Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 3. Oktober 2024, Teil 12
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) – ″Architecton″ ist eine Dokumentation des in Berlin lebenden russischen Regisseurs Victor Kossakovsky, der auch selbst das Drehbuch verfasst hat. Er versucht in seinem Film der Frage nachzugehen, wie wir morgen leben wollen. Dazu zeigt er, dass die Geschichte der Menschheit ein ständigen Bauen und Zerstören ist, also ein Hin- und Herschieben von Material.
Der Prolog des Films beginnt in einer zerstörten Stadt in der Ukraine, in der sich Schneisen der Verwüstung abzeichnen. In zerbombten Wohnkomplexen klaffen gigantische Lücken, Überreste formen grauenerregende Installationen. Häuser und Wohnungen sind in der Mitte zerteilt. Es leben keine Menschen mehr in diesen Siedlungen. Hier ist der Mensch hauptsächlich damit beschäftigt ist, sich und seine Errungenschaften wieder zu vernichten.
Danach folgt der Regisseur im Grunde der Spur der Steine. In vielen überwältigenden Naturaufnahmen werden Szenen gezeigt, die dem Lebenszyklus von Steinen folgt, der in der Natur beginnt und auf der Müllhalde endet. Dazu werden in einem riesigen Steinbruch die Steine abgesprengt, verladen und dann zerkleinert, erhitzt und zu Beton verarbeitet. Aber auch der Abbruch von ganzen Hochhausvierteln, der Abtransport mit ganzen Lastwagenkolonnen und die anschließende Lagerung des Bauschutts in riesigen Abraumhalden wird ausführlich gezeigt. Die aus Beton gegossene Architektur ist nicht nur hässlich und umweltverschmutzend, denn die Lebensdauer eine so entstandenen Hochhauses beträgt im Durchschnitt nicht mehr als 40 Jahre.
Dazwischen gibt es immer wieder Bilder (auch in schwarz-weiß) in denen sowohl intakte Landschaften als auch uralte Ruinen zu sehen sind, auch um zu verdeutlichen, dass diese Art von Bauten Jahrhunderte lang stehen bleiben können. Denn während moderne Bauwerke in Kriegen und Naturkatastrophen in sich zusammenstürzen, erinnern antike Ruinen in den abgelegensten Gebieten der Erde an eine Stabilität und Ästhetik des Lebens, die heute verloren gegangen scheint.
Parallel dazu sieht der Zuschauer ein landschaftsgärtnerisches Projekt des italienischen Star-Architekten Michele De Lucchi, der in seinem Garten einen aus Bruch-Steinen gelegten Kreis anlegen lässt, bei dem die vier Himmelsrichtungen mit runden Steinen gekennzeichnet werden. Und der, nachdem er geschlossen ist, von keinem Menschen mehr betreten werden soll (im Film nur noch von De Lucchis Hund).
Im Epilog gibt es dann noch ein Gespräch des Regisseurs mit Michele De Lucchi in seinem Garten, in dem er erzählt, dass er gezwungen ist, kunstlose Wolkenkratzer zu entwerfen. Denn Architektur ist nicht nur die Gestaltung von Gebäuden. Sie ist auch Raumkunst, die die Spielräume unserer Handlungen, unsere Politik, unseres Seins bestimmt. dabei nutzt der Regisseur den Kreis auch als Bild, um über Aufstieg und Fall von Zivilisationen nachzudenken.
Victor Kossakovskys Dokumentation, die ihre Premiere während der Berlinale 2024 hatte, fehlt bewusst während der gesamten Laufzeit jedweder Kommentar aus dem Off. So ist nie deutlich (außer im Prolog) wo die fulminanten Bilder von Kameramann Ben Bernhard gedreht worden sind.
Trotzdem gelingen dem Regisseur und seinem Kameramann beeindruckende Bilder zum Einen von Gestein, das in Bewegung ist, das verarbeitet und letztlich verbaut wird oder zum Anderen von antiken Ruinen in verschiedenen Gegenden der Welt, deren Steine feingeschliffen und übereinandergestapelt am Boden liegen geblieben sind, und so einfach zu einem Zeugnis alter Zeiten und an eine Stabilität und Ästhetik des Lebens wurden, die heute verloren gegangen scheint. Dazu ist der Einsatz der Musik von Alexander Dudarev an einigen Stellen zwar interessant und unterstützend manchmal aber auch doch recht gewöhnungsbedürftig.
Insgesamt liefert in der deutsch-französische Dokumentation ″Architecton″ der russischen Regisseur Victor Kossakovsky ganz sicher subtile Denkanstöße für ein Umdenken am modernen Bauen, die auch ohne Ton durch die gelungenen Bilder sehr gut verstanden werden können.
Wenn man sich als Zuschauer auf die steinernen Bilderwelten einlässt, kann man ein sehenswertes Filmerlebnis genießen. Denn der Film zeigt nicht nur wundervolle Bilder, sondern die Zuschauer können sich am Ende auch selbst fragen, wie es bautechnisch weitergehen soll, wie wir uns auf die Dauer in Natur und Umwelt positionieren wollen, wie wir die Erde bewohnen und wie wir auf die Dauer schonend mit ihren Ressourcen umgehen sollen, denn auch Sand und Steine sind ein endliches Gut. Wer allerdings mit diesen Fragen nichts anfangen kann, wird sich mit dieser Dokumentation extrem schwer tun.
Foto 1: Moderne Bauten, die längst zu Ruinen geworden sind © Neue Visionen Filmverleih
Foto 2: Während viele Ruinen des Altertums die Jahrhunderte überdauert haben © Neue Visionen Filmverleih
Foto 3: Michele De Lucchi spricht im Epilog mit Regisseur Victor Kossakovsky © Neue Visionen Filmverleih
Info:
Architecton (Deutschland, Frankreich 2024)
Originaltitel: Architecton
Genre: Dokumentarfilm
Filmlänge: ca. 94 Min.
Regie: Victor Kossakovsky
Drehbuch: Victor Kossakovsky
Darsteller: Michele De Lucchi u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
FSK: ab 0 Jahren
Kinostart: 03.10.2024