sie möchte, dass er sie so liebt, wie sie ist. Das ist der emotionale Kampf, den ich einfangen wollte.
Wie entstehen Gefühle aus einem Verlangen heraus, das sich ihnen selbst entzieht? Diese Dimension der Geschichte fasziniert mich: das Geheimnis eines Körpers. Haut filmen, sich trauen Behaarung zu filmen, die Sinnlichkeit von Körpern enthüllen, wo man es am wenigsten erwartet, um etwas Beunruhigendes, Lebendiges und Schönes zu enthüllen. Um den sonst üblichen Darstellungen glatter, fast surrealer Körper auf der Leinwand zu entkommen. Ich wollte, dass die Kamera „Hautkontakt“ mit meiner Geschichte hat.
Wir müssen aus dem Unerwarteten etwas Schönes machen. Das ist einer der Gründe, warum ich Filme mache. Um das Begehren aus einem anderen Blickwinkel zu filmen. Es woanders zu suchen.
Ich konnte zunächst keine passende Schauspielerin für Rosalie finden. Ich habe viele Castings in den Kostümen und mit dem Bart gemacht. Das gibt einem eine völlig andere und überraschende Wahrnehmung der Schauspielerin. Bei ihnen habe ich es aber nie geschafft, an die Figur zu glauben. Nadia Tereszkiewicz kannte ich aus meinem ersten Film, weil ich sie damals ausgewählt hatte, um eine junge Tänzerin in Loïe Fullers Tanzkompanie zu spielen. Ich traf sie zufällig auf der Straße und bat sie, zu Probeaufnahmen zu kommen. Als sie zum Casting erschien, war sie eine der wenigen Schauspielerinnen, die nicht ängstlich aussah. Keine theatralischen Affektiertheiten, was verständlich gewesen wäre, wenn man gebeten wird, eine bärtige Dame zu spielen... Die meisten von ihnen schauten verwirrt in den Spiegel. Andere kratzten sich immer wieder... Aber Nadia nahm den Bart sofort und vollständig an. Es war fleischgewordene Selbstverständlichkeit. Ich hatte keine Zweifel, als ich ihr zusah. Sie hatte die pure Energie einer Schauspielerin und den natürlichen Enthusiasmus,
Foto:
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Info:
REGIE. STÉPHANIE DI GIUSTO
DREHBUCH. STÉPHANIE DI GIUSTO, SANDRINE LE COUSTUMER
MIT
NADIA TERESZKIEWICZ, BENOÎT MAGIMEL
EINE PRODUKTION VON ALAIN ATTAL