you tubeSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2024, Teil 12

Redaktion

Berlin  (Weltexpresso) - BRASILIEN

Mit ‚Motel Destino‘ drehte Karim Aïnouz zum ersten Mal seit über fünf Jahren wieder in Brasilien, in der Region Ceará, in der er selbst aufwuchs. „Ich hatte das tiefe Bedüfnis, auf Brasilianisch zu drehen, an einem Ort, der mir vertraut“, sagt Karim Aïnouz. „Der Strand, an dem der Film spielt, ist der Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe. Das war für mich etwas sehr Beeindruckendes, die- ser Hunger nach Brasilien, nach Ceará und Fortaleza.“

Ein wesentlicher Grund für Aïnouz’ lange Abwesenheit war die politische Situation in Brasilien unter der Regierung von Bolsona- ro, mit ihren massiven Auswirkungen nicht nur auf die Kulturszene. „Was in Brasilien in diesen Jahren passierte, waren die Pande- mie und ein Monster an der Macht. ‚Motel Destino‘ ist so etwas wie eine Art Wieder- aufnahme des Lebens. Ich wollte einen sinn- lichen Film machen, einen erotischen Film, mit einer Sinnlichkeit, die sich ganz dem Leben zuwendet. Das war mir wichtig nach dieser Zeit unter einem autoritären Regime, dessen wahre Besessenheit im Grunde der Tod ist.“


HERALDO

Für die Rolle des Heraldo sahen sich Karim Aïnouz und sein Team mehr als 500 Schau- spieler an. Die Darsteller:innen von Heraldo und Dayana sollten aus der Region kommen und den sehr spezifischen Akzent von Ceará beherrschten. „Ich begann die Castings im- mer mit einer dreiminütigen Stille, ähnlich wie bei diesen Andy-Warhol-Porträts, einfach drei Minuten Stille“, erinnert sich Aïnouz. „So sind wir auf Iago Xavier gekommen. Ich hat- te nach jemandem gesucht, der gleichzeitig Gewalttätigkeit und Verletzlichkeit ausstrah- len kann. Das gelingt Iago. Er ist außerge- wöhnlich klug und offen.“ Für Aïnouz war klar, dass Heraldo dunkelhäutig sein musste. „Brasilien ist ein Land, das sich selbst sehr lange als weiß definiert hat, aber das eigent- lich schwarz ist. Als ich aufgewachsen bin, gab es viele Männer und Frauen wie Iago, aber auf der Leinwand habe ich sie nie gese- hen. Niemals. Bei ‚Motel Destino‘ wollte ich unbedingt ein Panorama von Menschen, das die Vielfalt Brasiliens widerspiegelt.“


PERSPEKTIVEN

Der Unterschied zwischen Karim Aïnouz’ letztem Film ‚Firebrand‘ und ‚Motel Desti- no‘ könnte kaum größer sein. „Wir haben als Filmemacher aus dem Globalen Süden nicht so viele Privilegien, aber das ist eines davon: Das Privileg, zwischen dem Norden und dem Süden zu wechseln, Zugang zu unterschiedlichen Kulturen und zu verschie- denen Geschichten zu haben“, sagt Aïnouz. „Firebrand‘ spielte vor 500 Jahren, ein Film über eine königliche Familie. Jetzt konnte ich einen Film machen, der irgendwie das Gegenteil ist: An einem Ort mit viel Sonne, der mir vertraut ist, mit einfachen Menschen als Protagonisten. Wobei sich die beiden Filme in einem Aspekt sehr ähnlich sind,

obwohl mir das erst gar nicht bewusst war: ‚Firebrand‘ spielt in einem Schloss, der neue Film in einem Motel, aber beide Orte sind wie eine Art Gefängnis, in dem die Figuren eingeschlossen sind und dort versuchen zu überleben und vorwärts zu kommen.“

PORNOCHANCHADA

Als eine Inspiration für Motel Destino nennt Karim Aïnouz’ die Tradition der sehr freizü- gigen brasilianischen Komödien aus den 1970er Jahren, die „Pornochanchada“ ge- nannt wurden und im politisch repressiven Umfeld der Militärdiktatur entstanden. „Als das Militär an die Macht kam“, erklärt Aïnouz’, „begann die Zensur. Alles, was politisch war, 

wurde verboten. Es entstand eine ganze Tra- dition von populären Filmen. Es ging um Sex – ein sehr effektiver und kreativer Moment im brasilianischen Kino, in dem man durch das Genre über bestimmte Dinge sprechen konnte, die politisch zu heikel waren.“

SEX, FREIHEIT, TOD

Eine weitere Referenz für Aïnouz’ waren die Neo-Noir-Filme der 80er Jahre, wie Lawren- ce Kasdans ‚Body Heat‘ oder ‚Body Double‘ von Brian De Palma. „Diese Filme dsind wirk- lich interessant, weil der Körper sehr präsent ist. Der Sex wird nicht explizit gezeigt, aber es gibt ein Gefühl der Freiheit. Als AIDS auf- kam, also genau am Ende dieser Ära von Fil- men, wurde Sexualität zu etwas, das stark mit dem Tod verbunden war. Bis heute gibt es unterschwellig immer noch diese Kombina- tion von Sexualität und Tod. Dazu kam dann die Renaissance des Konservatismus. Sex war über lange Zeit kaum auf der Leinwand zu sehen. Dabei ist Sex einer der wenigen Momente, in denen man tatsächlich völlig intim mit einem anderen Menschen ist. Es gibt vielleicht kaum eine bessere Möglich- keit, einen besseren Einblick in die Figuren zu bekommen, als wenn sie Sex haben.“

DAYANA

Nataly Rocha verkörpert Dayana als eine Frau, die zwar in einer missbräuchlichen Be- ziehung gefangen ist, aber dennoch eine große innere Stärke ausstrahlt. Die Begeg- nung mit dem auf seltsame Weise unschul- digen Heraldo wird für sie zum Wendepunkt – eine Chance, das Leben, mit dem sie sich abgefunden zu haben scheint, doch noch in die eigenen Hände zu nehmen. „Die Rolle war eine echte Herausforderung“, sagt Na- taly Rocha. „Ich musste eine Figur schaffen, die nicht sehr hoch hinaus wollte, aber eine bestimmte Eigenwilligkeit mitbrachte. Daya- na ist eine Frau, die trotz der Gewalt, die sie erleidet, mehr ist als nur das. Sie hat Humor, sie ist ironisch, sie sucht nach Auswegen aus ihrem Leben, sie träumt. Ich habe versucht, eine Figur zu schaffen, die stark ist, aber auch Feinheiten hat, so dass man kein Mitleid mit ihr hat, sondern sie begleiten möchte. Das Wichtigste war, sich jeden Drehtag auf Ri- siken einzulassen, auch bei den Sexszenen. Ich habe mich dabei immer sehr umsorgt gefühlt, vom Team, von den Assistentinnen, von der unglaublichen Struktur, mit der ich arbeiten konnte.“

MOTEL

Mehr als ein Ort ist das Motel im Film ein eigener Protagonist, eine Metapher. „Es ist ein sehr brasilianischer Ort, an dem alles passieren kann – aber hinter verschlossenen Türen“, meint Aïnouz. „Er erzählt viel über die Gesellschaft in Brasilien, von der man oft be- hauptet, sie sei frei und glücklich, die aber in Wirklichkeit oft gewalttätig und widersprüch- lich ist. Das Motel ist wie eine Art Röntgen- aufnahme von Brasilien, wo man hören kann, was die anderen machen. Es ist ein Reich der Fantasie, ein Raum des Vergnügens, aber zu- gleich auch eine Art Gefängnis.“

ELIAS

Fábio Assunção, der Darsteller des Elias, be- schreibt das Motel als klaustrophobischen Ort. „Es gibt einen permanenten psycholo- gischen Druck, und das prägt das Verhalten jedes Einzelnen im Motel.“ Assunção woll- te seine Figur nicht als Zerrbild des bösen weißen Mannes spielen, sondern sie in ihrer ganzen Komplexität zeigen: „Ich habe den Film in zwölf Sätze unterteilt und mir zu je- der Szene eine Musik vorgestellt. Karim ist

ein Regisseur, der einem Zeit lässt und der gleichzeitig am Set voller Energie ist. Nichts war vorhersehbar. Ich bin in sehr tiefe Schich- ten eingetaucht. Ich habe versucht, auch die Unsicherheiten dieser Figur zu zeigen, ihre Einsamkeit, Verzweiflung, ihre Zerbrechlich- keit und ihren Wahnsinn, in einem Umfeld, in dem sich Erotik vor allem als Ausdruck einer kranken Welt präsentiert. Es geht darum, den sozialen Kontext zu reflektieren.“

GEWALT

So ausgeprägt die dem Leben zugewandte Seite von ‚Motel Destino‘ ist, so sehr bildet männliche Gewalt die dunkle und immer spürbare Grundierung der Erzählung. „Ge- walt ist ein absolut relevantes Thema in ei- nem Land, in dem alle sechs Stunden eine Frau ermordet wird“, sagt Karim Aïnouz. „Brasilien hat die der größte Gay Pride Para- de der Welt und ist gleichzeitig die höchste Anzahl von Hassmorden – es ist ein einziger Widerspruch. Ich habe mich bisher selten mit der Konstruktion des toxischen Mannes befasst, wie ihn Elías in ‚Motel Destino‘ ver- körpert. Ich habe versucht, eine Art Anato- mie des Machos zu schaffen, durch die Figur des Machos.“

Foto:
©Verleih

Info:
MOTEL DESTINO
EIN FILM VON Karim Aïnouz
MIT Renan Capivara, Fabíola Líper, Isabela Catão, Yuri Yamamoto, Davi Santos, Jupyra Carvalho, Bertrand de Courville, Katiana Monteiro, Vanessa Cardoso, Jan Moreira, Edglê Lima Moreira

REGIE Karim Aïnouz
BUCH Wislan Esmeraldo IN ZUSAMMENARBEIT MIT Karim Aïnouz, Mauricio Zacharias

BRAS / D / F 2024 • 112 min, DCP, 1.85:1, 5.1

Abdruck aus dem Presseheft